Die schwarze Ledertasche

 

Ich war jetzt knapp 30 Jahre alt und hatte bereits mehr Jobs als alle anderen um mich herum. Ich maß mir an, es mit jedem einzelnen im Saufen aufzunehmenund ich war mir sicher, dass es keiner der Anwesenden an meiner Stelle geschaffthätten, fast pünktlich hier zu erscheinen. Ich hatte gerade eine Zwei-Tage-Sauf-Tour hinter mir und eine Frau verloren, und jetzt sollte ich ein DIKTAT schreiben. Ich wollte Straßenbahnfahrer werden und kein Deutschlehrer. Und dann fing der Fahrlehrer an zu diktieren. Er diktierte langsam und bedächtig, wiederholte jeden Satz dreimal, schaute in die Runde und wartete, bis auch der Letzte den Stift vom Blatt hob, und erst dann begann er den nächsten Satz.Während die anderen noch schrieben, schaute ich bereits gelangweilt zur Deckehoch und dachte an mein Bett. Es war ein sehr einfaches Diktat, strukturlos undin Amtsdeutsch verfasst. Keine große Sache, bei der ich überlegen musste. Nach10 Minuten sammelte er die Blätter ein und begann sie sofort zu korrigieren. Mein Blatt war zuletzt dran.

„Herr Malowsky, es ist ja löblich, dass sie in Druckbuchstaben schreiben, aber ich kann beim besten Willen nicht erkennen, ob Sie das k als Klein- oder Großbuchstabe verwenden.“

„Für mich ist das im Kontext ersichtlich. Den Satzanfang fängt man für gewöhnlich groß an, Substantive schreibe ich …“

Er fiel mir ins Wort: „Schon gut.“

Ein paar der Anwesenden kicherten. Die Rothaarige warf mir einen amüsierten Blick rüber, den ich gerade so zur Kenntnis nahm.

„Gut“, sagte der Fahrlehrer, „wenigstens das letzte Diktat ist fehlerfrei“, und er deutete auf mich. „Nehmen wir nun die RECHENAUFGABEN.“

Ich stützte meinen Kopf in die rechte Hand und tat, als überlegte ich. Dabei hatte ich nur Kopfschmerzen. Fünf Minuten später reichte ich ihm das Blatt zurück. Die anderen Prüflinge rechneten fleißig weiter, und da der Fahrlehrer anscheinend mit der gleichen Langeweile wie ich zu kämpfen hatte, überprüfte er die Ergebnissemeiner Aufgaben.

„So weit, so gut“, sagte er, „aber hier, bei der dritten Aufgabe,“ und er schob mir das Blatt hin, „kann ich nicht erkennen, ob das eine 6 oder 8 ist.“

„Bei Minusaufgaben steht die größere Zahl immer vorn.“

Er lächelte. „Ein Fehler ist nicht weiter schlimm.“

Darauf erwartete ich einen kurzen Exkurs in Religion, doch es folgte eine Zigarettenpause. Schon hatten sich die anderen in Gespräche verwickelt und sie diskutierten die Schwere der Eignungsprüfung, während ich mich in eine Ecke stellte und mit zittrigen Fingern das Feuerzeug rieb, und ich fühlte, wie sie mich taxierten und über mein eingerissenes Jackett lächelten. Vielleicht war ich ihnen nicht geheuer. Vielleicht vermissten sie bei mir den nötigen Ernst der Sache. Vielleicht waren es einfach nur Spießer. Ich war unrasiert, verkatert und müde. Birgit lag mit ihrem warmen Arsch wahrscheinlich im Bett. Ihr Vater war Alkoholiker wie meiner. Ihre Mutter war schon lange tot. Vor gut einem Jahr hatte ich sie aus diesem Loch von Wohnung herausgeholt, weil ich ihr Loch wollte. Sie lebte gut ein Jahr in meinem Loch und nun war der alte Zustand wieder hergestellt. Wir waren wie zwei Krebsseelen gewesen, die unaufhörlich der Dunkelheit entweichen wollten, und dabei liefen wir seitwärts, manchmal zurück anstatt vorwärts, und wir beschäftigten uns mit uns selbst, wir kamen einfach nicht voran. Nachdem ich also das Rechnen und Schreiben hinter mich gebracht hatte, wurden wir in einen anderen Raum verfrachtet, wo wir warten mussten.

 

 

***

Die schwarze Ledertasche von Hartmuth Malorny. Verlag Max-Stirner-Archiv, Leipzig 2003

Photo: Roberto Tarallo

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge. Produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.