Im Palais Palffy fand am 10. Mai 1965 die Lesung von Ingeborg Bachmann statt. Der Saal war zum Bersten voll. Ich ergatterte gerade noch einen Stehplatz vorne am Rand. Dann setzte ich mich seitlich auf das Podium, auf dem die Dichterin stand und ihre Gedichte vorlas. Nein, sie rezitierte nicht, sondern sie las sie wie die Abfolge eines Zugfahrplanes völlig emotionslos, mit immer derselben Stimmlage und Modulierung vor, fast wie teilnahmslos. Keine Emotionalität sollte stören. Das einzige, was zählte, war das dichterische Wort, das reine Gedicht, sonst nichts. Groß und schlank und mit glattem blondem Haar, das sie immer wieder in gleichmäßigen Bewegungen aus ihrem Gesicht zurückstreifte, stand sie aufrecht da und las ihre Gedichte. Und diese ertönten wie in einem Singsang, wie in einem Lied. Eigenartig und ungewöhnlich war all dies. Etwas völlig Neues, Unbekanntes; auch die Subjektivität, das eigene Ich in ihren Gedichten und die Widerspiegelung ihres Ichs in ihrem Gedicht, in ihrer poetischen Sprache, in diesem Strom an Worten, in der Strömung einer neuen Sprache und Bildhaftigkeit, die man nicht sogleich verstand, die man erst entschlüsseln mußte, um zu begreifen, wovon die Rede war. „Und Böhmen liegt am Meer…“: Dieser Satz hat mich seither als etwas geheimnisvolles und zugleich Geoffenbartes begleitet und ich weiß, er wird nie mehr aus meinem Gedächtnis, aus meinem Leben verschwinden.
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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010