Das menschliche Elend

 

Die wichtigsten Sachen, welche die ganze Menschheit betreffen, kommen manchmal erst sehr spät zur Sprache, so wie es in großen Ratsversammlungen und Kollegiis zu geschehen pflegt, wo die Aufmerksamkeit auch nicht immer gerade zuerst auf das fällt, worauf sie zuerst fallen sollte; sondern der Zufall scheint die Gedanken der Menschen ebenso im Großen wie im Kleinen zu lenken: sonst müßten alle Dinge in der Welt schon eine ganz andre Gestalt gewonnen haben.

Aber so fängt man erst spät an, nachdem man schon sehr lange Conchylien, Schmetterlinge und allerlei Gewürme klassifiziert, hat, auch das menschliche Elend in Klassen zu ordnen, damit es etwa einer oder mehrere Menschen, die einen Staat zu beherrschen haben, mit einem Blick, wie auf einer Landkarte, übersehen und eins nach dem andern, so wie die Not am dringendsten wäre, abhelfen könnten.

Indem man allerlei hierüber nachsinnt, kann man sich des Gedankens nicht erwehren, wie leicht allem menschlichen Elend abgeholfen werden könnte, wenn in irgendeinem günstigen Augenblick aller Menschen Herzen, wie durch ein Wunder, plötzlich erweicht und nur auf einen einzigen Tag lang von Selbstsucht und Eigennutz gänzlich befreit werden könnten.

Was für erstaunliche Veränderungen würde dieser einzige Tag in der Welt bewirken? – Zepter würden sich beugen, Kronen würden niedergelegt, Waffen zerbrochen, Werkzeuge der Zerstörung in die Tiefen des Meeres gesenkt, Tränen getrocknet, Wunden geheilet, Seufzer gestillt werden! – Alles wieder ins Gleis kommen, was aus seiner Bahn gewichen war – das Krumme wieder gerade das Höckerichte eben werden.

Aber nun wäre auch auf einmal den menschlichen Bestrebungen ihr Stachel, dem allgemeinen Wettlauf der Sporn genommen – das lebendige Spiel der Leidenschaften gegeneinander hörte auf. – Um dies große Spiel nun wieder in Bewegung zu bringen müßte doch am Ende jener Stachel des Tätigkeitstriebs den Menschen wiedergegeben werden.

Am andern Tage würde alles von neuem seinen Gang gehen. – Die gesenkten Zepter würden sich allmählich wieder erheben niedergelegte Kronen würden wieder aufgesetzt, die zerbrochenen Waffen wieder zusammengeschmiedet, die Werkzeuge der Zerstörung aus dem tiefsten Abgrunde wieder herausgewunden und alles bald wieder in seinen vorigen Zustand hergestellt sein.

Muß Eigennutz und Selbstsucht notwendig in der Welt sein – wie soll denn je die allgemeine Quelle des menschlichen Elends verstopft werden? – Solange es Unterdrücker gibt, muß es auch Unterdrückte geben. – Die menschlichen Kräfte wollen freien Spielraum haben; hat nun die Kraft eines einzigen unter Tausenden einen zu großen Spielraum, so sind Tausende nicht so glücklich, wie sie es sein könnten.

Alles Elend des Menschen entsteht aus in sich selbst zurückgedrängten Kräften, die das Laster und die Torheit erwecken. – So wie Kinder nur dann auf Unarten und Torheiten geraten, wenn sie unbeschäftigt sind. – Die Selbsttätigkeit der Menschen anzufeuern, ist daher die erste Grundregel einer guten bürgerlichen Einrichtung. – Der Künstler ist nicht elend, welcher Tag und Nacht mit unermüdetem Eifer an der Vollendung seines Werks arbeitet.

»Du wägst das menschliche Elend auf trüglichen Schalen«, scheint eine geheime Stimme in mir zu sagen – »im ganzen genommen ist das Elend nirgends als in dem Kopfe dessen, der ein Belieben daran findet, es zusammenzufassen – was einmal einzeln ist, bleibt ewig einzeln – du kannst jedesmal nur das Elend eines einzelnen Menschen und nie das Elend aller Menschen zusammengenommen auf die Waage legen. – Da nun das Elend so vereinzelt wird, so fällt schon seine eingebildete Schwere weg, die fast ganz verschwindet, wenn du die Vereinzelung desselben durch die Zeit erwägst: daß es nur eigentlich der gegenwärtige Augenblick ist, worin der einzelne Mensch es wirklich trägt daß es gar keine eigentliche Summe des Elendes selbst bei dem einzelnen Menschen gibt, eben weil sein wirkliches Dasein auf den Moment begrenzt und alles übrige bei ihm nur Erinnerung an die Vergangenheit oder Furcht vor der Zukunft ist – und daß ein jeder dieser Momente dies kurze und nichtige Leben seinem Ende näher bringt. – Das Elend des einen ist dem Blick des andern durch Meere, durch weite Strecken Landes, wo niemand wohnet, und an den bewohnten Orten selbst durch die Wände und Mauern entzogen, welche die Seufzer und Tränen der Menschen in sich schließen. – Kurz, die große Masse des menschlichen Elendes wird bei genauer Zergliederung des Begriffes so winzig klein wie die Menschen selber und ihr ganzes irdisches Dasein – es verschwindet in Traum und Blendwerk wie des Menschen Leben. – Denen, die es tragen, ist es lange nicht so wichtig als denen, die es betrachten und schildern – und wem es wichtig scheint, der findet schon wieder in dieser Wichtigkeit eine Art von Trost. – Die Menschen werden es dir wenig danken, wenn du ihnen ihr selbstgewähltes Elend rauben wolltest – daß sie Sklaven sind, dadurch glauben sie sich der Mühe des Denkens überhoben – daß sie unglücklich, verlassen oder verfolgt sind, macht ihnen ein gewisses behägliches Gefühl von Mitleid mit sich selber. – Es gibt wirklich kein Elend auf Erden, welches nicht seinen geheimen Trost und Ersatz für den Elenden mit sich führt, [welcher] nur ihm allein und keinem der Umstehenden fühlbar oder merkbar wird – darum trage deine eigne Bürde durch dies Leben, so gut du kannst! – Was hilft es dir, dich zum Mittelpunkte zu machen, welcher das vereinigte[245] menschliche Elend zusammenfaßt? Du siehst doch nur die Außenseite – oder hast du mit dir selbst nicht genug zu tun? Drum wandle still und ruhig den kurzen Lebenspfad und denke:

Man wants but little here below

Nor wants that little long.«

Gegen diese Stimme, welche das Resultat von Schwäche und Niedergeschlagenheit des Geistes ist, fühle ich die beßre Natur und einen edlen Tätigkeitstrieb in mir sich wieder auflehnen. – Ehe ich selbst vollkommen ruhig und zufrieden sein kann muß ich erst mit allen den Wesen, die außer mir ebenso wie ich denken und empfinden, gewissermaßen in Richtigkeit sein – ich fühle einen Hang in mir, zu wissen, wie es um sie steht, welcher sogar das Interesse meines eignen Daseins bei mir überwiegt.

Ich fühle, daß es mir unerträglich sein würde, in einer Welt zu leben, worin irgendein denkendes und empfindendes Wesen wirklich, und notwendig unglücklich wäre – denn ich kann der Neigung nicht widerstehen, mich an die Stelle desselben zu setzen, an welche mich der Zufall der Geburt hätte setzen können, dem ich nicht zu gebieten vermochte.

Ehe ich daher in der Betrachtung des menschlichen Elends einen Schritt weiter gehe, suche ich erst festen Fuß zu fassen, indem ich mir den tröstenden, durch Erfahrung geprüften Gedanken denke, daß es in der Macht des Menschen steht, sich der Notwendigkeit freiwillig zu unterwerfen.

Daß sein eigentliches denkendes Ich dem Unglück keinen einzigen Berührungspunkt darbietet, daß dieses nur mit seiner Umgebung spiele, aber ihn selbst nicht erschüttern kann; daß es in jedem Augenblick seines Daseins in seiner Macht steht, sich in sich selbst zurückzuziehen und alles, was ihn umgibt, freiwillig dem Zufall preiszugeben.

Nachdem ich dies vorausgesetzt habe, kann ich erst mit unbefangenem Mut über das menschliche Elend nachdenken und Betrachtungen anstellen. – Aus dieser sichern Feste, die ich um mich her gezogen habe, biete ich dem Zufall Trotz, der mich als den Unglücklichsten auf Erden konnte geboren werden lassen. – Und nun fühle ich mich erst stark genug, das, was die Menschen drückt und quält, als einen Gegenstand meiner kaltblütigen Betrachtung vor mich hinzustellen, weil ich nun auf jeden Fall, es mag demselben abgeholfen werden können oder nicht, gefaßt bin.

Und nun lasse ich das menschliche Elend in seinen fürchterlichsten Gestalten vor meiner Seele vorüberziehen und denke mir, wie sich das alles entwickeln, was aus diesem faulenden Samenkorn dereinst für ein Halm emporkeimen wird – wie Kerker und Festung, Schwert und Rad, Mönchsklöster und Tollhäuser, Krieg und Pest, als ungeheure Dissonanzen, sich endlich wohl in allgemeine Harmonie wieder auflösen und alles das Mangelhafte und Unvollkommene gegen das Gute und Vollkommene, was daraus entspringt, wie ein Traum und Blendwerk verschwinden wird, indes das Gute und Vollkommene selbst wirklich da ist und unvergänglich bleibt. – – Sollten aber auch diese süßen Gedanken selbst nur ein Traum sein, so sinke ich dennoch nicht – denn ich habe gelernt, wenn alles um mich wankt, mich in den Moment meines Daseins zurückzuziehen.

 

 

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Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Frankfurt a.M: Insel

Karl Philipp Moritz inszeniert seinem Roman Anton Reiser ein Spannungsfeld zwischen der beengenden Herkunft des Protagonisten und seinem Bestreben, um Erfolg und Anerkennung zu kämpfen. So will der Autor in der Tradition des Entwicklungsromans die Entwicklung eines Jugendlichen beschreiben – zwischen Ehrgeiz, sozialer Not und moralischem Verfall auf der einen Seite und sozialen Klischees und individuellen Hoffnungen auf der anderen. Probleme und Misserfolge werden hier nicht als Ergebnis der Herkunft dargestellt, sondern vielmehr als Folge der Fehlentscheidungen Anton Reisers und der Borniertheit und des Eigennutzes seiner Erzieher und Lehrherren. In diesem Sinne fungiert dieser Entwicklungsroman, der einen begabten jungen Menschen zum Protagonisten hat, erstens als Zerrbild überkommener pädagogischer Konzepte, zweitens aber auch als Beispiel überzogener Empfindsamkeit eines Zöglings, die sich vor allem in dessen Neigung zur Hypochondrie und der Überempfindlichkeit gegenüber seiner Umwelt zeigt. Das Theater wird für Reiser zur Bühne der Selbstdarstellung, aber auch zum Schauplatz einer Empfindsamkeit.

Weiterführend  Einen Essay von Jutta Ludwig über Karl Philipp Moritz finden Sie hier.

Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.