Erinnerung wird geformt abgefragt und konserviert.
1843 formulierte der liberale kurhessische Politiker Karl Christian Sigismund Bernhardi eine Eingabe, um den König von Preussen dazu zu bewegen, eine deutsche Nationalbibliothek einzurichten. Nichts vom deutschen Schrifttum sollte verloren gehen. Vorbilder boten die British Library in London, die auf der 1753 gegründeten Bibliothek des British Museum fußte, und die Bibliothèque Nationale in Paris, deren Anfänge bis ins 14. Jahrhundert zurückreichen.
„Wenn nämlich auch in Deutschland, wie dies in Frankreich Gesetz ist, ein Exemplar von allem, was gedruckt wird, ohne Ausnahme an eine deutsche Nationalbibliothek eingeliefert werden müsste, so wäre das der Ort, wo jeder Gelehrte eine vollständige Ergänzung der Bibliotheken finden könnte, welche ihm in seiner nächsten Umgebung zugänglich sind.“, begründete Sigismund Bernhardi seine Eingabe.
Bereits lange vor Gutenberg spendeten wohlhabende Besitzer ihre Büchersammlungen einer Universität oder Kathedrale, mit dem Zusatz, dass diese handgeschriebenen Schätze für immer an eine Wand gekettet bleiben würden (wie in Hereford, England). Damit sicherte sich der Spender eine Form der Unsterblichkeit, in der er in den Gedanken der Welt weiterlebte. Aber keine Ketten garantieren das Überleben. Als im 16. Jahrhundert die Klöster in England und Schweden geschlossen wurden, wurden ihre Bibliotheken zerstört. Manuskripte landeten auf der Toilette, sie polierten Stiefel und wurden zu Einpacken rund um Fisch und Kuchen auf dem Markt.
Bibliotheken sind mehr als Bücherlesen. Sie bewahren unsere Erinnerungen und Erfahrungen und geben uns Werkzeuge an die Hand, diese zu finden. Unsere historische Identität ist in ihren Mauern, sie helfen uns, Worte ohne Wahn zu finden, um unsere Gesellschaft, unseren Standort, unsere Verantwortung füreinander zu verstehen. Und noch mehr finden man auf der Navigationskarte der Bibliothek. Wenn man die Unterstützung reduziert, einschließlich der Schulbibliotheken, schneidet man das persönliche und kollektive Gedächtnis ab.
Die Leser können sich auf einen Text einlassen wie auf einen Menschen. Es ist kein Eskapismus. Fiktive Kreaturen können uns lieb und lebendiger werden als ein Cousin oder ein alter Klassenkamerad, aber sie bleiben fiktiv, sie lösen sich in Luft auf, sie haben kein Zuhause außer in der Tinte. Und wir haben keine Ahnung, wie sie sich gefühlt haben, bevor sie zwischen die Buchdeckel traten, oder wie es ihnen damals ging.
„Das Gute läuft ohnehin keine Gefahr, vergessen oder verloren zu werden, wozu die übervollständige Anhäufung des Mittelmäßigen und Schlechten?“ sprach sich Jakob Grimm 1843 in einem Gutachten gegen eine Deutsche Nationalbibliothek aus und erklärte eine vollständige, lückenlose Sammlung des deutschen Schriftgutes sei unnütz.
Auch hier erweist sich Deutschland als verspätete Nation, das, was andere Nationen längst hatten und als „Gedächtnis ihrer Nation“ wertschätzten, sollte in Deutschland nicht nötig sein. Daher dauerte es noch gut 50 Jahre, bevor in Leipzig auf Initiative des Börsenverein des deutschen Buchhandels die „Deutsche Bücherei“ gegründet wurde. Seither wird von jedem Buch, das in Deutschland erscheint, ein Exemplar der Deutschen Bücherei zur nationalbibliographischen Registrierung und zur Archivierung überlassen.
Wirklich überlieferungssicher über Generationen hinweg war bisher nur das Gedruckte. Als Buch, Zeitschrift, Zeitung, Flugblatt. In der „Deutsche Bücherei“ stehen diese Dokumente im Regal. Inzwischen sind in die gesetzliche Sammelpflicht der Deutschen Nationalbibliothek Internet-Publikationen einbezogen worden, daher hat kulturnotizen.de als zeitschriftenartige Reihe auch eine ISSN. Wir freuen uns als online-Archiv dazu beitragen zu können.
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Weiterführend → Zum Thema Künstlerbücher finden Sie hier einen Essay sowie einen Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Die Künstlerbucher sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421