Das Gründungsdokument der modernen Medientheorie

Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung.

Walter Benjamin

Walter Benjamin bezeichnete seinen Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit als die „erste Kunsttheorie des Materialismus, die diesen Namen verdient“. Ein durchaus selbstbewusste Ansage -der KUNO zustimmt – dieser Text ist das Gründungsdokument der modernen Medientheorie. In seinem Aufsatz vertritt Benjamin die These, daß die Kunst und ihre Rezeption selbst, insbesondere durch die Entwicklung von Photographie und Film, einem Wandel unterworfen sind. Dies geschehe zum einen durch die Möglichkeit der massenhaften Reproduktion, zum anderen durch eine veränderte Abbildung der Wirklichkeit und damit eine veränderte kollektive Wahrnehmung. Zudem verliere in diesen Prozessen das Kunstwerk seine Aura, was in der Folge wiederum die soziale Funktion der Medien verändere. Die durch die Reproduzierbarkeit entstehende kollektive Ästhetik biete zwar die Möglichkeit der Entwicklung hin zu gesellschaftlicher Emanzipation, berge aber auch die Gefahr der politischen Vereinnahmung, wie zeitgenössisch am Aufstieg des Faschismus deutlich werde.

Das Vorwort behandelt den Zusammenhang von Marxismus und Kunsttheorie. Die Gedankengänge werden im Nachwort aufgegriffen und konkretisiert und dabei die Bedeutung der Kunst im Faschismus herausgearbeitet. Der Hauptteil gliedert sich in einen historischen Teil zur Kunst- und Mediengeschichte (Kapitel I bis VI), eine Überleitung (Kapitel VII), die sich mit dem Zusammenhang zwischen Photographie und Filmtheorie auseinandersetzt, und einen ästhetischen Teil, der die Film- und Kunstrezeption behandelt (Kapitel VIII bis XV). In 33 Fußnoten werden Begriffe und Thesen des Aufsatzes teilweise mit ausführlichen Zitaten aus Philosophie, Kunst- und Filmgeschichte erläutert.

Die erste, 1935 abgeschlossene Fassung, ist, neben inhaltlicher Unterschiede, anders gegliedert. So umfasst sie 19 Kapitel, die das Vor- und Nachwort einbeziehen und die vom Herausgeber nachträglich arabisch nummeriert und mit einem Inhaltsverzeichnis versehen wurden.

In der Einleitung stellt Benjamin ein Zitat Paul Valérys voran, der mit Bezug auf die Möglichkeiten der modernen Wissenschaft und Technik schrieb:

Man muß sich darauf gefaßt machen, daß so große Neuerungen die gesamte Technik der Künste verändern, dadurch die Invention selbst beeinflussen und schließlich vielleicht dazu gelangen werden, den Begriff der Kunst selbst auf die zauberhafteste Art zu verändern.

Paul Valéry: Pièces sur l’art

Im Anschluss verweist Benjamin auf die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise durch Karl Marx, der prognostiziert hatte, der Kapitalismus werde künftig Bedingungen herstellen, „die die Abschaffung seiner selbst möglich machen“. Unter Rückgriff auf die im historischen Materialismus entworfene Theorie von Basis und Überbau stellt Benjamin heraus, dass der Überbau einem langsameren Prozess der Umwälzung unterliege, als es für die von Benjamin als „Unterbau“ bezeichneten Produktionsverhältnisse der Fall sei. Erst in der zeitgenössischen Gegenwart würde, nach mehr als einem halben Jahrhundert, „auf allen Kulturgebieten die Veränderung der Produktionsbedingungen zur Geltung“ gebracht.

Holzschnitt von Haimo Hieronymus

Aus dieser Entwicklung ließen sich nunmehr neue prognostische Thesen ableiten, zwar nicht über die Kunst des Proletariats nach dessen Machtergreifung oder in einer klassenlosen Gesellschaft, so aber doch „über die Entwicklungstendenzen der Kunst unter den gegenwärtigen Produktionsbedingungen“. Deren Dialektik sei sowohl im Überbau als auch in der Ökonomie bemerkbar. Den zu entwickelnden Thesen schreibt Benjamin einen „Kampfwert“ zu, die den überkommenen und im faschistischen Sinn angewandten Begriffen wie Schöpfertum und Genialität, Ewigkeitswert und Geheimnis entgegengestellt werden sollen. Im Unterschied zur geläufigen Kunsttheorie erachtet er die von ihm im Folgenden eingeführten Begriffe als „für die Zwecke des Faschismus vollkommen unbrauchbar […]. Dagegen sind sie zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar.“

Das erste Kapitel beschreibt einen historischen Abriss über die künstlerischen Reproduktionstechniken, angefangen in der Antike, in der mit Guss und Prägung Kunstformen und Münzen vervielfältigt wurden. In der frühen Neuzeit brachten Holzschnitt, Kupferstick und insbesondere der Buchdruck mit der Reproduzierbarkeit der Schrift enorme, auch gesellschaftliche Veränderungen mit sich. Eine weitere Stufe erreichte die Reproduktionstechnik mit der Lithographie; die Graphik wurde damit befähigt, „den Alltag illustrativ zu begleiten“. In der Moderne werden durch Photographie und Film die Möglichkeiten der Massenreproduktion geschaffen. Benjamin entwickelt aus dieser historischen Übersicht die These, dass die jeweiligen Neuerungen bereits in der Form enthalten sind:

Wenn in der Lithographie virtuell die illustrierte Zeitung verborgen war, so in der Photographie der Tonfilm.

Benjamin stellt die Reproduktion dem originalen Kunstwerk gegenüber und sieht dessen Echtheit in der Einmaligkeit und dem Hier und Jetzt des Gegenstands. Es trägt seine Geschichte als Kulturerbe in sich und ist orts- und zeitgebunden, die Echtheit ist nicht reproduzierbar. Die modernen technischen Möglichkeiten der Reproduktion hingegen führen sowohl zur Massenhaftigkeit als auch zur Beweglichkeit des Kunstwerks. Seine geschichtliche Zeugenschaft gerät ins Wanken und es verliert seine Autorität: „Was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verkümmert, das ist seine Aura.“[9] Mit der Lösung des Reproduzierten aus dem Bereich der Tradition geht eine gewaltige Erschütterung des Tradierten einher, die wiederum im engen Zusammenhang mit den zeitgenössischen Massenbewegungen steht. Deren „machtvollster Agent“ ist der Film, da seine katharsische Seite im positiven wie im negativen „die Liquidierung des Traditionswertes am Kulturerbe“ ist.

Im dritten Kapitel führt Benjamin die These aus, dass sich im historischen Prozess mit Veränderung der Daseinsweise auch die Art und Weise der Sinneswahrnehmung der menschlichen Kollektiva verändert. Er verweist dabei auf die Erkenntnisse der Wissenschaftler der Wiener Schule und bemerkt, dass diese nicht die gesellschaftlichen Umwälzungen berücksichtigt haben, die in den Veränderungen der Wahrnehmung ihren Ausdruck fanden.

Und wenn Veränderungen im Medium der Wahrnehmung […] sich als Verfall der Aura begreifen lassen, so kann man dessen gesellschaftliche Bedingungen aufzeigen.

In der im vierten Kapitel folgenden Erläuterung definiert Benjamin den Begriff der Aura, sowohl auf natürliche Gegenstände als auch auf Kunstwerke bezogen, als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“. Die Aura besteht gerade aus der Einmaligkeit und der in sich getragenen Geschichte eines Kunstwerks. Sowohl diese Einmaligkeit als auch die Ferne werden durch die Reproduzierbarkeit untergraben. Damit beruht der Verfall der Aura sowohl auf dem Anliegen „der Massen im heutigen Leben“, sich die Dinge räumlich und menschlich näherzubringen, als auch auf der Tendenz der Überwindung des Einmaligen „durch die Aufnahme von deren Reproduktion“.

So aber hat sich die Kunst von ihrem Ursprung gelöst, der im religiösen Ritual und der sich beständig wandelnden Tradition liegt. Kunstwerke waren in ihrem Ursprung und in ihrer Geschichte Bestandteil und Ausdruck kultischer Veranstaltungen. Auch im Wandel der Säkularisierung behielten sie ihren „Kultwert“, wie es zum Beispiel in der Lehre vom l’art pour l’art als eine ihr eigene „Theologie der Kunst“ erkennbar ist. Mit der Reproduzierbarkeit verschiebt sich der „Kultwert“ zum „Ausstellungswert“ des Kunstwerks: „Wie nämlich in der Urzeit das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Kultwert lag, in erster Linie zu einem Instrument der Magie wurde, […] so wird heute das Kunstwerk durch das absolute Gewicht, das auf seinem Ausstellungswert liegt, zu einem Gebilde mit ganz neuen Funktionen, von denen die uns bewußte, die künstlerische, als diejenige sich abhebt, die man später als eine beiläufige erkennen mag.“

Der zweite Teil des Aufsatzes, ab dem sechsten Kapitel, beschäftigt sich mit dem Übergang von der Photographie zum Film und den Entwicklungen in der Filmtheorie. Benjamin führt aus, dass schon nach der Einführung der Photographie vielfach die Frage diskutiert wurde, „ob die Photographie eine Kunst sei“, und dass diese Frage von den Filmtheoretikern nunmehr aufgegriffen werde. Es fehle dabei jedoch die Vorfrage, ob nicht durch die Erfindung der Photographie und später durch die Entwicklung zum Tonfilm „der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe“.

Unter dieser Fragestellung wird im achten Kapitel der Film mit anderen Medienformen verglichen. Im Gegensatz zur direkten Kommunikation im Theater steht in der Wahrnehmung filmischer Bilder die „Apparatur“ zwischen Zuschauer und Darsteller. Mit technischen Mitteln wird der Schauspieler während der Produktion des Films inszeniert und ausgeleuchtet, von der Kamera getestet, die Szene geschnitten und präsentiert. „Das Publikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt. Es übernimmt also dessen Haltung: es testet.“

Dieser Vorgang macht den Aura-Verlust im Film deutlich, die Einmaligkeit jeder Aufführung, das Hier und Jetzt des Schauspiels, ist gewichen. Durch die Filmindustrie aber wird sie ersetzt durch einen künstlichen Aufbau von personality außerhalb des Films, dem Starkult. Der Bezug ist im Begriff deutlich: der Starkult ersetzt den verlorenen Kultwert des Kunstwerks, der nunmehr zu einem Ausstellungswert wird.

Einen weiteren Vergleich nimmt Benjamin im elften Kapitel mit dem „Wandel der Bildlichkeit“ vor: Ein Maler hat bei seiner Arbeit eine natürliche Distanz zu dem Objekt, das er malt, vergleichbar mit einem Magier, der einen Menschen distanziert, durch das Auflegen einer Hand, heilt. Der Kamaramann hingegen dringt in sein Motiv ein, wie ein Chirurg in den Körper eines Patienten. Es entsteht eine veränderte Abbildung der Wirklichkeit, sei es durch das „Optisch-Unbewusste“, mittels der Beschleunigung von Bildfolgen durch Filmmontage oder durch neue Darstellungsformen wie Zeitlupe und Großaufnahmen. Die Bilder sind vollständig verschieden: „Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammen finden.“ Die so beschleunigten Handlungs- und Wahrnehmungsformen beschreibt Benjamin mit dem Begriff „Chockwirkung“. Diese Effekte, die das Publikum im Film sucht, hatte der Dadaismus mit den Mitteln der Malerei und der Literatur bereits vorweggenommen.

Die Folge ist der Wandel der Bildrezeption, als Beispiel vergleicht Benjamin im zwölften Kapitel ein Gemälde von Pablo Picasso mit einem Film von Charles Chaplin: Die Massen lehnen das moderne Bild mit Unverständnis ab und reagieren „rückständig“, doch das gleiche Publikum sieht einen modernen „Groteskfilm“ mit Begeisterung und ist so gesehen fortschrittlich. Eine Erklärung liegt darin, dass, als wichtiges gesellschaftliches Indiz, die „Lust am Schauen und Erleben“ immer mit der Haltung des „Beurteilen wollens“ einhergeht. Die Betrachtung von Gemälden war historisch wenigen vorbehalten: „In den Kirchen und Klöstern des Mittelalters und an den Fürstenhöfen bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts fand die Kollektivrezeption von Gemälden nicht simultan, sondern vielfach gestuft und hierarchisch vermittelt statt.“ Mit der Öffnung der Galerien für ein breites Publikum war diesem jedoch nicht zugleich die Möglichkeit der „Apperzeption“ gegeben.

Im Kino hingegen werden die Reaktionen der Einzelnen zu einer Summe der Reaktion des Publikums, das sich in seiner Kundgebung zugleich gegenseitig kontrolliert. Der Kultwert des Films wird nicht nur dadurch zurückgedrängt, dass er die Betrachter in eine begutachtende Haltung bringt, sondern dass für diese begutachtende Haltung keine Aufmerksamkeit notwendig ist: „Das Publikum ist ein Examinator, doch ein zerstreuter“ schreibt Benjamin am Ende des fünfzehnten Kapitels.

Mit dem Nachwort bezieht sich Benjamin auf die politische Situation Mitte der 1930er Jahre und kommt damit auf den im Vorwort formulierten prognostischen Anspruch des Aufsatzes zurück. Der Faschismus versuche, die proletarischen Massen zu organisieren, ohne deren Forderung nach Änderung der Eigentumsverhältnisse nachzukommen. Vielmehr nimmt er, insbesondere unter Verwendung der Medien Photographie und Film, eine „Ästhetisierung der Politik“ vor, deren zentraler Bestandteil der Führerkult ist und die im Krieg gipfeln wird: „Der Krieg, und nur der Krieg, macht es möglich, Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse ein Ziel zu geben.“

Als zentrales Beispiel zitiert er einige Absätze aus Marinettis Manifest zum äthiopischen Kolonialkrieg, in dem dem Krieg eine ästhetische Schönheit zugeschrieben wird. Benjamin zeigt daran auf, dass die technische Entwicklung im Allgemeinen und der Kunst im Besonderen vom Faschismus nicht zum Nutzen der Massen, sondern für die Ästhetisierung des Krieges benutzt wird. Dieser entsteht aus der „Diskrepanz zwischen gewaltigen Produktionsmitteln und ihrer unzulänglichen Verwertung“, also der Anhäufung von Kapital durch wachsende Technisierung einerseits und der steigenden Arbeitslosigkeit wie dem Mangel an Absatzmärkten andererseits. Die verlorene Aura wird dabei in der politischen Vereinnahmung durch kultische Rituale ersetzt, offenbar als Vollendung des l’art pour l’art. Benjamin schließt die Schrift mit der Hoffnung, dass die Politisierung der Kunst dieser Entwicklung entgegengestellt werden kann.

 

 

 

Walter Benjamin, Autor des Gründungsdokuments der modernen Medientheorie

Weiterführend

KUNO hat ein Faible für die frei drehende Phantasie. Wir begreifen die Gattung des Essays als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Auch ein Essay handelt ausschliesslich mit Fiktionen, also mit Modellen der Wirklichkeit.

1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie

→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.

Last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.