Als er starb, schien er sich überlebt zu haben. Da er fünfzehn Jahre später aufzuerstehen begann, sahen wir, daß er überlebt hatte und uns überleben wird.
Hans Weigel
Die Fackel und seine Bücher waren, obwohl ursprünglich lukrativ, zu einem Verlustgeschäft geworden, und Karl Kraus starb fast mittellos. Die Erlöse seiner vielen Lesungen hatte er ausnahmslos für gemeinnützige Zwecke gespendet. Der Nachlass reichte knapp hin, um die Kosten des Begräbnisses zu decken. Ein weiteres Heft der Fackel hätte er vielleicht nicht mehr finanzieren können. Ein Karl-Kraus-Archiv wurde gerade eben rechtzeitig vor 1938 in die Schweiz gebracht: was in Wien blieb, wurde geplündert und vernichtet. Obwohl es keinen geschlossenen Nachlass gibt, befindet sich ein großer Teil davon heute in der Wienbibliothek im Rathaus.
Kraus und seine Zeit hatten sich auseinandergelebt. Wenig ließ darauf schließen, dass die nach seinem Tod durch andere Geschehnisse tiefgreifend veränderte Nachwelt ihm Interesse entgegenbringen würde. Und wirklich: Kraus ist postum noch mehr als zu Lebzeiten ein „Geheimtipp“, mag auch sein Werk von Zeit zu Zeit in literarischen Kanons empfohlen werden. Viele seiner Schriften behandeln Wiener Affären von vor hundert Jahren; man muss nicht den „bildungsfernen Schichten“ angehören, um diesen Stoff uninteressant zu finden, und ein vollständiges Verständnis ist nur im Kontext der Zeitgeschichte und des Fackel-Laufs möglich – idiosynkratisch österreichisch nannte es jemand aus dem englischen Sprachraum, dessen Leser zusätzlich durch die Sprachbarriere gehindert werden.
Und dennoch ist das Werk zeitlos. Es findet Leser, die sich von Kraus’ Meisterschaft der satirischen Form angezogen fühlen – eine Satire, die in einer solchen Weise aus der Sprache lebt, dass Kraus’ Werke sehr schwer übersetzbar sind. Viele Themen der Fackel sind auch nach einem Jahrhundert nicht erledigt. Dass Kraus sich keiner Ideologie, Schublade oder Partei unterordnete, vielmehr (fast) jedem auf die Zehen trat, hat seine Popularität bereits zu Lebzeiten begrenzt; er konnte weder der Säulenheilige der Revolution noch der Reaktion sein, seine Schriften waren weder für Bibelkreis noch für Synagoge geeignet, und weder Patriarchen noch Emanzen konnten mit ihm voll übereinstimmen.
Kraus’ Werk ist also heute wie damals im Vergleich zu seiner Bedeutung wenig bekannt. Man muss allerdings bedenken, dass Kraus einer der ganz wenigen (wie etwa Kurt Tucholsky) ist, denen es gelang, mit journalistischen Arbeiten die schriftstellerische Spitze zu erreichen und deren Werke zum Tagesgeschehen einer längst vergangenen Zeit heute noch geschätzt und gelesen werden. Tatsächlich sind die meisten seiner Gegner heute überhaupt nur – außer als Fußnote in Geschichtsbüchern – bekannt, weil sie von der Fackel erledigt wurden. Dies macht aber auch das bis heute Umstrittene an Kraus aus: dass er im „Erledigen“ maßlos war und kaum ein noch so bedeutender Zeitgenosse seinen Kampagnen entgehen konnte. 1984 schrieb Hellmut Andics von Kraus’ „Demoliertätigkeit an literarischen Denkmälern“ mit der Fackel als „Exekutivorgan einer kulturellen Sittenpolizei, und mit der Mentalität eines Prügelpolizisten ging Karl Kraus auch gegen die intellektuelle Unterwelt vor. Was „Unterwelt“ war, entschied er selbst als Ankläger, Richter und Henker in einer Person.“ Selbst im Tod hoffte Kraus nicht auf Ruhe, im Gegenteil:
Wortverbunden bleib ich den Gestalten,
gegen die ich mich des Geistes wehre. […]
Dreist entreiß ich mich dem faulen Frieden,
nichts zu haben als die Totenstille […]
Todesfurcht ist, daß Natur mich bringe
einst um alles mir lebendige Grauen.
Jener ewigen Ruh ist nicht zu trauen.
Ich will leiden, lieben, hören, schauen:
ewig ruhlos, daß das Werk gelinge!
Auf die österreichische Literatur hat er bis zur Gegenwart große Wirkung. Repräsentativ dafür ist die Haltung Elias Canettis, der sich als Goethe-Leser von der unbedingten Verpflichtung auf Kraus als Vorbild befreite, seine dann sehr kritische Haltung aber nach der Publikation von Kraus’ Briefwechsel mit Sidonie Nádhérny in den siebziger Jahren änderte.
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KUNO hat ein Faible für die frei drehende Phantasie. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit. Wir betrachten Michel de Montaigne als einen Blogger aus dem 16. Jahrhundert. Henry David Thoreau gilt als Schriftsteller auch in formaler Hinsicht als eine der markantesten Gestalten der klassischen amerikanischen Literatur. Als sorgfältig feilender Stilist, als hervorragender Sprachkünstler hat er durch die für ihn charakteristische Essayform auf Generationen von Schriftstellern anregend gewirkt. Karl Kraus war der erste Autor, der die kulturkritische Kommentierung der Weltlage zur Dauerbeschäftigung erhob. Seine Zeitschrift „Die Fackel“ war gewissermaßen der erste Kultur-Blog. Die Redaktion nimmt Rosa Luxemburg beim Wort und versucht in diesem Online-Magazin auch überkommene journalistische Formen neu zu denken. Enrik Lauer zieht die Dusche dem Wannenbad vor. Warum erstere im Spätkapitalismus – zum Beispiel als Zeit und Ressourcen sparend – zweiteres als Form der Körperreinigung weitgehend verdrängt hat, ist einer eigenen Betrachtung wert. Ulrich Bergmann setzte sich mit den Wachowski-Brüdern und der Matrix auseinander. Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie ein weitere Betrachtungen von J.C. Albers. Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.