O, wie wohl ist mir im Herzen zwischen den vielen scherzenden Herzen; alle sind bunt und brennen, aber mein Herz ist blau und glüht. Am Morgen hänge ich es an einen sorglosen Blumenbaum und lasse es zwitschern. Wie ich so dahinlebe, ich bin einer der fahrenden Schüler aus St. Peter Hilles Platonikers Sohn. Im Tanzschritt ziehen wir durch das Grün der Stadt hintereinander mitten im Mondpolka. Die Straßen und Plätze duften noch nach Marienbalsam der Dome. Wir schweben, kennen die Sünde nicht, an der Welt vorbei, mit München der Südstadt Deutschlands im Arme. Ich muß München immer küssen, schon, weil ich Berlin hinter mir habe; wie von einer langweiligen Kokotte geschieden fühle ich mich. Meine Freunde spielen Harmonika, wir ziehen an Schaufenstern pietätvoller Läden vorbei; Meisterbilder, frommer Schmuck, wilde Waffen aus den Gräbern der Bibelfürsten und überall die blauen König-Ludwig-Augen! Eine alte Riesenkommode ist München, aus einem bayerischen Alpenknochen gehauen. Man kann so andächtig kramen in München und ausruhen auf gepolsterten Erinnerungen. Hier freut man sich seiner selbst, man findet sich in seinem glücklichsten Augenblick oben auf dem Berge der Stadt. Im Vorbeischreiten an den Gärten Obersendlings flüchtet vor mir das prahlerische Häuserregiment Berlins. Es steigt die Erde, ich sitze auf ihrem Rücken in einem der Schlösser. Ich bleibe hier für ewig! Man sagt das so leicht. Ein Paradies ist München, aus dem man nicht vertrieben wird, aber Berlin ist ein Kassenschrank aus Asphalt; der ihm zum Labsal benutzt, hängt sein Herz engherzig als Schloß davor. Ich soll mich so ganz erholen in der bayerischen Hauptstadt. Gibt’s auch Cafés hier? Da winkt schon eins von ferne. Sei mir gegrüßt, oder wie der Bayer sagt »Gott grüß dich, Café Bauer!« Von einem Altan herab ladet es den Vorbeiwandelnden einzutreten, manchmal sogar holt der luftschöpfende Ober den Gast in sein Kaffeehaus nach südlicher Sitte. Ich stelle eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Café Bauer mit unserem Café des Westens fest, unserer nächtlichen Heimat, (grinst nur verfluchte Somaliphilister und Sudanproleten) unserer Oase, unserem Zigeunerwagen, unserem Zelt, darin wir ausruhen nach dem alltäglichen schmerzvollen Kampf. Die Frau Wirtin ist sanft, sie pflegt unsere Launen, die uns der Bürger schlug. Vom Oberober bis zum Unterunter passen die sich dem Rhythmus der Gäste an. Herr Rattke hat wieder ein neues Buch geschrieben in Trochäen über Servieren, verrät mir Richard, der Zeitungsverweser, der Journaltruchseß. Er liest mit Pathos mein Gedicht im Sturm vor über München; ich beginne zu seufzen. Was fangen nun die spielenden Straßen dort ohne mich an und die vielen gaukelnden Herzen? Daß die gesund bleiben, dafür sorgen die Ärzte, namentlich der unvergleichliche Doktor Arthur Ludwig. Alle seine Patienten kommen, weil er der unvergleichlichste Mensch noch dazu ist, nie zur angeschlagenen Zeit in die Sprechstunde, wegen der süßen Speisen und Marmeladen, die zum Mittag aufgetragen werden von seiner emsigen, lieben Haushälterin. Und die bettlosen Patienten und Freunde nahen gewöhnlich mit dem Dietrich und der Zahnbürste im Gewande, sie kommen vom Rande ihres Lebens und der Doktor, ein heiliger Wirt, wie auf dem Bilde in seinem Sprechzimmer, zu sehen ist: »Fräulein Haushälterin, besorge für den Fremdling nun eine Lagerstatt.« Er ist direkt ein Engel. »Ein starkfühlender, intelligenter Engel«, betont ein Kollege von ihm, Doktor Max Nassauer, der dichtende Arzt in München.
Wir gehen alle in den Simplizissimus, in Kati Kobus’ berühmte Künstlerkneipe. Heute kommen die Kegler! Ich meine die Leute vom Kegelabend. Ludwig Scharf trägt mit starkem Ton seine Verse vor, jedes Wort ist an das andere geschmiedet. Sein Gesicht ist eine diabolische Arabeske. Dazwischen tönt die fahrende Stimme des Gitarrespielers und die liebenswürdigen, drolligen Bemerkungen Max Halbes; er gefällt mir sehr. Und all die kleinen summenden Mädchen mit den braunen und blonden Liedern. Und die Hauptsache bleibt die Kati Kobus, die Simplizissimusherrscherin mit dem Kronmal auf der Stirn. Sie ist die Herzogin des Rausches, sie ist eine Regierende. Wer so zu unterscheiden vermag wie sie! Eine Juwelierin, wer so das Angesicht auf sein Geistkarat zu werten vermag. Das Scheiden aus ihrem Nachtgarten, wo das Lachen blüht zwischen Bilderhecken, tut mir besonders weh. »Frau Helene«, sage ich mich ermannend eines Morgens zu meiner Wirtin, »es muß geschieden sein!!!« Berlin! Vom Waggon aus steige ich sofort die Stufen des Kleinen Theaters hinan zur Generalprobe der Vier Toten der Fiametta.
Direkter Wauer fundiert noch seinen letzten Fußstapfen, er legt so das Schreiten und die Gebärden der Spielenden fest. Fest und sicher bewegt sich nun das ungeheure Pantomimendrama und ballt sich wieder zur Einheit. So wohlgeformt und nicht ein Abweichen, nicht ein überflüssiges Zureichen allerleigrauen führen des Schneiders (William Wauer) Klauen die Schneidernadel unentwegt. Grandios ist die Bewegung seines Mundes, die nicht ein stummes Reden, aber ein drohendes Auftun seines Gesichtes bedeutet. In großen teuflischen Zeichen nicht minder, wie ihr Direktor, spielt Rosa Valetti, die Schneidersfrau, und rotangefüllt, ein Blutbezechter, ein wankender Bär, tappt der Lastträger (Guido Herzfeld) auf den Ruf der verzweifelten Fiametta über die Stufen der Treppe, in das Trauerspiel. Das Harlekintrio. Ein Gemälde, das im Anschaun mit dem Körper des Bewunderers verwächst. Und die ungeheure Last Trauerspiel, rollt sich auf einer Musik aufwärts hochmütig über die Leiche verdutzter höhnender Kritik. Herwarth Walden, ein Hodler der Musik, der alles Süßliche zerreißt im Siegeskrampf und Kampf. Morgen ist die Premiere der Vier Toten der Fiametta.
***
Essays von Else Lasker-Schüler. Mit einer Einbandzeichnung der Verfasserin. Verlegt bei Paul Cassirer in Berlin 1920
Weiterführend → Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung des Essays.