Ich gebe hier ein Buch heraus . . . (doch ich weiß, etwas „Geschlossenes-Ganzes“ gebe ich nicht heraus), eine Sammlung von Gedichten. Zeitlich auseinanderliegende Dinge, die getrennt empfunden und festgehalten wurden, sind hier zusammengebunden. Einheit liegt nicht vor.
Ich erinnere mich, wie mir zumute war, als ich Einiges von dem hier Aufgenommenen verfaßte. Wie man damals das Inhaltsmäßige fühlte; wie man die Straßen entlang geweht kam (am 31. Januar 1912; vorher war man mit Herrn W. F. und Herrn H. zusammen im Englischen Café; dann die nachtumwaldete Tauentzienstraße); oder wie manchmal Bedrückendes beim Schaffen wich; wie aber doch manches bedrückend war . . . Einzelnes; halbgespenstisch. Meine Empfindungen heut abend stehen in keinem Gedichte des Bandes, – dennoch sind die Gedichte des Bandes meine Empfindungen . . . (Beim Herausgeben muß man das erwähnen.)
Kommt nun (wie jetzt) eine reiche Nachtluft hinzu, durch offne Fenster direkt ins Herz dringend, ist unten alles verstummt, unterhalten sich nur noch leise zwei Dienstmädchen, tickt meine Uhr, höre ich ab und zu die Hochbahn fern rollen – – –: so passiert es leicht, daß jemand, [4] der sich anschickte, eine Vorrede kritisch-kämpferischen Wesens zu dichten, auf das Ganze dieses Daseins träumerisch reagiert, weil dieses Chaos so voll von Hinreißendem ist und, aus einiger Ferne gesehn, als etwas in seiner Art Einziges blüht . . .
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Dieses Chaotische nun . . . wird der Lyriker der nächsten Zeit zwar auch in träumerisch-potenter Lust fühlen, doch zugleich mit einer erwachsenen Gier, die Kenntnis von den Dingen unsres Planeten zu vergrößern. Der Lyriker wird immer bewußter empfinden, daß es darauf ankommt (und daß eine große Schönheit darin liegt), für die Klärung der irdischen Phänomene zu sorgen, – ob er gleich weiß: Der Kern der Lyrik ist etwas andres.
Auch der Lyriker wird nächstens ein Erkennender sein, ein Kämpfer; einer, der haltbare Grundlagen sucht, um ein Steigen der Glückschancen für Menschen zu berechnen; einer, der für das Fortschreiten der Menschheit morastlosen Boden sucht; jemand, der (ich weiß was ich sage) für die Entwicklung kämpft.
Und das Ideal der Künstler, auch der Lyriker, wird sein: Aufrichtigkeit.
(Der erkennende Kämpfer allerdings wird auch ein Lyriker sein. Das ist nichts gewissenhafter Vernunfttätigkeit Entgegengesetztes, sondern etwas, das sie beflügelt, Philosophie wird nächstens nicht mehr verwechselt werden mit umständlichem Geräusper gelehrt anmutender Unrichtigkeiten und Unwichtigkeiten. Der Denker wird ganz sorgfältig und voll Verantwortungsgefühl, dennoch feurig sein.
[5] Als Lyriker aber wird er dieses feurig fühlen: . . . das ganze Sternschnuppenhafte einer Menschenexistenz, diese Einmaligkeit, das Umwogtsein – – und das Stürzen und die Lust und die Melodei –.)
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Warum Erkennen? Warum Fortschritt? Warum Entwicklung? Wir sind in dieser herrlichen Weltwildnis mit unsern natürlichen Potenzen, sexuellen und künstlerischen, glücklicher, als wir bei schärferer Bewußtheit wären . . .
Das ist heute nicht absehbar. Ich weiß indes, daß der Wille zur bewußten Erfassung des Umliegenden ein recht reicher Lustquell ist . . .
Aufrichtig sein als ein Erkennender –: ein Ideal, das für Zweifler an der Fundiertheit und den Aussichten menschlichen Erkennens nichts Überzeugendes hat; das als letzte Wahrheit nicht behauptet werden darf; doch (schlimmstenfalls immer noch) die heut reichste Schönheit und Vitalität besitzt, also auch vormaligen Skeptikern an der Wahrheit, späteren Verherrlichern des Chaotisch-Lustspendenden genügen müßte, als der heutige Glaube. (Schlimmstenfalls.)
Als Dichter ein Erkenner: das wird der Lyriker der nächsten Jahrzehnte sein.
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Weil er ehrlich ist und bewußt, wird er eins auch im Traume nie vergessen: daß er nicht immer ein Engel ist, nicht immer ein Urwesen, nicht immer schwebend und alltagsfern (sondern wie große Erdenreste ihm zu tragen peinlich bleiben). Das wird in seinen Klängen liegen: das Wissen um das Flache des Lebens, das Klebrige, das Alltägliche, das [6] Stimmungslose, das Idiotische, die Schmach, die Mießheit. Die Klänge des nahenden Lyrikers werden nicht „rein“ und „aus der Tiefe“ sein. Er wird nicht einfach ein potentseliges Urgeschöpf sein, sondern einer, der erkennt und zugibt, daß man manchmal recht ins Alltägliche hineingeklebt ist; der noch in der Erhebung weiß, daß man nicht immer erhoben ist. So ist es. Und es wird eine Erhebung für ihn sein, dies zuzugeben.
Es wird für ihn darum eine sein, weil er für Ehrlichkeit ist. (Der Lyriker wird finden: der Fortschritt in der Chaosklärung, wenn es ihn nicht gibt, muß erfunden werden. Er streitet für die Wahrheit auch aus Gründen der Schönheit.)
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Der Lyriker der nächsten Zeit wird sich nicht schämen.
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Auch seiner mehr träumerischen Stimmungen nicht. Doch seine Träume werden anders aussehen, als die weniger Kultivierter; nämlich: gehetzter, weltstädtischer, mit dem lebhaften Willen zur Kritik, mit einem das Träumerische Nicht-Für-Voll-Nehmen. Noch als schwebender Engel im Traum aber weiß er, daß er vielfach als Herr Soundso auf Erden lebt – und viel Irdisches zu ertragen hat. Noch wenn er Lyrik dichtet, wünscht er nicht zu lügen.
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Seine Art Lyrik ist „fortgeschrittene“ Lyrik genannt worden; von einem, der, ein großer Lehrer all dieser Dinge, für Europa schafft; von Alfred Kerr. Nicht wegen Großstadtmilieus so genannt, sondern wegen jener kritischen, be[7]schwingten fechtlustigen Daseinsstimmung selbst in der Lyrik.
Der neue Dichter (der den Alltag kennt, der den Schwindel durchschaut) wird gegen künstlerisches Schaffen überhaupt, soweit es unkritisch ist, etwas skeptisch sein, – dennoch wird er eine Melodie haben . . .
Weil er wahrheitsliebend ist, werden seine Dichtungen um viel Melodieloses im Erdenleben wissen, – dennoch Dichtungen sein; Dichtungen voll der Schönheit und Intensität eines großen Willens zur Ehrlichkeit. Er wird etwas geben, was, wie Kurt Hiller sagt, funkelt „zwischen Stahl und der Blume Viola“.
Zusammengefaßt: Der kommende Lyriker wird kritisch sein. Er wird träumerische Regungen in sich nicht niederdrücken. Noch im Traume wird er den ehrlichen Willen zur Klärung diesseitiger Dinge haben und den Alltag nicht leugnen. Und diese Ehrlichkeit wird die tiefste Schönheit sein.
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Der kommende Lyriker wird, wie gesagt, auch ein Darsteller des Alltags sein. Kein alltäglicher Darsteller! Er wird aber kein Schilderer der Weltstadt sein, sondern ein weltstädtischer Schilderer . . .
Sollte dann das Niveau noch nicht über kunstbehandelnde Dozenten vom Verstande des Herrn Bab hinübergelangt sein und noch immer in den Gazetten gelegentlich der Gedanke auftauchen, Rhinozeroshaftigkeit und Neid auf Feiner-Behäutete lasse sich schon durch den Willen zu einer neuen, sozusagen synthetischen Andacht überwinden –: so wird [8] der Lyriker für diese Frömmigkeit den gelinden Ausdruck „Lammfrömmigkeit“ bereit haben.
Er selber wird voll Andacht sein, nicht voll dumpfig-stöhnender oder fett-enthusiasmierter Andacht, sondern voll einer skeptischen, gefiederten, fortgeschrittnen, kriegstüchtigen, voll einer tänzerischen und erkennenden und geschwinden Andacht.
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Der Lyriker der nächsten Jahrzehnte wird im wesentlichen darauf bestehen, daß seelenlose, mechanische Intelligenz nichts Auszeichnendes, daß jedoch Antiintellektualismus (mit und ohne Schweiz) zum Kotzen ist.
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Der zukünftige intellektuelle Lyriker wird sich nicht schämen, weder wegen Intellektuellseins noch wegen Träumerischseins. Als Mann der Schönheit wird er voll irdisch-kämpferischer Stimmung und Kämpfer voll Stimmung und Schönheit sein . . .
. . . Mit geflügelten Grüßen an diesen Menschen der nächsten Zeit sei „Die Straßen komme ich entlang geweht“ herausgegeben.
(Berlin, 16. September 1912.)
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Die Strassen komme ich entlang geweht, Gedichte von Ernst Blass. Heidelberg: Weissbach 1912 – KUNO empfiehlt die verdienstvolle Gesamtausgabe in der Edition Memoria
Wer die expressionistische Gedichtesammlung „Menschheitsdämmerung“ von Kurt Punthus kennt, der wird dort den Namen Ernst Blass leider vergebens suchen. Auch wenn dort viele großartige Expressionisten berücksichtigt wurden, fehlt dieser leider zu Unrecht in Vergessenheit geratene Dichter dort gänzlich. Blass hat mit seinem expressionistischen Gedichtband Die Straßen komme ich entlang geweht das Leben in der modernen Großstadt in all seinen Facetten in die deutsche Lyrik eingeführt. Angefangen von den Verkehrsmitteln über die vielen Vergnügungen bis hin zu den Lebensrhythmen in einer modernen Metropole. Seinem Wechsel zu einem neoklassischen Stil unter dem Einfluss des George-Kreises in Heidelberg begegneten seine Berliner Freunde mit Reserve. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre fand er in seiner Lyrik dann aber Anschluss an die Strömung der Neuen Sachlichkeit. Ungewöhnlich ist, dass er nach dem Zweiten Weltkrieg als bedeutender Autor des Frühexpressionismus kaum mehr zur Kenntnis genommen wurde.
Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.