Verwunschen

 

Das Institut war untergebracht in einer Gründerzeit-Villa mit drei Stockwerken. Auf den ersten Blick ein romantisches Haus, auf den zweiten total verbaut: es gab eine idiotisch breite Treppe im Eingangsbereich, die die halbe Etage einnahm. Auf ihr hätte der halbe Fachbereich Platz gefunden. Die übrigen Zimmer waren entweder repräsentativ und dekorativ überfrachtet oder winzig klein, einige waren durch nachträglich installierte Zwischenwände reduziert auf eine unpraktische L-Form. Manche hatten sogar T-Form, J-Form oder sogar X-Form. Ein Garten und ein als Abstellkammer „genutzter“ Wintergarten, mit staubverklebten, fast undurchsichtigen Scheiben, komplettierten das Gesamtbild.

Außer mir und Prof. Heckmann, der damals wie ein Vater für mich war – ein sachlich distanzierter, sehr zurückgenommener Vater freilich -, gab es noch Gus, der schon vor einigen Jahren abgeschlossen hatte, sich aber nichts Besseres vorstellen konnte und sich von Werkvertrag zu Werkvertrag hangelte. Nikolai Topoi aus Morlunsk, Mareike Caspari aus Faburg, Karl Banks aus England, Ommpapa, ein Mann indianischer Abstammung, die wie ich zu Heckmanns Diensten standen, sowie E5, ein Roboter von Santa-Anna-Centauri, und Petra, seine Sekretärin, die es schaffte, gleichzeitig verschlafen und beschäftigt zu wirken. Diese kleine geschlossene Welt zog mich sofort in ihren Bann. Voilá, dachte ich, Hier kannst Du bleiben!

Meine erste Begegnung mit Heckmann war vor fünf Jahren gewesen, in einer seiner Vorlesungen, das heißt: er sprach, ich saß im Publikum.

Hier begegnete ich auch Mareike Caspari zum ersten Mal. Als ich mich durch die Reihen schob, um einen Platz zu suchen, klappte sie den Sitz neben sich herunter und strahlte mich an: „Den habe ich extra für dich freigehalten!“ Das war natürlich quatsch, wir kannten uns bisher ja gar nicht; aber ihr Ton klang so selbstverständlich, als meine sie es vollkommen ernst.

„Kein Politiker und keine Partei können ernsthaft etwas gegen ‚Freiheit‘ und ‚Gerechtigkeit‘ haben“, hörte ich Heckmann gerade reden: „Jede schreibt sich die Begriffe auf die Fahnen und wirft den anderen Parteien vor, ‚Freiheit‘ und ‚Gerechtigkeit‘ zu zerstören. Damit soll nichts gegen die Politik gesagt sein, wohl aber gegen die Begriffe, die offenbar so unklar sind, dass unterschiedliche Leute sie jeweils völlig anders verwenden und dennoch jeder denkt, das einzig Richtige zu meinen.

Für die Sozialisten ist ‚Freiheit‘, wie wir wissen, eng mit der Verteilung des Wohlstands verknüpft. Nach der materialistischen Lehre ist das Reich der Arbeit das Reich der Notwendigkeit; erst wenn alle Aufgaben erledigt, alle Bedürfnisse gestillt sind, ist an Muße, Kunst, Philosophie etc. zu denken. Wohlstand für alle und ‚Freiheit‘ gehen Hand in Hand. Aus Sicht westdeutscher Linker indes war der Wohlstand offenbar ab den 70er Jahren hinreichend genug verteilt. Denn sie lösten sich von den materiellen Fragen und konzentrierten sich auf die kulturelle ‚Freiheit‘, wie wir sie zugespitzt von den Hippies kennen: die ‚Freiheit‘, Sex vor der Ehe zu haben, Drogen zu nehmen, in Parks rumzulungern, Rockmusik zu hören etc. Eine ernsthaftere Seite fand sie in dem Wunsch, den man mit Adorno als ohne Angst verschieden sein zu dürfen beschreiben kann. ‚Freiheit‘ als die Freiheit, von der Norm der Mehrheitsgesellschaft abzuweichen, egal ob aus religiösen, ethnischen, sexuellen, weltanschaulichen oder anderen Gründen.

Dieser ‚Freiheit‘ ähnelt der liberale Begriff der Freiheit, ohne äußere Einschränkungen wie Dogmen oder andere Denkverbote frei denken und diese Gedanken dann natürlich auch ohne staatlichen Bevormundung, Gesetze, Verordnungen etc. leben zu können. Diese ‚Freiheit‘ wird häufig auch ‚individuelle Freiheit‘ genannt, aber das ist irreführend, denn natürlich beziehen sich alle Freiheitenauf menschliche Individuen; worauf denn sonst? Auf Katzen oder Motorräder sicherlich nicht. Dagegen lag für mich der springende Punkt des Liberalismus immer im Begriff des freien Denkens, denn die ‚Freiheit‘ des Freidenkers scheint mir vor allem in seiner Fähigkeit zu liegen, von fixen Ideen Abstand zu nehmen, jedoch logisch nachvollziehbar zu bleiben und zu klaren Ergebnissen zu kommen, und das ist, glaube ich, für die meisten Menschen das weitaus größere Problem als äußere ‚Denk‘-Verbote.“

Die meisten anderen Profs hätten an dieser Stelle ihres Vortrags eine kurze Pause gemacht, um abzuwarten, wie diese Spitze wirkte. Nicht Heckmann. Er redete einfach weiter, als interessierten ihn die Reaktionen nicht. Nur Mareike Caspari schaute mich an und spitzte die Lippen zu einem Ausdruck wie: nicht-übel, hmmm?

„In diesem Sinne, müssen wir zwischen einem wirtschafts-liberalismus und einem, ich nenne es mal, intellektuellen Freidenkertum unterscheiden, wie wir uns leicht klarmachen können. Bei den Wirtschaftsliberalen meint ‚Freiheit‘ häufig bloß die Freiheit, die Verwertungsoptionen der Investitionen optimal ausschöpfen zu können. Diese können ihrerseits dogmatischen Charakter annehmen, zum Beispiel wenn man den privaten Verwertungsinteressen prinzipiell den Vorrang vor öffentlichen Gütern einräumt, obwohl ein Freidenken, zumindest dem Wortsinn nach, beiden Seiten gegenüber offen sein sollte, also je nach Lage der Dinge den öffentlichen Institutionen genauso gut einen Vorrang einräumen könnte. Wie auch immer man zu dieser Frage steht, können wir zumindest feststellen, dass auch hier deutliche Unterschiede in der Auffassung von ‚Freiheit‘ bestehen.

Insofern die konservativen Parteien den wirtschafts-liberalen nahestehen, sind auch ihre Freiheitsbegriffe ähnlich. Etwas anderes ist es, wenn wir die reaktionären, autoritären und nationalistischen Parteien betrachten. Es ist auffällig, dass gerade die autoritären Parteien besonders häufig von ‚Freiheit‘ sprechen, und entgegen aller Logik existieren augenscheinlich zahlreiche Menschen, die sich ausgerechnet in extrem unfreien Gesellschaften ‚frei‘ fühlen. Ich kann mir das nur so erklären, dass sie sich in einer Gesellschaft, die gemäß ihrer Bedürfnisse reglementiert ist, freier fühlen als in einer offenen Gesellschaft; weil es bei ihnen keine fremden Freiheiten gibt, die sie begrenzen. Zudem erscheinen in homogenen Gesellschaften viele Dinge selbstverständlich, über die man sich sonst ‚einen Kopf‘ machen müsste. Dass das ein angenehmes Gefühl ist, brauche ich ihnen, denke ich, nicht zu erklären; wobei man eben auf neue Erfahrungen verzichtet, die den Horizont erweitern könnten – und freilich fühlt man sich auch nur so lange ‚frei‘, wie man mit der homogenen Mehrheit konform geht, also die unangenehme Erfahrung der Unfreiheit gar nicht machen kann. Dagegen würde ich Rosa Luxemburg zustimmen, dass wahre ‚Freiheit‘ immer die des Anders-denkenden ist. Es gibt allerdings, wenn wir die Anhänger der rechten Parteien, ernst nehmen, durchaus eine Disposition, sich innerhalb autoritärer Regimes ‚frei‘ zu fühlen … also, ‚frei‘ hier eher im Sinne von: sich seiner Sache fraglos sicher sein … ja, auch das schafft ein Gefühl von Freiheit, liebe Studenten, da müssen sie gar nicht lachen …, das kennen sie doch alle von sich selber, wenn sie sich in vertrauter Umgebung ungezwungen fühlen … so viel Verständnis sollte man im Soziologe-Studium für den politischen Gegner schon aufbringen …“

Ich war fasziniert! Heckmanns Sympathien galten ganz offensichtlich der materiellen und der kulturellen Freiheit. Doch als Professor gab er sich Mühe, alle Positionen angemessen darzustellen, und selbst die der dämlichen Rechten nicht durch den Kakao zu ziehen, sondern gerecht zu präsentieren. Wobei es ihm, wie mir ebenfalls bald klar wurde, gar nicht um die „Freiheit“ an sichging, sondern um die Vieldeutigkeit idealistischer Begriffe, für die „Freiheit“ eben nur ein Beispiel war.

„Wir könnten in ähnlicher Weise den Begriff der ‚Gerechtigkeit‘ durchdeklinieren“, fuhr er nämlich fort: „Auch hier gibt es verschiedene Auffassungen. Oder mit ‚Vertrauen‘, ‚Sicherheit‘, ‚Erfolg‘, ‚Respekt‘, jeder dieser Begriffe löst bei fast jedem von uns starke Gefühle aus, aber vermutlich denkt gleichzeitig jeder von uns an etwas völlig verschiedenes. Was ich ihnen zeigen möchte, ist folgendes: wir Reden aneinander vorbei, wenn wir solche Begriffe gebrauchen, weil diese Begriffe in einem hohem Maße inhaltlich unbestimmt sind. Zugleich bringen sie unser Blut in Wallung, so dass wir uns je nach Lage entweder an die Gurgel gehen oder seelenverwandt fühlen, in beiden Fällen aber auch nicht klarer sehen. Es wäre besser, wir würden sie vergessen und nie wieder verwenden. Wenn wir indes versuchen, die Begriffe gemeinsam zu definieren, können wir genauso gut gleich über das reden, was wir konkret wollen; dann brauchen wir die Begriffe ebenfalls nicht. Es gibt also keinen Grund, ja es ist nicht einmal klug, solche Begriffe zu verwenden. Ich bin sicher, dass mein Konzept der rationalen Politik das in jeder Hinsicht praktischere, erfolgreichere und auch für den Menschen glücklichere Konzept ist! Die rationale Politik verzichtet auf idealistische Begriffe! Die rationale Politik ist strikte Sachpolitik. Die rationale Politik ist das Konzept der Zukunft – oder es gibt keine Zukunft.“

Er stieß seinen Stapel Manuskriptpapier auf dem Rednerpult plan, um es in seiner Aktentasche verschwinden zu lassen. Kurz und bündig, dachte ich. Plötzlich hatte er es scheinbar eilig, den Hörsaal zu verlasen. Und: lustig, dass er einen offenbar idealistisch motivierten Vortrag gegenidealisch besetzte Begriffe hielt.

Fünf Jahre später – inzwischen hatte ich das Studium erfolgreich hinter mich gebracht und mit Diplom abgeschlossen – traf ich Mareike wieder. Wir arbeiteten zusammen in Heckmanns Institut für rationale Politik.

Wir versuchten, die inhaltlich dürftige, aber krass aufgemotzte Sprache der Politiker auf klare Anweisungen für staatliche Institutionen runterzubrechen. Aus: „Leistung für alle“, „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt“, „Deutschland muss sich wieder lohnen“, „Bändigt den Raubtierkapitalismus“, und: „Wir dürfen die Zukunft nicht verpassen“, wurden in unseren klugen, geschickten Händen: Zugangsregeln in die Sozialversicherungen, Lehrpläne zur intersubjektiven Verständigung, Wehrpflicht für Arbeitslose, Subventionen virtueller Energiequellen, eine Arbeitsgruppe zur ökologischen Außenpolitik, mehr Geld für die Polizei, weniger Geld für die Polizei, Steuern auf Geldwäsche, Lügendetektoren an U-Bahneingängen, künstliche Intelligenzen für Behörden, ein neuer Studiengang für Abgasfilter, Freigabe harter Drogen und was man sich an Maßnahmen sonst noch alles so vorstellen konnte …

Heckmann wollte das Handeln des Staates rein technisch betrachten, im Hinblick auf Zwecke, Mittel und Wirkungen, so wie man das Handeln irgendeiner Organisation betrachtet, einer Autofabrik oder einer Reha-Klinik. Sodann ließen sich ihre Zwecke bestimmen, Kosten und Nutzen der Mittel untersuchen, sowie schließlich die Wirkungen beobachten, gewünschte und unerwünschte Nebeneffekte. Kurzum: Die Politik sollte überprüfbar, kritisierbar, messbar werden. Wir standen in der Tradition der amerikanischen Pragmatisten des 19ten Jahrhunderts und sahen Politik als offenes Experimentieren im gesellschaft­lichen Feld, oder wie Nietzsche es sagte: „Das ganze Leben ist ein Experiment des Erkennenden!“

Freilich war die Politik keine harte Wissenschaft. Die Variablen ließen sich nur unzureichend kontrollieren, Ausgangslage wie Ergebnisse ließen sich nicht ohne weiteres in messbare Daten übersetzen, und es gab auch keine Vergleichsgruppen. Es war also eine gewisse statistische Großzügigkeit nötig, zum Beispiel wenn man den Preis polizeilicher Überwachung mit dem Gewinn für die Verbrechensbekämpfung gegenrechnete, um einen goldenen Mittelweg zu finden, wobei die Kosten für die Lebensqualität ebenfalls indexiert werden mussten. Freilich gab es verschiedene Prioritäten, wie hoch man das eine oder das andere schätzte und was man als noch verhältnismäßigakzeptierte. Auch musste man davon ausgehen, dass Probleme unterirdisch weiterwucherten und an unerwarteter Stelle neue Blüten hervorbrachen. So konnte die Kriminalität aus den Städten in die Vororte wandern, oder – noch perfider – aus der Öffentlichkeit in die Privatsphäre, zum Beispiel als Gewalt in der Ehe. Das alles musste berücksichtigt werden. Wir kamen also an kein Ende, wenn wir politisches Handeln beobachteten und bewerteten, und es war immer auch eine Frage des Gefühls, wann ein Thema hinreichend gut durchgeknetet war und wir, wie wir sagten, ergebnissatt waren. Aber es konnte zumindest niemand behaupten, die politischen Maßnahmen wären wirkungslos, wenn sie in Wirklichkeit starke Folgen hatten – und dazu noch ein paar unerwünschte Nebeneffekte – oder umgekehrt, sie wären höchst effektiv, wenn sich tatsächlich gar nichts tat oder die Probleme lediglich ihre äußere Erscheinung änderten, vom Zentrum in die Peripherie wanderten oder dialektisch in eine andere Qualität umschlugen.

Mussten wir hart arbeiten im Institut? Das war Ansichtssache. Wir arbeiten von morgens um acht bis abends 18 Uhr. Aber die Arbeit machte uns Spaß. Es ging ja nicht nur darum, am Computer Zahlenkolonnen zu verarbeiten und Indexe zu aggregieren; wir exzerpierten auch Interviews, codierten Beobachtungen und interpretierten alles Mögliche, Zeitungsartikel, Internetblogs, ja sogar Groschenromane. Wir suchten nach übergeordneten Mustern in der Kriminalitätsstatistik, bauten Stadtmodelle aus Holz und simulierten Ghettobildungen mit Spielsteinen. Wir konstruierten in Hand­arbeit eigene Typologien und beobachteten mit ihnen Restaurantbesucher, wir dekonstruierten Biographien, zeichneten Diagramme über die gesamte Zimmerwand und verglichen Automodelle aus den 1970er Jahren mit den zeitgenössischen Modellen. Das war eine lustige Beschäftigung, und wir waren kleine Nerds, die eh nichts Besseres zu tun hatten. Jeder war mit seinen Aufgaben beschäftigt, und wir trafen uns nur kurz, zum Rauchen oder zum Kaffee kochen.

Einmal ging ich nach der Arbeit mit zu Mareike Caspari. Sie packte einen Klumpen Hasch raus und wollte ihn gerade zerbröseln, als sie mein Gesicht bemerkte. Drogen und die Arbeit im Institut hatten sich für mich stets wie selbstverständlich ausgeschlossen, und so muss ich wohl auch geguckt haben, denn: „Nach einem Joint erfasse ich zehn Seiten Text auf einen Blick“, erklärte sie sich und fügte dann: „Aber es schmeckt auch lecker“ mit ironischer Beiläufigkeit hinzu. Sie packte das Hasch wieder weg. Am Ende landeten wir auch so in ihrem Bett.

Ihre Haut war schneeweiß. Ich war überrascht, wie kühl sie sich anfühlte, ich meine nicht gefühlskalt, ganz im Gegenteil, unsere Liebe war leidenschaftlich, sondern angenehm, wohltuend, in der ganzen Nacht floss kein Tropfen Schweiß. Es war, als läge ihre normale Körpertemperatur einfach zwei, drei Grad unter der aller anderen Menschen. Unser Sex war erfrischend, wie ein Bad im Gardasee.

Natürlich war Kai-Uwe Heckmann nicht der Meinung, man könne wissenschaftlich eine objektiv richtige Politik beweisen. So etwas Dummes würde der Soziologe, der auch in Philosophie promoviert war, nie sagen. Wir saßen an einem heißen Sommertag im Garten der Instituts-Villa. Der Vormieter hatte an der Seitenwand des großen Seminarraums – ein stuckverzierter Saal mit einem ollen Teppich, aber Glastüren zur Terrasse – aus handlackierten Brettern einen Tresen gezimmert, und aus Treue füllten wir den Kühlschrank immer wieder auf. Ein Freund bei dem ich bisher gewohnt hatte, hatte mich rausgeworfen – eigentlich war er gar kein Freund. Ich konnte ihn von Anfang an nicht leiden, aber das wusste er nicht, und als ich es ihm eines Tages sagte, gab er mir noch drei Tage Frist zum Ausziehen –, und ich quartierte mich mit Schlafsack und Isomatte im Institut ein. Heckmann erklärte mir offiziell, dass das eigentlich nicht ginge, schien es daraufhin aber zu dulden, solange wir beiden so taten, als mache ich es heimlich und als wüsste er davon nichts.

Normalerweise waren wir diszipliniert genug, uns nicht am mit Bier gefüllten Kühlschrank zu vergreifen, aber wir waren vor Hitze total bezumni und das Bier ging uns den Hals runter wie Öl. Auch Heckmann entschloss sich, heute mal locker zu sein, und ergötzte sich an einer Anekdote über Kant, die er zu  Besten gab. „Immanuel Kant“, begann er: „Der Meisterdenker der praktischen Vernunft, der sein Leben den Regeln der Erkenntnis gewidmet hat, lebte in seinem Haus mit seinem Diener Lampe. Kant meinte, dass sich zu viele Insekten in seinem Zimmer sammelten, und so gab er Lampe die Anweisung, niemals die Fenster zu öffnen. Kant meinte nämlich, die Insekten kämen durch das offene Fenster. Lampe, der Diener, indes meinte, Insekten hin, Insekten her, auch dieses stickige Haus muss regelmäßig gelüftet werden, verdammt nochmal, da gibt es keine Diskussion, und bevor er sich mit seinem Chef – der, wie gesagt, immerhin Autor der damals schon berühmten ‚Kritik der praktischen Vernunft‘ war – stritt, lüftete er einfach in der Mittagszeit, wenn Kant außer Haus war. Wie wir wissen, war Kant extrem pünktlich, die Königsberger konnte nach seinen Gewohnheiten die Uhr stellen. Die Anzahl der Insekten dürfte jedenfalls nicht sonderlich gestiegen sein. Denn Kant hat davon nie etwas gemerkt.“

Heckmann spulte sich in dieser schlichten Anekdote voll auf, es war einfach seine Art im Kreis seiner Studenten die Sau rauszulassen: „Es gibt nur zwei Variablen, und die sind auch noch binär codiert! Zwei Variablen und zwei Zustände (Fenster auf, Insekten da; / Fenster auf, Insekten weg; / Fenster zu, Insekten da; / Fenster zu, Insekten weg), das ist die einfachste mathematische Funktion, die man überhaupt denken kann! Noch weniger, und es ist gar keine Funktion mehr! Immanuel Kant, der 1780 die Möglichkeiten und Grenzen rationaler Erkenntnis durchdacht hat wie kein zweiter, entwickelt bei der einfachst-denkbaren Funktion eine völlig falsche Theorie!!! Wenn das kein Witz ist! Hahahaha!!!“

Wieviel mehr müssen sich dann nicht wir vom Institut für rationale Politik irren, die wir es mit einer Unzahl von Variablen zu tun haben, deren Zustände sich nur schwer definieren lassen, und die selbst nur eine Auswahl aus einer viel größeren Überzahl theoretisch möglicher Variablen darstellen? – wir lachten, wir waren gut drauf, Heckmann gab noch ein paar satirisch zugespitzte Geschichten von sich, die Sonne ging unter, aber der Rasen, die steinernen Mauern, der eiserne Tor und die Gartenmöbel glühten noch von der aufgestauten Hitze eines heißen Tages, wir hatten einen solchen Durst, wir mussten das kühle Bier uns nur an den Hals setzen – schon war es leer – und so tranken wir den ganzen Kühlschrank aus und wankten kurz nach Mitternacht in unsere Betten.

„Das Institut irrt!“, das war natürlich ein krasses Understatement, zumal es sich auf den großen Kant bezog, dessen Verdienste ja trotz der drolligen Insekte-Sache unangefochten blieben. Es lag aber auch ein Aufruf zur Bescheidenheit darin. Tatsächlich versuchte Heckmann nie, mit seinen Forschungsergebnisse eine bestimmte Richtung zu forcieren. Heckmann wollte keine wissenschaftlich legitimierte Politik, schon gar nicht in Konkurrenz zu einer durch Wahlen legitimierten Politik, keine unfehlbaren Philosophenkönige wie Platon, keine Expertokratie. Niemals ging es ihm darum, die Macht irgendeiner Partei oder eines Politikers durch die Erkenntnisse des Instituts zu erhärten, die herrschende Macht durch die wissenschaftliche Autorität weiter zu verstärken. Andrerseits ging ihm aber auch nicht darum, einzelne Politiker zu entlarven, auch wenn das Erscheinen des alljährlichen „Heckmann-Reports“ von vielen mit Ärger erwartet wurde. Heckmann hatte überhaupt nichts Größenwahnsinniges an sich. Eher ging es ihm um eine Art erkenntniskritischer Kultur, die er im Feld der Politik fördern und verbreiten wollte.

Gleichwohl hätte er sich natürlich gefreut, hätte ein Politiker oder eine Partei ihn mal um Rat gefragt, nein, andersherum: gewiss war er sehr enttäuscht, dass dies nicht geschah. So beschränkte sich seine öffentliche Wirkung auf den jährlichen „Heckmann-Report“ und die Medien. Wobei sein Konzept einer nüchternen, klaren und vor allem überprüfbaren Sprache freilich auch die Medien beherzigen sollten. Wir schlugen morgens die Zeitung auf – und uns mit der flachen Hand gegen die Stirn: „Ouh ouh ouh, wie krank ist das denn?! ‚Die Bürger sollen das Vertrauen in die Energiekonzerne wiederfinden!‘“ (Es war im Grunde egal, welche Zeitung auf welcher Seite, fast immer fand man einen solchen Satz, der nach den Kriterien rationaler Politik unhaltbar war.)

„Was ist falsch an diesem Satz, Mareike?“

„Eigentlich sind es nicht die Bürger, sondern die Energiekonzerne, die verlorenes Vertrauen zurückgewinnen müssten“, entgegnete sie trotzig.

Heckmann wies sie zurecht: „Nein, darum geht es nicht! Wir kritisieren die Form der Aussage, nicht ihren Inhalt! Und selbst wenn, dürften Sie das so ad hoc auch nicht be­haupten. Womöglich haben die Bürger den Energiekonzernen ihr Vertrauen ja zu Unrecht entzogen. Dieter?“

„Der Begriff des ‚Vertrauens‘ ist inhaltlich unpräzise und emotional aufgeladen“, antwortete ich streberhaft: „Denn was heißt das genau, ‚Vertrauen wir den Energiekonzernen‘? – dass sie uns regelmäßig mit Strom beliefern: Ja, auf jeden Fall. Dass sie keine getarnten Waffenfabriken betreiben: das auch, würde ich sagen! Dass sie für den Umweltschutz auf Profite verzichten würden? Nein, das sicherlich nicht. Doch dass Sie die Gesetze zur Reaktorsicherheit beachten, auch wenn gerade keine Überprüfung ins Haus steht …, uuuh, das hoffe ich zumindest! Dass sie bei der Abrechnung nicht mogeln, dass sie auf Arbeitssicherheit Wert legen, hmm, irgendwie schon, aber drauf verlassen möchte ich mich nicht. Es ist also kom­pliziert; aber so differenziert muss man den Begriff zerlegen, damit der Satz eine sinnvolle Bedeutung bekommt, die der pauschale Begriff des ‚Vertrauens‘ bloß erschlägt  …“

„Richtigrichtigrichtigrichtig“, unterbrach er mich ungeduldig: „Und was bedeutet das für unsere Arbeit, Banks?“

„Wir müssen den Begriff des ‚Vertrauens‘ operationalisieren, zunächst die Erwartungen an die Energiekonzerne definieren, und diese dann in legitime und abwegige Erwartungen unterscheinen; sodann könnten wir untersuchen, welche technischen und ökonomischen Spielräume die Konzerne haben und welche Erwartungen sie sich zu eigen machen; schließlich müssten wir untersuchen, wie sie ihre Spielräume nutzen und was sie davon an die Menschen zurück kommunizieren!“

Die Utopie bestand in einer Welt, in der die Politiker in ihren Statements Problemdefinitionen vorschlugen, Maßnahmen zur Diskussion stellten und schließlich die Ergebnisse auswerteten. Das alles ganz ruhig und sachlich, ohne sich künstlich aufzuregen, den politischen Gegner zu beschimpfen oder vorm Untergang der zivilisierten Welt oder der Invasion der Barbaren zu warnen. Die rationale Politik war für Heckmann also auch eine entspannte Politik. Eine Politik freundlicher Fachleute, die zwar für bestimmte Richtungen standen, ihre weltanschaulichen Präferenzen aber der Wahrheit unterordneten. Die ihre Projekte zwar leidenschaftlich präsentierten, dabei auch einräumten, wenn sie nicht den gewünschten Effekt brachten – oder bereits ihre Problemdefinition nicht stimmte. Ohnehin waren einzelne Personen in einer solchen Politik nicht so wichtig: zwar waren die verschiedenen Programme verschiedenen Personen zugeordnet, der Moosbacher-Plan, das Heidemarie-Martin-Konzept, die für diese Programme standen und sie vertraten; aber ihre politische Existenz stand und fiel nicht mit der Anwendung ihrer Programme. Eher galt es als ehrenhaft, eine intellektuelle Redlichkeit zu zeigen, gut im Stoff zu stehen und sowohl Umsetzung wie Evaluation der Programme selbstkritisch zu begleiten. Das war freilich keine sonderlich schillernde Angelegenheit, man konnte damit keine Bierzelte füllen, keine Massen auf der Straße begeistern. Politische Reden, die Heckmann sich wünschte, ähnelten eher Power-Point-Präsentationen oder Uni-Referate. Heckmann wünsche sich politische Debatten, spotteten Kritiker, wie Soziologie-Seminare. Geschenkt. Denn das musste nicht schwieriger sein als der bisherige Stil, meinte Heckmann: die Präsentationen ließen sich zugänglich gestalten, man konnte kleine Filme dazu produzieren, die Informationen leicht verständlich aufbereiten. Womöglich war das für die Beteiligten sogar weniger anstrengend als die ständigen Polarisierungen und aufgeputschten Kämpfe? Und der Wähler – auch er müsste sich besser informieren; aber er bekäme dafür klare Informationen serviert, mit denen er arbeiten und abwägen könnte, während er sich jetzt absurde Schlammschlachten anschauen und relevante Informationen auf einem Berg Ideologien destillieren und zusammenklauben musste. Auch mit diesem Modell gäbe es zwar Wahlkämpfe, gingen die Politiker auf Tournee, aber sie würden kluge Vorträge halten anstatt Stimmungen zu verbreiten. Auch wäre darüber nachzudenken, ob man überhaupt lieber über Programme abstimmt als über Parteien. In einer Zeit, in der sich ausgerechnet Greiner Phillips als der größere Demokrat präsentiert, weil er fast 80% der Stimmen erhalten hat, während er von allen anderen als Diktator gesehen wird, ist es womöglich an der Zeit, über Besseres als das Mehrheitswahlrecht nachzudenken.

Das alles hatte sich Heckmann schön ausgedacht, aber so kam es nicht. Denn mit seiner rationalen Politik zog neben der Vernunft außerdem auch noch ein kühler technischer Ton in die Diskussionen, der einigen nicht behagte. „Die Politik orientiert sich mehr an Zahlen als an Menschen“, lautete der zentrale Vorwurf, der witzigerweise zuerst von den Linken erhoben wurde, die doch sonst die Wissenschaft auf ihrer Seite wähnten: „Ihr könnt doch das Schicksal der Armen und Ausgestoßenen nicht mit solchen kalten, technizistischen Begriffen beschließen!“

Ich war bei der Diskussion im Fernsehen dabei, als Heckmanns Niedergang seinen Anfang nahm. Der Moderator reichte das Mikrophon ins Publikum, und ein Mann sagte: „Das ist ja alles schön und gut, aber sie reden die ganze Zeit von Organisation und Verwaltung. Mir ist ihr Ansatz viel zu bürokratisch.“

Heckmann antwortete sachlich besonnen: „Nun, ‚bürokratisch‘ ist ja bekanntlich ein Schimpfwort. Wenn man es allerdings neutral sieht, vollzieht sich real-politische Handeln immer über Ämter und Verwaltungen, anders geht’s gar nicht. In diesem Sinne kann es eine unbürokratische Politik nicht geben. Außer natürlich die sogenannte Symbolpolitik, die wir aber nicht wollen …“

„Wo bleibt denn da der Mensch? Der Mensch soll im Mittelpunkt stehen!“

„‘Der Mensch‘ ist ein offener Begriff, der sich jeder Definition entzieht“, erklärte Heckmann zugegeben abstrakt, aber durchaus zutreffend. Im Grunde war die Diskussion jetzt bereits verloren, das spürte ich als einen dunklen Stich, während ich Heckmann noch reden hörte: „Wir können zu viele verschiedene Daten aus ihm extrahieren, als dass er einen eindeutigen Maßstab abgeben könnte. Daten zudem, deren Bedeutungen nicht unmittelbar auf der Hand liegen. Denn mit welchen Daten könnte, um mal irgendein Beispiel zu wählen, Verkehrspolitik etwas anfangen? – Fahrziele, Arbeitszeiten, Reiserouten, Stressfaktoren, Gewohnheiten, alles selektierte Daten, die den ganzen Menschen auf seine Rolle des Verkehrsteilnehmers reduzieren. Dabei glauben wir natürlich, dass ein vernünftiges Verkehrssystem den Menschen zu Gute kommt. Aber im Mittelpunkt der Verkehrspolitik steht niemals der Mensch, sondern immer Autobahnen, Schienennetze, Fahrpläne etc. ‚.“

„Aber was spricht gegen eine menschliche Politik?“ bemerkte ein Mann mit langen Haaren spitz, als wolle er ihn in eine Ecke treiben.

„… dass der Begriff für eine rationale Planung zu unklar ist“, entgegnete Heckmann geduldig, ohne jeden Hauch Süffisanz: „Die Menschen sind zu unterschiedlich. Abgesehen von ein paar biologische, anatomische, medizinische Daten, auf die allein sich aber keine politischen Entscheidungen stützen lassen, verfügen wir über gar kein verallgemeinerbares Modell des prototypischen Menschen, und, offen gesagt, halten wir das noch nicht einmal für wünschenswert! Denn was ist der Mensch? Das ist ja wohl alles andere als klar!“

„Das ist mir alles zu abgehoben“, erklärte der Mann entwaffnend.

„Unsinn. Rationale Politik schafft eine Rückkopplung zwischen Politik und Realität, ist also der Versuch, die Politik zu erden, das genaue Gegenteil von abgehoben, Wogegen ihr Geschwätz vom ‚Menschen im Mittelpunkt‘ luftig und ohne jegliche Anschauung ist, also extrem abgehoben.

Nennen Sie mich also bitte nicht abgehoben!

Ich müsste dann nämlich zurückfragen: welchen Menschen meinen Sie genau, den wir in den Mittelpunkt stellen sollen? Vermutlich werden Sie mir eine Person beschreiben, die so ähnlich ist wie Sie, natürlich niemand konkretes, sondern ein Bündel von Merkmalen und Eigenschaften, die wie Ihre sind. Eigentlich wollen Sie, dass die Politik Sie in den Mittelpunkt stellt. Sie würden sich selberzum Maß aller Dinge machen. Ihre Gesellschaft mit ihrem Menschen im Mittelpunkt würde zwangsläufig totalitär. Das scheint paradox: eine Gesellschaft, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, wird unmenschlich, während mein rationaler, technisch begrenzter Ansatz die offenere, freiere Gesellschaft erzeugt! Aber so dialektisch muss man denken, wenn man über solche Sachen …“

Mir war sonnenklar, was er wollte. Seine direkte Ansprache an den Mann sollte nur der Verdeutlichung des Gedankens dienen und war – selbstverständlich – nicht als Beleidigung gemeint. Allerdings wurde mir in der Abstraktion, die das Fernsehstudio erzeugte, ebenfalls schlagartig klar, wie hölzern und tapsig er auf andere Menschen wirken musste, die keine Fans von ihm waren.

„Heckmann muss weg!“ skandierten die Leute.

Heckmanns Hauptwidersacher war Klabauter Pistorius, der die Nation mit seiner neuartigen Kreation das infantil-aggressiven Humba-Humba-Rock beglückte, einer Musik wie der Wutanfall eines sechsjährigen Kindes, das seine Eltern erpresst, in den Freizeitpark zu fahren. Die Texte indes waren der nackte Nonsens: „Mach doch mit beim Onkenkacken!“, „In Kassel lebt der Meyer“, „Hey hey hey, Kaschubiak!“, „Hier kommt Rudi Klo“, oder: „Der Tünnes ist ein Günther!“ Für ein Lied wurde immer nur eine dieser Zeilen in der ewig gleichen Melodie wiederholt, allerdings in variierenden Stimmen: mal der altklug belehrende Vortrag eines Liedermachers, dann der einschmeichelnde Singsang eines Werbejingles. Gerne gab es einen Vorsänger und als Echo einen Chor besoffen grölender Fußballfans. Diese Variationen der dämlichen Wiederholungen steigerten sich so gerissen, wenn auch nicht unbedingt raffiniert, dass es die Leute früher oder später von den Sitzen riss.

Bei den Konzerten in den Fußballstadien schob Klabauter Pistorius die Lippen nach vorne, spreizte die Ellbogen ab, kitzelte sich selbst unter den Achseln und sprang über die Bühne wie ein schwerfälliger Menschenaffe. Oder er postierte sich am vordersten Bühnenrand und hüpfte stundenlang auf der Stelle, mit himmelwärts gestreckter Faust in die Höhe, wie eine mechanische Puppe. Dabei fixierte er das Publikum, als zähle er die Minuten, bis es endlich abging. Und das tat es auch, frenetische Begeisterung, die Masse kochte, es war angsteinflößend! Es hätte eine Parodie oder eine Satire sein können, wenn zwar eine geschmacklose, doch dafür wirkte die ganze Show schlicht nicht doppelbödig genug. Die Befürchtung war, dass er es tatsächlich ernst meinte, wobei von ‚ernst‘ bei einem derartig hirnamputierten Schwachsinn ja keine Rede sein konnte. Jedenfalls verkaufte er endlos viele Platten, und unser einziger Trost war, dass er wenigstens unpolitisch blieb. Wirklich widerlich wurde es erst, als er einen ostentativ aggressiven Inhalt in seine Texte schob: „Allen Ärschen auf die Fresse! Haut allen Ärschen auf die Fresse!“

Es waren leere Aggressionen, die da in einer Art primitivsten Stadionrock gefeiert wurden, ein Vorzeichen, aber ohne erkennbare politische Richtung. Die E-Gitarren quietschten, das Schlagzeug trommelte seine martialischen Salven, dazu dieser grotesk hässliche Veitstanz und die stupide gehämmerte, gottlose Zeile: „Allen Ärschen auf die Fresse! / Haut allen Ärschen auf die Fresse! Allen Ärschen auf die Fresse! / Haut allen Ärschen auf die Fresse! Allen Ärschen auf die Fresse! / Haut allen Ärschen auf die Fresse! Allen Ärschen auf die Fresse! / Haut allen Ärschen auf die Fresse! Allen Ärschen auf die Fresse!“

„Der Text ist gut“, erklärte Karl Banks mit akademischer Neugierde bei einem unserer Sommerabende im Garten des Instituts: „Es liegt ja auf der Hand, dass ‚Ärsche‘ es verdient haben, das wird in dem Wort ‚Arsch‘ impliziert, und das ist psychologisch geschickt, denn trotz der brutalen Botschaft, bleiben dadurch keine moralischen Konflikte im Raum, die beim Hören stören könnten. Die ‚Ärsche‘ nämlich könnten theoretisch alle sein, nicht unbedingt die Ausländer oder die Arbeitslosen, die sonst immer als Sündenböcke herhalten müssen, sondern theoretisch auch die Radfahrer, Vegetarier, Beamte, Bänker oder die Hersteller von Haushaltsgeräten. Jeder kann sich seine eigene lieblingshass-Gruppe aussuchen, die er verantwortlichen machen und der er ‚auf die Fresse‘ geben möchte. Wobei das handelnde Subjekt durchaus unklar bleibt, also auch die unsichtbare Hand eines gerechten Schicksals sein könnte. Ich kann das Lied nicht ausstehen, aber ich muss zugeben, dass es gut gemacht ist …“

„Keiner von uns kann das Lied ausstehen“, murmelte ich traurig.

Heckmann unterbrach ihn lustlos: „Ich bin empirischer Gesellschaftsforscher, kein Sprachanalytiker“, winkte er gelangweilt ab: „Solche Analysen müssen sie bitte bei den Germanisten machen!“

Erst später wurde deutlich, wohin die Reise mit Klabauter Pistorius gehen sollte. Er gründete die PÄF, die „Partei-Ärsche-auf-die-Fresse“, deren zentraler Punkt die Zulassung einer Art kontrollierten Selbstjustiz war. Da, laut PÄF, die Polizei der herrschenden Anarchie auf den Straßen hilflos gegenüber stand (wieder so eine emotionale, unpräzise Sprache: ‚Anarchie‘, ‚hilflos‘), argumentierte Pistorius, nachdem er ins politische Fach gewechselt war, müsse man den Menschen auf der Straße das Recht zugestehen, selber für anständige Verhältnisse (‚anständige Verhältnisse‘!!!) zu sorgen. Ordnungswidrigkeiten und kleine Ver­brechen durften an Ort und Stelle spontan von jedermann nach eigenem Ermessen geahndet werden. Zum Beispiel wurde es erlaubt, einen Radfahrer, der über den Bürgersteig fuhr, vom Fahrrad zu stoßen; Menschen, die in der Öffentlichkeit Bier tranken, durfte man die Flasche aus der Hand nehmen und über den Kopf schütten; Autos, die falsch parkten, durfte jeder, der vorbeiging, den Lack zerkratzen etc. etc. Immerhin musste man der PÄF zugutehalten, dass ihr Katalog ausgewogen war. Typisch wirtschafts-liberale Sünden, z. B. eine falsche Beratung von einem Bankmitarbeiter, durften genauso spontan geahndet werden wie eher links-alternative Vergehen, z. B. das Grillen im Park. Für die PÄF hatte das den Vorteil, den übrigen Parteien weniger Angriffsfläche zu bieten, denn eine gewisse Schnittmenge peinlicher Ärgernisse gab es zu jeder Partei, und wenn die anderen allgemein argumentierten, sie seien für das Gewaltmonopol, konterte die PÄF: „Genau das hat uns doch in die katastrophale Lage gebracht. Quod erat demonstrandum.“

„Damit kommen sie juristisch nicht durch“, bemerkte Heckmann beiläufig: „Das Verfassungsgericht wird sie stoppen!“

Doch die PÄF agierte geschickt: anstatt die Rechte der Executive zu übertragen, wogegen die sonst eher stillhaltenden Konservativen sicherlich protestiert hätten, erhöhte sie die obere Schwelle für Bagatelldelikte und vereinfachte den Weg ihrer Einstellung. Auf diesem Weg konnten sie ihren Zweck zu verwirklichen, ohne problematischen Begriffe wie ‚Selbstjustiz‘, ‚Rechtloser Raum‘ etc. zu verwenden.

„Das ist doch gequirlte Scheiße“, betonte Heckmann, als handele es sich bei ‚gequirlte Scheiße‘ um einen politologischen Fachbegriff, „Mit einer solchen gedeckelten Anarchie lassen sich doch niemals ‚anständigen Verhältnisse‘ herstellen, was immer sich diese PÄF-Leute genau darunter vorstellen mögen …, das liegt doch auf der Hand … dafür müssen wir nicht einmal Feldforschung betreiben …“

Realpolitisch hatten Heckmann und die rationale Politik bereits verloren, aber er sprach, als wähne er die historische Vernunft noch auf seine Seite.

„Ja, das ist eigenartig, ihr Konzept vereint auf merkwürde Weise ein Law-and-Order-Denken mit Chaos auf den Straßen“, sinnierte Karl Banks offen: „Manche Menschen glauben, nur sie allein hielten sich an die Regeln, während die anderen machen, was sie wollen, und wenn sie sich dagegen wehren, bekommen sie auch noch einen aufs Dach. Das ist das Gefühl, auf das die PÄF reagiert …“

„… das wir aber auch untersuchen müssten“, ergänzte Heckmann freundlich: „Also, um welche ‚Regeln‘ geht es genau, welche Gruppe hält sich an sie, welche Gruppe nicht und welche Konsequenzen hat das für die einen wie für die anderen …“

„So viel Zeit haben wir nicht“, orakelte Mareike dunkel.

„Es geht nicht um Zeit. Die Menschen wollen Emotionen“, versuchte Karl Banks die Entwicklung zu erklären, „Die Leute wollen nicht, dass Politiker Probleme sachlich auseinander klamüsern, um ihnen womöglich danach zu erklären, ihre Wut sei unberechtigt … ja, sie wollen aber auch nicht, dass Politiker sich ihrer Problemen annehmen und Lösungen anbieten … sie wollen, dass die Politiker ihre Emotionen teilen, sie wollen sich mit ihnen identifizieren, wollen sagen, das ist einer wie ich … was dieser Mann wie ich dann macht, ist zweitrangig, aber man fühlt sich mit dem mächtigen Mann identifiziert, das reicht den meisten Menschen  … “ So wie er es sagte, klang es wie: das war doch von vorneherein klar, dass das mit der rationalen Politik nicht klappt. Ein für mich völlig unverständlicher Affront gegen seinen Prof, bei dem er immerhin fünf Jahre lang Doktorand gewesen war.

Heckmann schnaubte verächtlich: „Das ist mittelalterlich!“

„Zugegeben, ja, das ist es wohl“, sagte Banks.

„Wenn ich nochmal jung wär‘ und neu anfangen könnte, würde ich ein Institut für theoretische Soziologie gründen“, erklärte er nachdenklich. Dass ein renommierter Professor wie er darüber nachdachte, Dinge in seinem Leben anders zu machen, deprimierte mich irgendwie. „So wie es eine theoretische Physik gibt, könnte es doch auch eine theoretische Soziologie geben“, erklärte er freundlich.

Nach und nach hatte das Institut seine Forschungstätigkeit eingestellt, und wir saßen nur noch im Garten oder hingen lustlos im großen Fenstersaal rum.

„Versteht ihr, die theoretische Physik versucht aus Beobachtungen, theoretischen Modellen und spekulativen Hochrechnungen Aussagen über das Universum vor dem Urknall oder die Möglichkeit von Paralleluniversen zu treffen. Durchaus analog würde dann eine theoretische Soziologie aus unserem Wissen über den Menschen und seine sozialen Beziehungen Aussagen über den Möglichkeitsraum wissenschaftlich vorstellbarer Gesellschaften treffen! Warum sage ich das? – ganz einfach, weil die Aussage: ‚Der Mensch ist eben so‘, zwar seit jeher das stärkste Argument gegen jegliche Form von Utopie ist, zugleich aber verkennt, dass der Mensch sich mit der Gesellschaft, in der er lebt, verändert.

Platt gesagt, sah Karl Marx Ausbeutung und Unterdrückung als ein historisch notwendiges Übel einer Gesellschaft, die ihre Konsumgüter im Schweiße ihres Angesichts mühevoll produzieren muss. Mit der Entwicklung der Produktivkräfte fiel diese Not weg, und eine utopische Gesellschaft wurde, aus seiner Sicht, zumindest theoretisch möglich. Für Herbert Marcuse führte der allgemeine Wohlstand zu einem Wandel der menschlichen Triebstruktur, weg vom Aggressionstrieb, hin zum Lebenstrieb, was ebenfalls eine konstruktive, friedliche Utopie möglich machen sollte. Es gibt also immer einen theoretischen Hintergrund, vor dem entschieden werden kann, was man für soziologisch möglich und was man für unmöglich hält!

Jürgen Habermas besondere Idee war es, dass Menschen in all ihren Interaktionen, auch in den täglichen, ganz banalen, implizit immer auch ihr Weltverständnis, ihre Werte und Ziele im Hintergrund mitverhandeln. Kommunikative Vernunft war nicht nur sozusagen der Kommunikationsstil vernünftiger Menschen, sondern auch eine überpersönliche, kollektive Vernunft, die sich im Prozess permanenter, allgegenwärtiger Kommunikation entwickelt. Eine hübsche Idee, die als Utopie vor allem dadurch bestach, dass Habermas ihr Endergebnis nicht vorwegnahm und ihre Erfüllung ausgehend vom heutigen Stand Schritt für Schritt erfolgen konnte. Sie setzte keinen harten Bruch, keine Tabula Rasa voraus.

Niklas Luhmanns Einwand gegen Habermas lautete, dass im Verlauf der öffentlichen Diskussionen sich weniger eine ‚verständigungsorientierte Vernunft‘ herauskristallisiert habe, sondern eher eine Verschärfung der jeweiligen Ideologien. Vierzig Jahre später scheint es, als habe Luhmann gegen Habermas Recht behalten. Gerade deswegen – und weil ihm jeder naive humanistische Optimismus fehlt – halte ich es für interessant, Luhmanns Gesellschaftstheorie auf ihr utopisches Potential hin zu untersuchen. Luhmann ist auf alle Fälle gefeit vor dem Verdacht, ein ‚Gutmensch ‚ zu sein und einem allzu naivem Wunschdenken anzuhängen.

Im Kern seiner Theorie steht bekanntlich das Konzept der gesellschaftlichen Differenzierung, einfach gesagt: dass sich die Gesellschaft in verschiedene Funktionssysteme zergliedert, u. a. Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Religion etc., die jeweils bestimmte Funktionen erfüllen. Diese Systeme laufen nach ihren eigenen Regeln, das heißt: sie können einander nicht gegenseitig steuern, kontrollieren, sondern bestenfalls: irritieren. Gesellschaften, die so gegliedert sind, nennt er: ‚funktional differenziert‘, im Unterschied zu den ‚hierarchischen‘ Gesellschaften des Mittelalters bis ins 17te Jahrhundert, an dessen Spitze der Königshof stand, der für alle Lebensfelder die maßgebliche höchste Instanz darstellte.

Meine utopische Hoffnung gründet nun auf der Idee, dass in einer funktional differenzierten Gesellschaft ein funktional differenzierter Staat sich gezielter und selbstbewusster auf die eigenen Aufgaben und Funktionen zurückziehen kann und im Zuge dessen diese ganze Scheißsymbolpolitik mit ihren idealistisch aufgeladenen Gesten, Reden und Rituale abschütteln und hinter sich lassen kann!

‚Freiheit‘ ist keine Aufgabe der Politik, sondern der Philosophie, ‚Wahrhaftigkeit’ oder ‚Authentizität‘ (wenn es ein Fremdwort sein soll) suche ich in der Kunst oder der Literatur. ‚Gerechtigkeit‘ ist Sache der Religion, und auch mit ‚Sicherheit‘ muss ich nicht die Politik behelligen, sondern kann mich an die Wirtschaft oder die Wissenschaft wenden. Für ‚Vertrauen‘ oder gar ‚Heimat‘ habe ich meine Freunde und meine Familie, und wenn ich ‚stolz‘ sein will, kann ich zum Fußballspiel gehen. Die Politik sollte von all dem die Finger lassen. Kurzum: ich wünsche ich mir einen ideologisch abgerüsteten Staat, einen schlanken Staat.

Wenn jetzt jedoch diese Scheiß-Liberalen kommen und sagen: ‚Wir sind derselben Meinung, einen schlanken Staat, den wünschen wir uns doch auch‘, muss ich ihnen entgegnen, dass ich etwas völlig anderes meine als sie. Die Liberalen wünschen sich einen funktional abgerüsteten, aber ideologisch aufgerüsteten Staat, ja sie gehören zu den größten ideologischen Aufrüstern und machen sich sogar mit nationalistischen Ideologien gemein, wenn sie in deren Deckmantel ihre neoliberale Politik durchbringen können. Ich dagegen will genau andersherum: einen ideologisch abgerüsteten, aber funktional aufgerüsteten Staat!! Ich meine, dass der Staat die wichtigsten Aufgaben öffentlicher Daseinssorge in den Händen halten sollte, von den Schulen über die Krankenhäuser, den öffentlichen Nahverkehr und die Wasserversorgung bis zur Polizei, den Geheimdiensten und der Landesverteidigung.

Der Staat sollte seine Aufgaben gewissenhaft und zuverlässig erfüllen, aber keine Heilsversprechen abgeben.“

Wieder war ich fasziniert und betört, wie Leidenschaftlich er für mehr Nüchternheit stritt, mit welchem Idealismus er sich gegen den Idealismus aussprach. Er musste es gemerkt haben, denn er lächelte schelmisch.

„Es soll ja Menschen geben“, setzt er hintersinnig murmelnd neu an, „die empfinden meine rationale Politik als kalt und technizistisch. ‚Freiheit‘, ‚Vertrauen‘, ‚Sicherheit‘, ‚Heimat‘ etc. seien doch wichtige Begriffe, die man nicht einfach über Bord werfen dürfe. Und: ja, auch für mich sind das wichtige Begriffe, aber das ist noch lange kein Grund, die Politik damit zu belasten! Ganz im Gegenteil, sollten wir die Politik lieber von allen falschen Erwartungen befreien, denen gegenüber sie nur scheitern oder heuchlerisch wirken kann …“

Er hatte gesagt, was er zu sagen hatte, Heckmann hatte sein Kapitel in der Soziologie geschrieben. Das Ende seines Instituts wollte er nicht mehr miterleben, also starb er einfach, als hätte er es sich so gewünscht. Wir begruben ihn heimlich neben dem Wintergarten. Das Gelände würde uns eh nicht mehr lange gehören.

Als die PÄF bei der nächsten Wahl mit über einem Drittel der Stimmen ins Parlament inzog und keine Koalitionsbildung ohne sie möglich schien, wussten wir, dass es vorbei war. Wir packten unsere Computer zusammen, zogen in den Keller des Instituts und mauerten von innen die Luke zu. Den letzten Kasten Bier hatten wir mitgenommen. Oben hörten wir die PÄFler die Villa beziehen, sie schoben Möbel hin und her und sangen dazu ihr beklopptes Lied: „Allen Ärschen auf die Fresse! Allen Ärschen auf die Fresse!“ Ein echter Ohrwurm, auch fünfzig Jahre später ging mir die Melodie nie wieder aus dem Kopf.

 

 

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Einen Hinweis zu Clockwork Orwell. Über die kulturelle Wirklichkeit negativ-utopischer Science-fiction von Thomas Nöske, finden Sie hier.

Weiterführend →

Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.