Friedrich Nietzsche
Wer mag sie nicht, die Klugen und Witzigen – sie dürfen ruhig auch ein bisschen böse sein. Vor allem wenn es um die schwierige Abhandlung heilloser Verwirrungen zwischenmenschlicher Beziehungen geht, die hormonellen Tänze, die Liebesblödigkeiten, wie Wilhelm Genazino sie in seinem 2007 erschienenem Roman, der auf leisen Sohlen auftritt und die Widerhaken heiter streut, behandelt.
Darf man als Essayistin von Behandlung sprechen?
Welchen Bildraum eröffnet das beim Leser und der Leserin?
Bildraum als Begriff nach Walter Benjamin von Tom Holert (*1962), einem deutschen Kunsthistoriker und Bildwissenschafter aufgegriffen, meint die Gesamtheit der Prozesse und Netzwerke in denen Bilder zirkulieren und Bild-Ereignisse entstehen, in dem die erlebbaren Zusammenhänge bildhaft komplex vor Augen geführt werden, die ansonsten in mühsamen Sprachanalysen Spur für Spur (weil linear) ent-wickelt werden müssen, um die dahinter liegenden Informationen an Bedeutungen frei zu legen. Benjamins Bildbegriff hebt sich also wohltuend vom Sujet des Abbildes ab, auch wenn die ›Wirklichkeit‹ sprachlich bearbeitet, schon immer eine durch die Sinne – die Augen im speziellen – wahrgenommene ist. In diesem Zusammenhang liegt es nahe, dass die Bilderproduktion nach Benjamin nicht ins Hoheitsgebiet des ›Ichs‹ fällt. Von der stummen Sprache der Dinge unterscheidet er die benennende Sprache des Menschen und die des göttlichen Wortes, eine Dreiheit an Ausformulierung, was der männlichen Aufbereitung (dem männlichen Dreibein von zwei Hoden und einem Glied dazwischen) entspricht. Vielleicht leben deshalb auch heute noch viel mehr Männer als Frauen eine Menage à trois, mit unterschiedlichen Geliebten, mit unterschiedlichen Funktionsansprüchen an solche und ähnliche ›Dreiheiten‹. In Genazinos Roman schleicht sich das Alter situativ und als unbarmherziger Zensor für einen freischaffenden Apokalypse-Spezialisten ein. Tabulos gelebte Zonen bricht es auf und fordert Entschlüsse ein. Die männlichen Mühen mit der Liebe und dem Leben wurden postpubertär zwar aufgeschoben, aber nicht aufgehoben, was eine zunehmend unterschwellige Überforderung mit sich bringt. Auseinandersetzung mit längst fälligen Pflichten, wie dem jahrelang aufgeschobenem Besuch auf dem Friedhof um nach dem Grab der Eltern zu sehen, lässt männliche fantasievolle Umgehung derselben wie einen kratzig-charmanten Dreitagebart sprießen. In diesem fokussierte Bild in dem eine Pluralität an Deutungsmöglichkeiten über die Figur generiert wird, eröffnet sich ein Bildraum als eine Aktivität: der Leser/ die Leserin kan sich in ihn hineinbegeben, das vertraute Bild der irritativen Unrasur als Türöffner. Dahinter weitet sich der freie Raum zum Experimentieren mit sich selbst, dem Weltverständnis und den je eigenen Lebenserfahrungen.
Vor allem die Unterbrechung des Erzählstromes des bisher abgespulten Gedankenfilms durch Interventionen – ähnlich dem Einschieben von Songs als Unterbrechung der Handlung in Brechts Dreigroschenoper – lässt eine Analogie zu Benjamins Theorie des Denkens in Bildern bringen. Der jeweils stillgelegte Prozess der für einen Moment fixiert wird, um Eigenständiges und Neuartiges erscheinen zu lassen, ist auch d i e Weise, die nicht nur das Publikum ›schockt‹ mit der Unterbrechung, sondern es auch zu gedanklicher Aktivität anregt, zum Staunen bringt. So manche Beziehungs-›Unterbrechung‹ könnte – so nicht als böswilliges Trennungsurteil ausgelegt – Zustände entdeckbar machen, die vor der Unterbrechung des Ablaufs des gemeinsamen Liebeslebens so nicht gesehen werden konnten. An der Umbruchstelle werden Bilder zu Informationen und Informationen zu Bildern. Diese Nahtstelle gilt es zu verstehen, den Finger darauf zu legen. Durch gelegentliches unkonventionelles Auseinander- oder Übereinanderschieben lässt sich das Gewebe erkennen, aus dem sich der Bildraum ›realisiert‹: Spiele einem eingespielten Fachmann (ob aus der Psycholog- Soziolog- oder PädagogInnenecke) seinen Film vor. Er wird trotz Beherrschung seiner Technik – oder gerade deswegen -blindfleckig reagieren. Erst der Schock eines Bruches im gewohnten Ablauf wird auch ihn ›aus der Fassung‹ des Eingeübten bringen, eine Veränderung bewirken. Das Nicht- Subsumierte erhöht die Tiefenschärfe und verstärkt den kommunikativen Gebrauch von Bildern und Bildhaftigkeit des Handelns und Verstehens. Das Visuelle suggeriert an den ›Nahtstellen‹, dort wird Phantasmatisches angeregt, dort zerfällt die (auch je eigene) Geschichte in Bilder. Doch Bilder schweigen. Sobald sie von Menschen angeschaut werden, fangen sie an zu sprechen, lösen historische Texte aus, Betrachter und Betrachtendes fallen in eins zusammen. Widerstand bei der sprachlichen Aus-einander-Setzung ist vorprogrammiert.
Zeige mir deine Bilder, und ich antworte dir in Bildern, was du fühlst, und verweise gleichnishaft auf das, was du mit Denken abwehrst. So oder ähnlich könnte eine effizientere Reflexion vor sich gehen. Der Protagonist in Liebesblödigkeit bringt als erstes (Erinnerungs-)Bild den ersten Schultag im Gymnasium und wie eine Ärztin die Knaben in alphabetischer Reihenfolge aufruft, um jeden Jungen in die Hosen zu greifen, am Penis vorbei die Hoden sucht für eine Untersuchung. Dieses Bild taucht auf, als er mit dem Auftrag, ein paar Pfirsiche und eine Salami für den Abend mit einer seiner Nebenfiguren zu besorgen, unterwegs ist. Ihre Heiratsangebote lassen ihn zwar immer wieder erzittern, das Durcheinander seines Liebeslebens mit dem Ausweichen auf andere Freundinnen jedoch nicht erkennen. Da hilft auch nicht die Visite bei einem Arzt, der ihm zart eine These über seine Schwierigkeiten vermitteln möchte. Mit dem kleinen Ekel leben wir, sagt er, den großen können wir nicht fassen. Wenn einer in nachtschwarze Abgründe männlichen Daseins tauchen kann, dann ist es Büchnerpreisträger (2004) Wilhelm Genazino, der gezielt absichtslos sich dem Provisorischem zugeneigt und dem Beiläufigen verbunden fühlt. Die Spannung bleibt – wie im Leben- in diesem handlungsintensiven Roman bis zuletzt und gibt ›reale‹ Einblicke in einen Entwicklungsstrang eines Mannes, der beabsichtigte (s)eine Veränderung einfach zu leben, wie die meisten sich ›einfach‹ gebenden Männer.
Erfahrungsmäßig erworbene und angelesene Frauen- und Männerbilder, fein säuberlich getrennte außerhalb und integrierte innerhalb unseres Wesens, sie alle berühren unser Sprachzentrum, das Bilder nicht gehen lässt ohne mit einem Text zu versehen. Sprache hat im Sinne Walter Benjamins, dem deutschen Philosophen und Literaturkritiker (1892–1940) eine vornehmere Aufgabe als nur die Übermittlung von Information. Mit seinem Anliegen gegen den verkürzten Sprachbegriff vorzugehen, sind für ihn Worte keine Vehikel zur Übermittlung, sondern mit ihnen ist das sprachliche Wesen da. Die Unmittelbarkeit der Sprache hat für ihn den enthüllenden und offenbarenden Charakter. Hier trifft eine wohltuende Parallele zur Psychoanalyse ein: der Patient /die Patientin ordnet die sprachlichen Bruchstücke ihrer Traumbilder neu und wertet sie und sich selbst damit um. Die Herrschaft der Vergangenheit über die Gegenwart, wie der Zeitgenosse Sigmund Freud in seinen Theorien und wissenschaftlichen Versuchen thematisierte, drehte der vielseitige Gelehrte Benjamin jedoch um und forderte ein Bewusstsein dafür, dass man ihr nicht ausgeliefert sei. Er zeigte sogar, dass sie als Verbündete aufgegriffen werden kann, auch wenn man/frau über die eine oder andere Hürde stolpert, die das Leben so mit sich bringt oder mittels Mitmenschen an eine/n herangetragen wird.
Mit Wenn wir Tiere wären bringt Genazino 2011 einen Roman heraus, in dem wir wie eine Ente im Park, oder ein freundlicher Hund auf dem Sofa, die täglichen Zumutungen einfach als fremde Bilder gelassen übersehen könnten. In diesem skurrilen aber vergnüglichem Erzählstück über die Extreme männlicher Lebensbewältigungen, wenn das heikle Gleichgewicht ins Schwanken kommt, auch wenn alles was wunderbar da ist, dennoch den Moment erzeugt nicht mehr weiter zu wissen mit sich und dem anderen Geschlecht, fordert die Semantik der anderen Gattung heraus, dort nicht aufhören zu lieben, wo man nichts mehr versteht. Bilder benötigen oft einer Beleuchtung, die sich der Alltagsroutine widersetzt, einen „Tigersprung ins Vergangene“ (Benjamin) ansetzt, um wieder zum Tierischen zu kommen, das auch in uns angelegt ist, wenngleich nicht immer zum ›Tierisch-ernst-Nehmen‹.
Künstlerische Forschung als theoretisch und praktisch betriebener Gegenstand, als diskursive Praxis, in denen bestimmte künstlerische Formen einen Wissenstransfer bewerkstelligen, die sich jenseits von festgelegten Paradigmen ansiedeln, bedürfen der ständigen Unterfütterung. Nicht an die Figuren selbst heftet sich die Hoffnung, sondern an die mit der Instanz des Erzählers verbundenen Darbietung im Werk. Im einst von Benjamin 1921 erworbenen Bild von Paul Klee – Angel Novusin –, einem Denkbild, in dem der Engel der Geschichte/n rückwärts in die Zukunft treibt (Benjamin) – ist das Bild der Umkehr enthalten, das Zusammensetzen von zerschlagenen Trümmern, die in den Himmel wachsen. Das Paradoxe, sich von etwas zu entfernen, auf das man/Mann eigentlich starrt, ist ein Vorstellungsbild, das in sich unvereinbare Haltungen darstellt, das an die Stelle des ursprünglichen Wunsches subjektiven Begehrens eine Pattstellung entstehen lässt mit bequemen Ausweichbildern und/oder in sich gedrehten/verdrehten Kippbildern. Mit dem Wunsch nach Wiederherstellung des ursprünglichen Objektes? Einen Impuls zum Innehalten für ein Einlassen in Eigenständigkeit (emancipare) enthält es allemal.
Weiterführend →
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