An Arno Holz

Ferdinand Avenarius schreibt in seinem Blatt:

Ich bitte diejenigen unsrer Leser, die Arno Holz nützen, und die Arno Holz für uns nutzbar halten wollen, an den Kunstwart-Verlag (München, Georg D. W. Callwey, Finkenstr. 2) eine freundlich bemessene Spende mit der Beifügung: ›Für Arno Holz‹ zu senden.

Dorthin seien auch die Leser der ›Schaubühne‹ gewiesen.

 

Arno Holz, Porträt von Erich Büttner (1916

Wie die Dinge nun liegen, werden an diesem Tage, da Sie, lieber Herr Holz, fünfzig Jahr alt werden, alle die alten Kampfgenossen antreten, mit und ohne Torte, und ihr Sprüchlein aufsagen. Vom Erinnern und schöner Zeit und heißer Bataille und so. Und Sie werden ein bißchen lächeln, aber doch stolz sein, daß man Sie noch nicht vergessen hat, und daß die, die damals um Sie waren, auch heute noch wissen, was sie an Ihnen haben. So die Alten.

Wir Jungen gratulieren doch ein bißchen anders. Wir haben die Resultate Ihrer Kämpfe fertig vorgefunden, wir wissen nicht mehr aus eigener Erfahrung, sondern haben es nur nachträglich gelernt, wieviel Mühe, wieviel Arbeit, ein wie breiter Rücken dazu gehört hat, die selbstverständliche Freiheit zu schaffen, mit der wir Nachkommen heute ohne Scheu eine Dirne eine Dirne nennen dürfen. Wir haben das nur gelesen. ›Familie Selicke‹, ›Papa Hamlet‹ – und in Poseidons Fichtenhain tritt man mit frommem Schauder ein.

Wieviel wir Ihnen verdanken – gut. Aber Kanonen sehen im Frieden immer ein bißchen plump aus, und ein alter Musketier, wenn er klug ist, beklagt sich nicht im Frieden, daß ihn die Leute nicht immerfort anstarren. »Diese Saaten, diese friedlich rauchenden Hütten, wo wären sie ohne mich?« Gewiß, gewiß.

Aber der Frieden ist undankbar, und weiß nie, daß er seinen Bestand nur dem Krieg dankt. Das ist nun einmal so, da darf man nicht murren.

Und so hätten Sie nie für den Frieden gearbeitet? Hätten immer nur Waffen geschmiedet, Kugeln gegossen, dem lieben Nächsten den . . . Schlaf geraubt?

Einmal nicht. Einmal haben auch Sie im Gras gelegen und m den Himmel gesehen und vergessen, daß man zu kämpfen hat und das Leben doch eigentlich viel zu kurz für all den Spektakel ist. Einmal.

Und obgleich doch schon im ›Phantasus‹ solche Ansätze waren, und auch späterhin, kleine Städtchen der Mark, traumverloren (der feine, alte Fontane mußte sich im Innersten angerührt finden) – diesmal kleideten Sie Ihre sanfteren Regungen, als schämten Sie sich, in eine alte verspielte Sprache, verlegten das in ein utopisches Zeitalter und nannten es: ›Des Dafnis Freß-, Sauff- und Venuslieder‹.

Ich weiß alles. Daß Sie Ihrer Ansicht nach da auf ein Buch festgenagelt werden, das für Sie am wenigsten charakteristisch ist, daß es ein Publikumserfolg war, daß Sie heute darauf pfeifen, und was man so sagt, wenn man, wie Sie, in zwei Abteilungen zerfällt: in eine, die kann und nicht viel von sich hält, und in die andere, die gern möchte und nicht kann.

Ich schenke Ihnen alles dafür: die Richtlinien für die Kunst, die Sie aufstellten, obgleich man doch bestenfalls nur zu erkennen vermag, welchen Weg sie, die Göttin, einschlagen wird; die Gesetze; den von Ihnen erfundenen Naturalismus; alles, alles – für dieses eine Buch.

Nicht, weil es eine der witzigsten Stilspielereien ist. Nicht, weil Sie ulkige Worte gebildet haben. (Wenn Franz Blei tadelnd bemerkt, daß es diese Sprache nie gegeben habe – tant mieux!) Aber weil das wahrhafte Lyrik ist, weil ein großes, starkes Lebensgefühl mit Ihnen durchgegangen ist, weil das singt, weil das auch in dieser fingierten Welt nur die eine Freude am Leben gibt. Sie durften das. Sie, der Sie sich mit Gott und der Welt herumgeschlagen hatten. Sie durften auch einmal ausruhen und – »Kleine Blumen wie aus Glahs seh ich gar zu gerne /durch das tunckel-grüne Gras kukken sie wie Sterne . . . «

Und immer wieder, auf jeder Seite, inmitten den Dorillgens, Grittgens und Elhs-Mareien: das Gedenken an den schwarzen Fleggetohn und an das Ende.

Lassen Sie mich noch von der Sprache schwärmen: nein, so hat nie ein Mensch gesprochen – aber welche Laute, welche Töne! Wie von einem Wirtshaustisch heruntergefallen, welch versoffne, blankpolierte Courtoisie! Wieviel Witz, wieviel Melodie, welch Rhythmus! Arbeit, aber keine Mathematik; Bewegung, aber kein Prusten des arbeitenden Motors; Kunst, aber keine Berechnung.

Wie gesagt: ich weiß schon. Gerade umgekehrt. Kultur, Kampf, -ismus, Polemik, die Kunst und ihre Gesetze . . . und dann?

Derweil so summbt den Feldrain lang

der Bihngens leiser Sommer-Sang!

Und nun lassen Sie sich auch von uns, den Jungen, herzlichst gratulieren: von den Mädeln, denen ihre Liebsten den Dafnis schenkten, von der kleinen Mucki, die von Kunst einen Deubel verstand, und die alle Seligkeiten in diesen Liedern fand.

Sie werden protestieren. Dann lesen Sie sich den Schlußgesang: ›Er spricht noch auhs dem Grabe‹ laut vor – bis zu den unvergeßlichen Schlußworten:

Horch drümb / wahs mein Staub dir spricht:

So vihl Gold hat Ophir nicht /

alhs in ihrem Munde

die flüchtige Secunde.

O Adame / o Eve /

Vita somnium breve!

 

 

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Zuerst erschienen in
 Die Schaubühne, 24.04.1913, Nr. 17, S. 470.

Kurt Tucholsky zählt zu den bedeutendsten Publizisten der Weimarer Republik. Als politisch engagierter Journalist und zeitweiliger Mitherausgeber der Wochenzeitschrift Die Weltbühne erwies er sich als Gesellschaftskritiker in der Tradition Heinrich Heines. Zugleich war er Satiriker, Kabarettautor, Liedtexter, Romanautor, Lyriker und Kritiker (Literatur, Film, Musik). Er verstand sich selbst als linker Demokrat und warnte vor der Erstarkung der politischen Rechten – vor allem in Politik, Militär und Justiz – und vor der Bedrohung durch den Nationalsozialismus. „Der niemals zu unterdrückende Drang, die Wahrheit zu sagen“, ist Tucholskys Motiv, und als er erleben muss, dass in Deutschland die Republik versinkt und ein umjubelter Diktator mit ausgestrecktem Arm an die Macht kommt, verstummt die mahnende Stimme Tucholskys im schwedischen Exil: „Man kann nicht schreiben, wo man nur noch verachtet.“