Zeit geben

 

Streiten erscheint einem als mehr oder weniger unbeteiligter Tischgenosse mehr als grässlich. Man kann betrübt beobachten, vor allem aber dann, wenn schon einige Gläser eines recht guten Weines konsumiert wurden, da kann nur ein leicht falscher Tonfall ausreichen. Das berühmte Fass läuft über, der Überlauf gerät zur Sintflut. Dabei muss es nicht unbedingt um Schuld und Vorwurf gehen, manchmal reicht es schon, wenn nicht richtig zugehört wurde. Eine kleine spitze Bemerkung kann so einen Vulkanausbruch zur Folge haben, der alles mir sich reißt oder verbrennt. Lässt Verbalattacken folgen, die ganz bewusst gesetzt unter die Gürtellinie zielen und zwar dorthin, wo es wirklich schmerzt. Kein Schiedsrichter. Irgendwann läuft der eine oder die andere davon, Wut abklingen lassen, Zeit verstreichen lassen. Herr Nipp hatte diese Regel nicht beachtet, war hinterher gegangen. Sein Wunsch zu trösten, die Tränenfluten zu stoppen, ein Kuschelkissen zu reichen. Zu deeskalieren, wie man es neudeutsch bezeichnet. Dies aber konnte nur als schwerer Fehler gewertet werden. Wenn man die Reaktion folgerichtig rekapituliert. Prognose richtig einschätzen. Auch in diesem Fall also genau das Gegenteil des Gewollten und Versuchten. Sturm, Blitz, Gewitter. Ein reinigendes, man hat sich die Meinung gegeigt. Leider die falschen Worte gewählt, das Porzellan ist zerschlagen und der Kleber schon lange vertrocknet. Wütend sind beide Seiten auseinander gegangen. Nein, zornig. Die Heimfahrt in Gedanken versunken da gesessen. Neben dem Fahrer, bei einigen im Radio gespielten Melodien liefen ihm wohl auch die Tränen über die Wangen. Eine ganz große Frage stand im Raum, wie würde wohl der Abend?

Die Runde saß also wieder zusammen, die zwei Streithähne nebeneinander. Gepflegte Unterhaltung. Plötzlich spürt Herr Nipp einen freundschaftlichen Händedruck. Sie blicken sich an und nehmen sich in den Arm. Manchmal muss man sich Zeit geben, einige Stunden reichen dann meist – unter Freunden.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421