Freizeichen

 

Abends, ein Künstler in den mittleren Jahren sitzt im Atelier, wie seit Tagen schon. Er macht nichts, er sitzt auf seinem Stuhl und starrt die berühmten Löcher in die Luft. Hoffentlich werden heute keine Flugzeuge abstürzen. So groß sind diese Löcher. Da steht also diese Auftragsarbeit. „Das muss aber ein Hingucker werden.“ Ein Hingucker – muss was mit der Firma zu tun haben, klar – mit Elektrik – mit Licht auch, natürlich mit Licht – hm, was tun.

Er sitzt im Atelier, seinem Arbeitsbiotop, intimer als das häusliche Wohnzimmer, Schonraum, sitzt und wartet. Seit Tagen schon immer wieder das Gleiche. Sitzen, Denken, Grübeln, Warten, dass etwas geschieht. Denn von allen Ideen schätzt er noch am meisten die interessanten. „Denn von allen Gedanken schätzt er doch am meisten die interessanten.“ hatten vor anderthalb Jahrzehnten schon DIE STERNE gesungen. Er legt eine CD von 1998 in den Spieler: „Musik für junge Leute“, also die damalige Hamburger Schule, erstes Lied von den STERNEN, irgendwann auch TOCOTRONIC. Schade eigentlich, denkt er, dass die Flowerpornoes damals aufgegeben haben und TOM LIWA war einfach zu popularitätsscheu… Hilft jetzt auch nicht weiter, die interessanten, die brauchbaren Ideen wollen einfach nicht kommen. Alles zu kompliziert, er kann nicht einfach denken, nicht mehr, zu schwierig, geht nicht.

Da endlich leuchtet die Fackel der Erkenntnis: „Ruf doch mal den Ideendepp an!“ Der wird schon etwas Gutes raushauen, ganz nebenbei im Gespräch, hatte bisher immer funktioniert, erstens würde er später nichts mehr davon wissen und sogar ein Lob für die tolle Arbeit geben, zweitens musste man ihn nicht honorieren, da reichte für diesen Abend eine Flasche Wein. Der Künstler angelte sich die mobile Telefoniereinheit aus der linken Hosentasche, gab die Nummer ein und wartete, diesmal nur kurz. Schon nach sechs Freizeichen wurde an der anderen Seite ganz altmodisch der Hörer vom Wählscheibentelefon abgehoben. „Hallo, hier Herr Nipp.“

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421