Peter Handke: Falsche Bewegung

Handkes Goethe-Rezeption in ihrem Kontrast zu den „Lehrjahren“ als Gegenwartserkenntnis und poetische Bewegung

„Ich fürchte jedoch, dass die Menschen, wenn einmal die verwaltete Welt existiert, ihre Kräfte nicht frei entfalten werden, sondern sich soweit an rationalistische Regeln anpassen, dass sie den Regeln schließlich instinktiv gehorchen.

Die Menschen dieser zukünftigen Welt werden wahrscheinlich automatisch handeln: Bei rotem Licht stehen, bei Grün marschieren! Sie gehorchen den Zeichen!“

                                    Max Horkheimer1

         Für mich war es was Normales, dass ich nur einige Sachen von Goethe übernommen habe, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Daraus und aber auch aus dieser ganzen Bewegung habe ich das Buch geschrieben. Ich wollte keine Rekonstruktion der Historie machen, ich wollte die historische Situation, dass jemand aufbricht, unterwegs ist, um was zu lernen, um was anderes zu werden, um überhaupt was zu werden, also diese Bewegung ins Drehbuch übernehmen. Das ist es auch – da bin ich ganz sicher –, worauf es Goethe angekommen ist: eine Bewegung oder die Anstrengung, eine Bewegung zu unternehmen. Es war mir wichtig, jemandem zu zeigen, der sich was vornimmt und danach lebt, auch wenn es immer wieder kokett geäußerte Träume sind, und was werden will, ein Künstler, mein ich, etwas tun will, was gleichzeitig auch Arbeit ist.

         Das Heldenhafte, mit dem der Wilhelm Meister auftritt, ist einfach nicht zu schaffen, auch wenn er sich als Held einer individuellen Geschichte begreifen will. Es fängt ja immer mit monumentalen, wirklich ernstgemeinten Bewegungen an. Aber wer kann schon ein solches Leben führen, wo doch alles, was sich noch ereignen könnte, kalkulierbar ist …

         Als ich zum ersten Mal nach Deutschland gekommen bin und diese Landschaft zwei Monate lang bereist habe, da habe ich das plötzlich so leibhaftig in mir gespürt, so eine totale Bewegung durch ein Land und natürlich auch so ein gewisses Pathos, dass da jemand aufbricht zu einem andern Leben.2

Peter Handke

 

         Der Text der Filmerzählung provoziert beim Leser – zumal durch die untergeschobene Folie der Goethe’schen „Lehrjahre“ – die semantische Vielfalt der Wortassoziationen:

                  bewegt werden     (wodurch? – wozu?)

                  bewegt sein          (wovon? – wie?)

                  sich bewegen        (woher? – wohin?)

                  bewegen              (was? – wie?)

         Irgendwo innerhalb dieser Assoziationsreihe sind Handkes „Falsche Bewegungen“ und die seines Filmhelden angesiedelt oder sie umfassen gar die gesamte Serie in dem Sinne, dass es sich nicht nur um falsche Bewegungen des Handke-Wilhelms, sondern des Handke-Ichs handelt:

         „Ist die falsche Bewegung, die ortsverändernde Bewegung, welche ihn unter Menschen führt, die ihn lieben […], nicht allein deshalb schon falsch, weil er sich weigert, sich wirklich den menschlichen Erfahrungen zu öffnen? Stattdessen blickt er, passiv wie schon zu Anfang, nur in sich, achtet nur auf seine Wünsche und Träume, und sehnsüchtig jagt er seinem Ziel nach, in dem Poesie und Politik zusammenfallen …“3

         Oder aber: Inwieweit gelten Goethes „Lehrjahre“ überhaupt noch als Grundmuster für eine Übernahme der in ihnen enthaltenen Probleme in den Gegenwartsbezug? Inwieweit musste sich oder sollte sich bei Handke dieses Grundmuster in den Kontrastbezug zur Goethe-Vorlage entfernen4, weil sich die Kernfragen heute anders und neu stellen?

         Ist es also Handkes Intention, diesen kontrastierend-exemplarischen Wilhelm seines Filmbuchs als fiktives Extrem eines realistischen Dichterbedürfnisses unserer Zeit darzustellen – mit der Quintessenz, dass sowohl Ansatz wie Lösung einer Frage (die Goethe in der Form einer aufklärerisch-optimistischen, klassisch-versöhnlichen „Utopie“ zu lösen versuchte5) heute gar nicht mehr denkbar und lösbar geworden sind?6

         Es ist im Übrigen interessant, dass Handke zu den ersten deutschen Schriftstellern der Gegenwart gehört, der die Wichtigkeit der Rezeption klassischer Autoren wieder erkannte und mit der „Falschen Bewegung“ einer derartigen Aufforderung Benno von Wieses noch zuvorkam7; in seinem letzten Roman „Die linkshändige Frau“ arbeitet Handke konsequent an dieser selbstgestellten Aufgabe weiter.8

         Auf Ähnlichkeiten oder Unterschiede bei Handkes „Falscher Bewegung“ und Plenzdorfs „Werther“-Rezeption verweise ich, wo dies sinnvoll erscheint.9 Vorab sei gesagt, dass die Motivationen bei Plenzdorf und Handke grundverschieden sind:

         Während Plenzdorf mithilfe der „Werther“-Rezeption eine politische und in diesem Sinne ganz pragmatische Diskussion über gesellschaftliche Zustände auslöst, reflektiert Handke in der Rezeption der Lehrjahre ‚erst’ über die Voraussetzungen eines Menschen, insbesondere eines Dichters oder Schriftstellers, ob und wie er politisch in der Literatur aktiv werden kann, darf und soll.

         Aber es gibt Gemeinsamkeiten in beiden Rezeptionen, die thematisch bedingt sind: in der Erörterung des Konflikts zwischen Individuum und Gesellschaft und seines gesamten gesellschaftlich relevanten Umfelds in der Gegenwart – diese Gegenwart wird, wenn auch auf ideologisch verschiedener Grundlage als Zeit einer neuen, zweiten Aufklärung10 in Bezug gesetzt zur vergangenen Epoche der Aufklärung, und zwar in ihrer komplexen Verschränkung zum Sturm und Drang (bei Plenzdorf) und zur Romantik (bei Handke)11, wofür sich in unserer Gegenwart erneut äquivalente Zeittendenzen anbieten – diese werden häufig mit den Begriffen einer „Neuen Innerlichkeit“12, einer „Neuen Romantik“ oder einer „Poetisierung des Lebens“13 beschrieben.

         Bewegt werden

         Eine Gemeinsamkeit, die sich bei Plenzdorf und Handke gleichermaßen einstellt, spiegelt sich in der Aufbruchssituation der Helden beider Stücke wider; es ist dies im Übrigen auch ein Grundzug, der für Goethes Werk bestimmend ist, nur mit dem Unterschied, dass diese Aufbruchssituation im „Werther“ eine gänzlich andere Entwicklung des Helden in den „Lehrjahren“ nimmt.

         Während Plenzdorfs Edgar Wibeau seinen Aufbruch in die freiwillige Isolation aus der Verdrossenheit bereits erfahrener Leiden im Elternhaus, in Schule und Lehre motiviert, wird Handkes Wilhelm von der Verdrossenheit einer im Elternhaus vorgefundenen Leere, vor allem aber durch seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, zum Aufbruch bewegt (p. 8). Dieser erste Entschluss Wilhelms ist, in dieser Allgemeinheit, noch nicht als falsche, sondern umgekehrt als einzig richtige und notwendige Bewegung aufzufassen.

         Doch indem er zugleich das Ziel seines Aufbruchs zu einer Reise formuliert: „Aber wie ist das möglich ohne Lust auf Menschen?“, kündigt sich schon das Umschlagen einer zunächst richtigen Bewegung in eine Illusion an, in eine falsche Bewegung.

         Wilhelm erhofft sich in der menschlichen Begegnung die Lehre für sein letztes Ziel, Schriftsteller zu werden. Dass dies Illusion bleibt, erfährt der Handke-Leser erst auf Seite 77, wo aus Wilhelms Antwort auf eine Frage Thereses klar hervorgeht, dass er sich durch die menschlichen Begegnungen nicht geändert hat. Dieser krasse Gegensatz zum Erziehungs- und Entwicklungsgedanken in den Lehrjahren Goethes14 ist das fundamentale Movens der Handke-Erzählung – und im Vorgriff sei gesagt, dass dieser Kontrast eine politische Implikative Handkes, bereits im Filmbuch, darstellt.

         Zunächst erinnern aber die Anweisungen der Mutter noch sehr deutlich an die „Lehrjahre“, an die Hoffnungen auf eine sinnvolle Reise:

         Aber eins sollst du lernen: daß du dich zu nichts zwingen lassen darfst. Sonst wirst du dir selber fremd, und auch die anderen werden nur etwas Undefinierbares bleiben. Du mußt immer wissen, was du tust und warum du es tust, und du mußt dich bei dir selber fühlen – auch wenn du gemein wirst dabei. Und laß dich nicht einschüchtern, wenn jemand dir sagt, dass du ein unnützes Leben führst und dich auf die ernsthafte Tätigkeit eines Schreiners oder Arztes hinweist: weißt du, alle Menschen mit begrenzten Tätigkeiten erinnern mich an vertrocknende Schnecken in zu kurz geschnittenem Gras. Sei tätig, aber setz dir keine Grenzen. (p. 14)

         Die Sätze der Mutter enthalten in komprimierter Form wesentliche Motive der „Lehrjahre“: In ihnen steckt der zentrale Gedanke der Selbstverwirklichung eines Menschen in der allseitigen Entfaltung aller seiner Anlagen.15 Der erzieherische Toleranzgedanke des Abbé.16 Schließlich der wichtige Gedanke, über die Selbstfindung zur gesellschaftlichen Tätigkeit zu gelangen.17

         Bewegt sein

         Eine weitere Anweisung, die die Mutter Wilhelm mitgibt: „Und verlier dieses Unbehaglichkeitsgefühl und deinen Missmut nicht, die wirst zu brauchen, wenn du schreiben willst.“ (p. 10) nimmt bereits das vorweg, woran Wilhelm schließlich scheitert, was er p. 77 selbst bekennt: „Schlimm ist nur, dass ich vor Missmut nicht nur mich selber nicht mehr spüre, sondern auch nichts anderes mehr, … Ich kann auch nichts schreiben vor Unbehaglichkeit.“ – So sind die Lehren der Mutter die ersten falschen Bewegungen zu Beginn seines Aufbruchs. Vom Gefühl des Missmuts und der Unbehaglichkeit ist Wilhelm vor seiner Reise längst bewegt und diese Bewegung hält während seiner ganzen Reise ungebrochen an. Und doch ist dieses Bewegtsein, als es in Wilhelm noch den Wunsch nach einer Veränderung wachrief, die ihn seiner Selbstverwirklichung und Selbstfindung näherbringen sollte, zuerst eine ernste, nicht falsche Bewegung: Durch ein Zeitungsfoto angeregt, auf dem Wilhelm rein zufällig als Passant erscheint, sagt er: „Seitdem bin ich so unlustig. Es wurde mir klar, dass ich bis jetzt all die Jahre wirklich nichts anderes war als dieser beliebige Passant auf dem Foto. Das Foto war auch schon alles, was es über mich zu sagen gab. Ich muss versuchen, mehr über mich herauszufinden.“ (p. 11)

         Handkes Filmerzählung zeigt, dass dieses Motiv im Bild der Zugspitze wieder aufgenommen werden muss, weil es Wilhelm bis dahin nicht gelang (und nicht gelingen konnte), mehr über sich herauszufinden.

         All dies, wovon Wilhelm bewegt wird und was ihn bewegt, aus der Leere zur „Lehre“ aufzubrechen, ist gleichsam die Exposition der Filmerzählung. Man kann sagen, dass die gesamte Filmerzählung Handkes nichts anderes ist als die Ausdehnung dieser Exposition bis hin zum Schluss, denn die Lehrjahre im Sinne der Goethe-Vorlage setzen bei Handke – gleichsam unsichtbar – erst auf der Zugspitze ein.

         Sich bewegen

         Wie Plenzdorfs Held Edgar Wibeau führt Wilhelm in Handkes Filmerzählung ein Buch als Reisebegleiter mit sich; doch ist es nicht, wie bei Plenzdorf, der rezipierte Stoff selber, sondern Eichendorffs Novelle „Aus dem Leben eines Taugenichts“. Die Lektüre als Begleiter spielt zwar bei Handke nicht im geringsten die dynamische Rolle, die der „Werther“ oder Salingers „Fänger im Roggen“ für Plenzdorfs Helden besitzt, dennoch kommt es bei Handke zu einer seinem Filmhelden ebenfalls unbewussten Überwindung der Rezeptionsfolie, allerdings im entschiedenen Kontrast, in ihrer völligen Umkehrung.18

         In Wilhelms erster Begegnung mit Therese wird metaphorisch das Ergebnis aller Begegnungen mit Menschen im Verlauf seiner Reise vorweggenommen: Wilhelm und Therese sitzen in verschiedenen Zügen, sind sich (noch) fremd19, die Züge scheren auf verschiedenen Gleisen auseinander – und am Schluss der Filmerzählung entfernen sich beide, Therese und Wilhelm, erneut voneinander.20

         Wilhelms „Sehnsucht, Menschen zu finden statt toter Seelen21, wird in all seinen Bewegungen von nun an nicht erfüllt. Seine Bewegungen (die in den Begegnungen ermittelt werden) sind letztlich eine Reise ohne Start und Ziel im Sinne einer Entwicklung, sie sind nicht nur falsch, sondern Stillstand im Nirgendwo.

         Obwohl dem Handke-Helden analog zu den Lehrjahren die extremen Pole einer romantischen22 (Harfner/Mignon) und einer vernunftsorientierten Welt (Therese) begegnen23, obwohl ihm die Welt des Industriellen als gegenwartstypisches Symbol der Einsamkeit in Deutschland begegnet24, gelangt Wilhelm nicht zu den Erfahrungen25 Wilhelm Meisters.

         Allenfalls ließe sich aber noch von negativen Erfahrungen reden, zumal wenn man bedenkt, wie reichhaltig Dinge, Zeichen, Symbole und Namen in Handkes Text auftauchen.26 Diese unpersonale Welt der Begegnungen scheint mir Handkes Gegenentwurf zu Goethes Roman erst verständlich zu machen.

         In den „Lehrjahren“ dient die Schilderung der konkreten Welt als Spiegel der personalen Verhältnisse in den Begegnungen Wilhelm Meisters:

         „Throughout the first five books, the concreteness of the world of objects and the life-like uniqueness of the characters resist Wilhelm and frustrate him in his quest to realize himself.”27

         Sie dient aber zugleich der Entwicklung Wilhelm Meisters, die Dinge der Wirklichkeit sehen zu lernen.

         „In Wilhelm Meisters Lehrjahre the world of objects cannot be separated from the contemplating subject; at the moment of perception both are united in the indivisible phenomenon which is reality. This reciprocity between man and his world derives from Goethe’s conviction that both are subject to natural laws and that certain principles in the objective world correspond to certain principles in the beholder. In agreement with this conception the progressively more complex reality in Goethe’s Bildungsroman reflects the hero’s increasing ability to ‘see’, …”28

         Es ist nicht nachweisbar – vielleicht auch nicht denkbar – dass Handke sich von diesem Aspekt in den „Lehrjahren” inspiriert fühlte, als er seine Filmerzählung schrieb. Der genannte Aspekt scheint mir jedenfalls als ein äußerst wichtiger Anhaltspunkt für die Analyse der Handke-Rezeption zu gelten:

         Die Welterfahrung Wilhelm Meisters wird bei Handke gewissermaßen ersetzt durch die Welterfahrung in der Wesensschau29 der Dinge, Zeichen und Symbole des gegenwärtigen Deutschlands:

         Ich weiß, ich habe nicht das, was man Beobachtungsgabe nennt, aber, wie ich mir einbilde, die Fähigkeit zu einer Art von erotischem Blick. Plötzlich fällt mir etwas auf, was ich immer übersehen habe. Ich sehe es dann aber nicht nur, sondern kriege gleichzeitig ein Gefühl dafür. Das meine ich mit dem erotischen Blick. Was ich sehe, ist dann nicht mehr nur ein Objekt der Beobachtung, sondern auch ein ganz inniger Teil von mir selber. Früher hat man dazu, glaube ich, Wesensschau gesagt. Etwas Einzelnes wird zum Zeichen für das Ganze. Ich schreibe dann nicht etwas bloß Beobachtetes, wie die meisten das tun, sondern etwas Erlebtes. Deswegen will ich eben gerade Schriftsteller sein. (p. 58)

         In dieser Aussage Wilhelms in der Handke-Erzählung klingt deutlich die Sehnsucht nach der Verschmelzung von Gedanken und Gefühl30 an, wie sie dem Helden der „Lehrjahre“ erst im Saal der Vergangenheit in der Gesellschaft vom Turm gelingt.31

         Für Handkes Wilhelm ist eine – auch bei Goethe sozialutopisch skizzierte32 – Turmgesellschaft im gegenwärtigen Deutschland nicht mehr möglich, weil am Beispiel des Industriellen und seines bedeutsamen Monologs über die Einsamkeit (p. 44f.) und an der „ordentlichen Beschreibung unordentlicher Verhältnisse“ 33 (mittels Namhaftmachung der Dinge, Zeichen, Symbole) der Zweifel an der Veränderbarkeit gesellschaftlicher Verhältnisse durch politische Aktivität34 jeden aufklärerischen und neuaufklärerischen Optimismus überwiegt. An seine Stelle tritt nun aber nicht eine vordergründige „Sehnsucht nach verlorengegangenem Gefühl“ 35, auch würde man Handke falsch verstehen, wenn man Wilhelm so einschätzt: „eingesunken in sein Ich und seinen angestrengten Wunsch, Poesie aus sich zu entbinden“ (hat er) „die Prosa des Lebens, die ihn ekelt oder die er gar nicht wahrnimmt und nicht wahrnehmen will, versäumt, verspielt, verloren“.36

         Im Gegenteil: Die verlorengegangene Einheit von Gefühl und Gedanke, von Poesie und Leben37 versucht Handkes Wilhelm zurückzugewinnen, und zwar ganz im Sinne Goethes38: the artist surpasses himself by creating a second world, the aesthetic realm which frees him from the contingencies of existence and makes him conscious of his possibilities39:

         Des Menschen größtes Verdienst bleibt wohl, wenn er die Umstände so viel als möglich und sich so wenig als möglich von ihnen bestimmen lässt. Das ganze Weltwesen liegt vor uns wie ein großer Steinbruch vor dem Baumeister, der nur dann den Namen verdient, wenn er aus diesen zufälligen Naturmassen ein in seinem Geiste entsprungenes Urbild mit der größten Ökonomie, Zweckmäßigkeit und Festigkeit zusammenstellt. Alles außer uns ist nur Element, ja, ich darf wohl sagen, auch alles an uns; aber tief in uns liegt diese schöpferische Kraft, die das zu erschaffen vermag, was sein soll …40

         So steht am Ende der Handke-Erzählung nicht die Turmgesellschaft, sondern das für unsere Zeit angemessene Äquivalent: die Zugspitze. In einem Land, in dem die Einsamkeit Triumphe feiert – und dies zeichnet Handke in grotesken Strichen – ist der Dichter ebenso wie jedes andere Einzelwesen auf sich allein gestellt, zumal dann, wenn die in der Klassik noch vorhandene Einheit von Mensch und Natur, Gedanke und Gefühl, Poesie und Politik selbst in ihrem idealistischen Ansatz aufgegeben worden sind.

         Bewegen

         Die in der Gesellschaft nicht erreichte Selbstverwirklichung und die Selbstfindung Wilhelms muss – gerade weil er ein politisch bewegender Schriftsteller werden will – außerhalb dieser erst im Sinne des eben genannten Goethe-Zitats noch errungen werden.41

         Die Zugspitze ist in Handkes Filmbuch ein mehrdeutiges und darüber hinaus ironisches und offenes „realistisches Symbol“ 42:

  • Es steht in subtiler Anlehnung an die „Lehrjahre“ für die Gesellschaft vom Turm.
  • Es erinnert an Wilhelm Meisters frühe Auffassung vom Dichter, „der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten … er sollte zugleich wie der Stier am Pflege ziehen …?“ 43 Das wäre die ironische Variante, welche Handkes Kritiker noch einmal den Vorwurf erheben lassen könnte, nun habe der „Bewohner des Elfenbeinturms“ seine wahre Behausung gefunden.
  • Es assoziiert die Einsamkeit des Dichters auf seinem Weg zur Selbsterkenntnis und zu seiner Selbstbestimmung als Dichter.
  • Es deutet die Notwendigkeit an, dass der Dichter, unbeeinflusst von vorgegebenen gesellschaftlich-ideologischen Positionen, zu einer aus sich selbst gelösten Stellung zur Welt findet.
  • In wortspielerischer Assoziation an den Zug, in dem Wilhelm seine Reise angetreten hatte, sitzt er nun an der Spitze des Zuges, hat sich selbst und seine Reise der falschen Bewegung und Begegnungen überholt (überwunden).
  • Das Symbol lässt aber die richtige Bewegung, die nach dem Verlassen der Zugspitze folgerichtig kommen müsste, offen. Nur während Wilhelm sich auf dem Zugspitz-Plateau befindet, klingt (im wahrsten Sinne des Wortes) Optimismus durch das Sturmgeräusch: „Ein Schreibmaschinengeräusch dazwischen, das immer stärker wird.“ (p. 81) Ob dies aber schon die idealistisch angestrebte Harmonisierung von Poesie und Politik andeutet oder „nur“ die Selbsterkenntnis und Selbstbestimmung des Dichters als deren Voraussetzung, bleibt unklar.

         Im Rückbezug auf das Zugspitz-Symbol als Schlüssel der Filmerzählung Handkes werden die Äußerungen Wilhelms, in denen er sich bewegt, und die Äußerungen seiner Gegenüber, die ihn ebenfalls bewegen, erst verständlich. Bei der folgenden Betrachtung wird sich zeigen, inwieweit die Bewegungen wirklich falsch waren und in welchem dialektischen Verhältnis innerhalb der Bewegungen schließlich Wilhelms Umschlagen in die richtige Bewegung steht.

         Auf diese Weise wird zugleich veranschaulicht, was (in der Auffassung Handkes) die Poesie politisch bewegen kann, darf und soll, und wie dies zu geschehen habe.

         Die Gedanken, die Wilhelm gegenüber seinen Dialogpartnern vorbringt, steuern im Verlauf der Erzählung immer mehr auf einen Themenkomplex zu, der in der Unterhaltung mit dem Alten (p. 51f.) seine zentrale Erörterung erfährt:

         Dieser Themenkomplex enthält die ganze Spannweite von der ersten Bewegung (Wilhelms Wunsch nach gesellschaftlichem Erleben und Erkennen) bis zur letzten Bewegung (dem Wunsch, Politisches durch Poesie auszudrücken). Interessanterweise übernimmt der Alte, der sonst als „der rückständige Naturselige“ 44 erscheint, in diesem zentralen Gespräch die Rolle eines advocatus diaboli, der den romantizistischen Sehnsüchten Wilhelms oft das humanistische Ideal der „Lehrjahre“ entgegenhält.

         Wilhelms Weg auf der Suche nach Versöhnung des poetischen Prinzips, das sich in romantischer Anlehnung absolut setzt, mit der politisch-prosaischen Aktivität des Schriftstellers beginnt zunächst in einem Unverständnis für alles Politische: Bei seinem Reisebeginn im Zug, die Schönheit der Landschaft und Eichendorffs Novelle vor Augen, fallen Gefühl und (politischer) Gedanke noch so weit auseinander, dass er feststellt: „Ich konnte mir nichts Politisches vorstellen.“ (p. 16) Er befindet sich auf einer Reise durch das gegenwärtige Deutschland, das er später zunehmend in der Wahrnehmung von Dingen und in den Begegnungen von Menschen gleichsam mit dem „erotischen Blick“ als durchaus politisch erfährt und erfühlt: Das ist gewissermaßen eine in den politischen Zusammenhang projizierte Wesensschau der Dinge, Zeichen, Symbole und Worte, die sich ihm ungeordnet und in den zufälligen menschlichen Begegnungen willkürlich konfrontiert.45

         Als der Alte einmal etwas von der ersten Seite einer Zeitung vorliest, bemerkt Wilhelm: „Es sträubt sich in mir, wenn ich da zuhöre.“ (p. 27) „Es kommt mir dann vor, als sei die Politik das Hindernis zum ungezwungenen, unbefangenen Leben und ich denke, dass erst, wenn die Politik abgeschafft sein wird, das heißt unnötig sein wird, das menschenwürdige Leben anfängt.“ Darauf der Alte: „Du sprichst vom Paradiese, Wilhelm, und dabei, wie mir scheint, eher von einem animalischen als von einem menschlichen.“ (p. 28)

         Wilhelms Sätze sind hier weniger deshalb interessant, weil in ihnen noch immer Gefühl und Gedanke derart auseinanderklaffen, dass er mit der spezifisch politischen Sprache nichts anzufangen weiß, sondern vielmehr deshalb: Er formuliert selbst Politisches, wenn auch in unbeholfenen Zügen einer weltfremden, beinah schon poetisierten Utopie. Der Satz von der wünschenswerten Abschaffung der Politik erinnert von fern an die kommunistische Utopie Karl Marx‘ von der Abschaffung des Staates, ist aber bei Wilhelm noch wesentlich radikaler. Ausgerechnet der naturselige Alte verweist solche Utopien ins animalische Paradies. Die romantische  Sehnsucht von der Aufhebung der politischen Gebundenheit des Individuums in der Sozietät führt – und hier wird der Naturbegriff des Alten einmal ins Recht gesetzt – zur Zerstörung des humanistischen Ideals, das sich (dies zeigen die „Lehrjahre“) eben nur in der Bewahrung einer tätigen Gesellschaft selbst und gerade in ihren Widersprüchen verwirklichen kann. Wilhelms Utopie aber führt über die Aufhebung aller ihrer Widersprüche zur Natur in die naturentwurzelte und also nur mehr animalische Isolation des Menschen.

         Wilhelm begibt sich im Folgenden unversehens in einen scheinbaren Entwicklungsprozess seiner Idealvorstellungen. Als er sagt, dass das Aufschreiben von Träumen untauglich sei, formuliert er zum ersten Mal den Ansatz eines Wirklichkeitsbezuges für den Schriftsteller: „Ich will etwas schreiben können, das ganz und gar notwendig ist, …“ (p. 29)46. So wird er von seinem Gegenüber im Dialog in einen inneren Prozess der Zerstrittenheit mit sich selbst gebracht.

         Weil Wilhelm seine in ihm selbst angelegten Widersprüche nicht in der gesellschaftlichen und kommunikativen Begegnung mit der Welt der Dinge (in Deutschland) lösen kann, wird man seine Bewegungen falsch nennen müssen – andererseits tragen diese aber zu seinem zweiten Entschluss bei: zu der richtigen Bewegung, zunächst über sich selbst klarzuwerden.

         In diesem dialektischen Wechselspiel bewegt sich Wilhelm. Indem er zwischen These und Antithese hin und her taumelt, aber zu keiner Synthese zu gelangen vermag und diese ihm in den Begegnungen nicht vermittelt werden kann, bleibt er in einer in sich selbst sich bewegenden Dialektik, einer falschen Bewegung, gefangen.

         Später nähert er sich zwar in gefühlsbetonter Weise einer vagen gesellschaftlich orientierten Schreibmotivation: „… nicht Schreiben ist das Bedürfnis, sondern schreiben wollen … Ebenso ist vielleicht Lieben gar kein Bedürfnis, sondern lieben wollen … Schreiben wollen, lieben wollen …“ (p. 46).47

         Im Disput mit dem Alten wird jedoch erneut deutlich, dass Wilhelm in seinen alten romantizistischen Traumbewegungen gefangen geblieben ist:

         „Eigentlich ist mir das Politische erst mit dem Schreiben unfassbar geworden. Ich wollte politisch schreiben und merkte dabei, dass mir die Worte dafür fehlten. Das heißt, es gab schon Worte, aber die hatten wieder nichts mit mir zu tun. Ich hatte überhaupt kein Gefühl dabei. Ich schrieb, wie vielleicht fortschrittliche Politiker reden, nur hilfloser, weil ich nicht handelte, und pointierter, aber aus Hilflosigkeit.“ (p. 51)

         Wilhelms ansatzweise, aber eben nur scheinbare Entwicklung ist hier wieder in den zurückgeworfenen Stillstand einer solipsistischen „Bewegung“ versetzt: Immer noch, krasser und ihm selbst bewusster, klaffen politischer Gedanke und Gefühl auseinander. Zur politischen Tat, zu der ihn der Alte statt des Schreibens auffordert (p. 52), ist er umso mehr nicht fähig, und er kann es nicht sein, weil er mit sich selbst noch nicht übereinstimmt: Seine Bedürfnisse fand er „bis jetzt nie von einem Politiker geweckt, immer nur von Poeten. […] Höchstpersönliche Bedürfnisse hat ein jeder und sie sind die eigentlichen.“ So gipfelt Wilhelms immer noch um sich selbst kreisende „Erkenntnis“ eines Sehnsuchtsgefühls in dem Satz: „Wenn nur beide, das Poetische und das Politische, eins sein könnten.“ 48

         „Das wäre das Ende der Sehnsucht und das Ende der Welt“, sagt ihm darauf der Alte.49

         Diese Kontroverse schließt den anfangs mit der Sehnsucht nach der Abschaffung der Politik50 gezogenen Kreis ab: Das animalische Paradies Wilhelms bedeutet nicht nur die Aufhebung aller humanistischen Ideale, sondern ganz elementar das Ende der Welt.

         Wenn man überhaupt davon reden kann, dass Wilhelm etwas in seinen Bewegungen gelernt hat, dann in dem Sinne, dass er von den Dingen der Welt ein „Neues Sehen“ erfahren hat51, indem er das Meer der Gegenstände, dem er schon in einer der ersten Szenen der Filmerzählung begegnete52, gemäß seiner Wesensschau als „Welt der Dinge“ erkennt und zu ordnen versucht.53 An den „falschen Bewegungen“ erkannte er, dass er auch dieses „Neue Sehen“ erst noch zu überwinden hat, bis er fähig ist, auch darüber zu schreiben, was ihm nicht nur auffällt, sondern auch einfällt.

         So leiten ihn die falschen Bewegungen letztlich zu seinem zweiten Entschluss, auf der Zugspitze über die Selbstfindung zur Weltfindung, über die Selbsterkenntnis54 zur Welterkenntnis gelangen zu wollen.55

         Dann erst wird Wilhelm als Schriftsteller fähig sein können, die Welt richtig zu bewegen.56

         Handkes Rezeption der „Lehrjahre“ hätte nicht sinnvoll ausfallen können, hätte sie der Goetheschen Utopie vom Turm nicht einen eigenen, dem gegenwärtigen Deutschland äquivalenten ‚Ersatz’ mit dem realistischen Symbol der Zugspitze gegenübergestellt. – Dieses Symbol kann die von Goethe in seinem Roman erreichte klassische Ausgewogenheit von Poesie und Politik nicht erneuern, aber es wehrt jeden Erneuerungsversuch durch eine wie auch immer geartete sehnsüchtig-romantische Bewegung ab. Dieser Versuch ist in Handkes Wilhelm personifiziert und gescheitert.

 

 

 

Weiterführend Lesen Sie auch die Würdigung zu Handkes 80. Geburtstag durch Jutta Ludwig. Wir versuchen auf KUNO die Evolutionsgeschichte des Essays zu vervollständigen und begreifen die Gattung des Essays auf KUNO als eine Versuchsanordnung, undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen.

 

 

 

 

 

 

Anmerkungen

1 Max Horkheimer in einem „Spiegel“-Gespräch: „Was wir Sinn nennen, wird verschwinden“, in: Der Spiegel 1-2 (1970), S. 83

2 Peter Handke in einem Interview: Materialien Peter Handke, Falsche Bewegung, in: Suhrkamp-Literatur-Zeitung Nr. 1/2. Programm. Frankfurt/ Zürich/Wien September 1975 (Beilage, S. 4)

3 Schütte

4 Pütz behandelt die Frage des Kontrasts in Handkes Rezeption knapp, aber treffend:

„Einige Anlehnungen an den Goethe’schen Wilhelm Meister sind so klar erkennbar, dass es überflüssig erscheint, sie im Einzelnen zu nennen …“ – Dem schließe ich mich insofern an, als ich in meiner Untersuchung auf die Herausarbeitung aller, auch der subtileren, Anlehnungen in explizite verzichte; denn – so Pütz weiter:

„Die Analogien sind … in den wenigsten Fällen deckungsgleich, sondern verschieben und überschneiden sich … Handke übernimmt gleichsam […] ein vorgeformtes Geflecht und verändert es so, dass zwar das Grundmuster und damit die Tatsache der Übernahme ständig sichtbar bleibt, dass aber immer mehr Fäden dieses Geflechts in andere Richtungen gelenkt, zu neuen Sinnbeziehungen verknüpft werden. Daher sind auf dem Hintergrund der Entsprechungen Kontraste vielsagender als Analogien. … im scharfen Kontrast zum Goethe’schen Wilhelm Meister nicht nur als Vehikel der Parodie, sondern gleichsam als photographisches Negativ, das es umzukehren gilt, will man die wirklichen Erscheinungen sichtbar werden lassen. Die Mechanismen tradierter Formen bieten die Kontrastfläche, von der sich die neuen Dinge allererst abheben und profilieren. Damit wird Tradition als Mittel der Gegenwartserkenntnis rezipiert und verwertet.“

5 Vgl. Storck 229, Janz 340, Lukács 61 f. und 69

6 Dieser gedankliche Ansatz wird vage angedeutet bei Buselmeier 60: „Weil aber das Paradies der Einheit aller Gegensätze verriegelt ist, rettet sich Handke, wie mancher vor ihm, in den Versuch einer Neubegründung des poetischen Denkens, das gegenüber dem politisch-wissenschaftlichen absolut gesetzt wird …“ (B. rückt Handke damit allerdings zu sehr in die Nähe von Novalis, was mir nicht angemessen erscheint.

Pütz 2 lässt die Frage offen, verweist aber sehr ausdrücklich auf Handkes „Neues Sehen“ von Dingen hin und erwähnt in diesem Zusammenhang auch Husserls Phänomenologie. Pütz hätte diesen Gedanken (als Begründung dafür, dass Handkes Wilhelm einen anderen Weg zu gehen hat als Goethes) daher ruhig expliziter und entschiedener ausführen können – vgl. auch Anmerkung 4.

7 Benno von Wiese: Ist die Literaturwissenschaft am Ende? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.10.1973. (Handke schrieb „Falsche Bewegung“ im Juli/August 1973, schon zuvor hatte er sich im „Kurzen Brief zum langen Abschied“ mit der Rezeption traditioneller, wenn auch nicht gerade klassischer Texte beschäftigt.)

8 Erschienen im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/M. 1976 (rezeptive Grundlage: Goethes „Wahlverwandtschaften“)

9 Pütz bezieht sich in seiner Handke-Besprechung zweimal auf Plenzdorf und scheint dessen „Werther“-Rezeption, zumindest unter dem allgemeinen Aspekt eines „Grundmusters“ der Rezeption, der Handke‘schen als vergleichbar gegenüberstellen zu können.

10 Vgl. Storz 197

11 Auch Plenzdorfs Text ist als Filmszenario (und Theaterstück) geschrieben.

12 Dazu vgl. den Plenzdorf-Teil meiner Arbeit.

13 Z. B. Buselmeier 60

14 Storck 213: Die Selbstfindung ist nur im gesellschaftlichen Zusammenhang möglich.

15 Lukács 60

16 Storz 198; Storz 199 meint (nicht unangemessen im Sinne Handkes), dass weder Leitung noch Theorie Wilhelm auf den ihm gemäßen Weg bringen, sondern die Natur, das Unmittelbare. Vgl. auch Dürr 203-205

17 Storck 216

18 Vgl. Pütz 2

19 Nach Storz 192 könnte man auch im Falle Handkes hier von einer „Vor-Erscheinung“ sprechen.

20 Pütz 2

21 Schütte

22 Storck 224 f.: Gegenwelt gesellschaftlichen Außenseitertums

23 Storck 216

24 Pütz 1; Friedrich Luft in: Materialien Peter Handke, Falsche Bewegung, S. 8

25 Janz 321

26 Pütz 2

27 Dürr 203 – Dürr stellt dies bei den „Lehrjahren“ vor allem im Kontrast der ersten 5 Bücher zu den letzten beiden fest. Stilistisch zeige sich dies bei Goethe auch darin, dass er in den Büchern 1-5 (bei Beschreibung konkreter Dinge) parataktische, in den Büchern 7 und 8 dagegen hypotaktische Satzperioden verwende: Stil und Gehalt des Beschriebenen korrespondieren jeweils miteinander.

28 Dürr 204 – vgl. hinsichtlich Handke: Pütz 2

29 Vgl. Pütz 1, der auf Husserls Phänomenologie verweist, zumal Handkes Wilhelm (p. 58) selbst den Begriff „Wesensschau“ verwendet.

Vgl. auch Buselmeier 60: „… dieses Sichversenken in die reine Dingwelt …“ (Buselmeier bespricht Handkes „Die Stunde der wahren Empfindung“, leitet dann aber gleich über zur „Falschen Bewegung“). „Ich selbst habe beim Lesen zuerst an Edmund Husserl und die Phänomenologie gedacht: ad res, ad fontes, zu den Sachen selbst; eine rein deskriptive Wissenschaft, die sich ontologisch auf das naive Erschauen der Erscheinungen fixiert. Die Phänomenologie will die Dinge so wahrnehmen, wie sie sich selbst zeigen, unter Abstraktion von ihren geschichtlich-gesellschaftlichen Qualitäten. Zu dieser Philosophie des autonomen Gegenstandes scheint Handke ein poetisches Äquivalent zu liefern.“ Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Handke in seinem „poetischen Äquivalent“ geschichtlich-gesellschaftliche Qualitäten durchaus impliziert – gerade durch seine Rezeption der „Lehrjahre“ und deren Inbezugsetzung zur Gegenwart.

30 Vgl. Blumenberg

31 Dürr 207

32 Lukács 69

33 Blumenberg

34 Blumenberg; Zürcher 44 f. verweist auf eine dazu korrespondierende Stelle in Handkes „Der kurze Brief zum langen Abschied“ (Frankfurt/M. 1. Aufl. 1972, S. 190 f.), wo der Gesprächspartner des Ich-Erzählers (der sich ironischerweise einmal mit dem Namen Wilhelm vorstellt), der Filmregisseur John Ford, sagt: „Bis vor einem Jahrhundert haben noch die Leute für den Fortschritt gesorgt, die die Macht hatten, ihn auch herbeizu-führen: von der Neuzeit an bis vor kurzem gingen die Heilslehren immer von den Machthabern selber aus: von den Fürsten, den Fabrikherren, den Wohltätern. Jetzt sind aber die Machthaber keine Wohltäter der Menschheit mehr, höchstens gebärden sie sich als Wohltäter an einzelnen, und nur noch die Armen, die Mittellosen und Machtlosen denken sich etwas Neues aus. Die, die allein etwas ändern könnten, machen sich keine Gedanken mehr, und so muss alles beim Alten bleiben.“

35 Jeremias

36 Schütte

37 Storck 226 f.; Dürr 209

38 Vgl. Lukács 61 f.: „Der Gestaltung eines in der bürgerlichen Gesellschaft notwendig utopisch bleibenden Ideals wie des Humanismus muss notwendig ein gewisser Fluchtcharakter anhaften. Denn kein Realist kann diese Verwirklichung mit der realistischen Gestaltung des normalen Ablaufs der Geschehnisse in der bürgerlichen Gesellschaft vereinen.

39 Dürr 207

40 Goethes Werke. Herausgegeben von Erich Trunz. 14 Bde. (Hamburg 1948-1960), 8. neubearbeitete Auflage München 1973, Bd. 7, S. 405

41 Vgl. Peter Handke: Die Tyrannei der Systeme, in: Die Zeit, 2.1.1976: Der Schriftsteller muss „… sich selber ohne Erbarmen erforschen – als ob er noch nichts über sich selbst wüsste.“

42 Vgl. Dürr 208 f. Ich münze diesen Begriff so auch auf Handke.

43 Goethes Werke. Herausgegeben von Erich Trunz. 14 Bde. (Hamburg 1948-1960), 8. neubearbeitete Auflage München 1973, Bd. 7, S. 83. – Vgl. Janz 323, der mit diesem Bild die soziale Unbestimmtheit des Dichters in Wilhelm Meisters Wunsch charakterisiert findet.

44 Pütz 2

45 Schütte spricht von einer „eigenwilligen, subjektiven Auseinandersetzung mit Deutschland (der BRD)“, hinter der „der klassische Stoff des Bildungsprogramms“ zurücktritt.

46 Vgl. auch p. 32: „Ich möchte nichts Bestimmtes sehen, bevor ich etwas schreiben will … und zum Schreiben muss ich mich ungestört und genau erinnern, sonst schreibe ich nur was Zufälliges.“ – Diese Bemerkung Wilhelms korrespondiert zu Handkes „ordentlicher Beschreibung unordentlicher Verhältnisse“ in Deutschland (Blumenberg).

47 Vgl. dies mit p. 13: Wilhelm zu Janine: „Ich möchte mich in jemanden verlieben.“ – Die Zusammenhänge werden Wilhelm später klarer: an die Stelle des Wünschens tritt das als Wollen definierte Bedürfnis.

48 Vgl. p. 72: Wilhelm will eine Geschichte schreiben, in der er beweisen will, „… dass Gutmütigkeit und Erbarmungslosigkeit zusammengehören. Ich glaube, es wird eine politische Geschichte werden.“ – Die Versöhnung von Politik und Poesie ist Wilhelms Sehnsucht bis zum Schluss, bevor er die richtige Bewegung macht, indem er auf der Zugspitze zuerst die in ihm selbst verankerten hemmend-subjektiven Prämissen für seine Selbst- und Weltfindung erforscht, ordnet und klärt.

49 Alle Zitate p. 52

50 Siehe p. 28

51 Pütz

52 Siehe p. 9; vgl. Pütz

53 p. 56: „… fürs Schreiben ist es besser, dass einem was auffällt, statt dass einem was einfällt.“ Vgl. damit p. 58, wo von der Wesensschau die Rede ist.

54 Vgl. Arnold 26 f.

55 „In der Kontemplation ist mehr Bewegung, als wenn jemand aufspringt und sich mit Zwischenrufen Luft macht … Nur die strenge und genaue Abstraktion wendet der Zuschauer auf sich und seine Umwelt an.“ (Peter Handke 1969 in der RIAS-Sendung „Prominente zu Gast“; zitiert nach Michaelis 96).

56 Das betrifft auch Handkes Selbstverständnis als Schriftsteller. Vgl. Arnold 32: „Warum wird nicht versucht zu denken, dass die Art Literatur, die ich schreibe, ja nichts Gegensätzliches ist zu der aktionistischen oder rein begrifflichen Auffassung von Gesellschaft, Individuum usw.? Als ob die Literatur, die ich mache, nicht auch dazu beitragen könnte, dieses ganze System von Begriffen, von Aktionen mitzubewegen. Als ob die subjektivis-tische Literatur, die ich mache, nicht auch als Korrektur, als ein Modell von Möglichkeit, Leben darzustellen, akzeptiert werden kann.“ (Vgl. auch Michaelis 84 über Handkes Aufsatz von 1967: „Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms“)

Vielleicht ein wenig überspitzt: Der Turm der „Lehrjahre“, den Handke als realistisches Symbol in der „Falschen Bewegung“ rezipiert, gehört zum richtigen Verständnis dessen, was er mit seinem Elfenbeinturm auch heute noch in Bewegung zu bringen versucht.

 

Literatur

Falsche Bewegung, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1975 (Drehbuch, geschrieben in Venedig, Juli/August 1973, für        den gleichnamigen Film von Wim Wenders, Herbst 1974.

         Veröffentlicht auch in: Suhrkamp-Literatur-Verzeichnis    Nr. 1/2. Programm, Frankfurt/Zürich/Wien September    1975, S. 4-25 (vollständiger Abdruck mit Standfotos der Wim Wenders Verfilmung)

 

Wilhelm Meisters Lehrjahre, Berlin 1795/96, 4 Bde.

Goethes Werke, herausgegeben von Erich Trunz, 14 Bde.

         (Hamburg 1948-1960), 8. neubearbeitete Auflage München      1973, Bd. 7)

 

Arnold, Heinz Ludwig: Gespräch mit Peter Handke. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Heft 24/24a, 3. Aufl. September 1976, 15-37 (Das Gespräch fand am 29.9.1975 statt.)

Blumenberg, Hans C.: Deutschlands tote Seelen. Film: Peter Handke und Wim Wenders auf Wilhelm Meisters Spuren. In: Die Zeit, 21.3.1975

Buselmeier, Michael: Das Paradies ist verriegelt. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Heft 24/24a, 3. Aufl., September 1976, 57-62

Dürr, Volker: „Wilhelm Meisters Lehrjahre“: Hypotaxis, Abstraction and the „Realistic Symbol“. In: Versuche zu Goethe. Festschrift für Erich Heller zum 65. Geburtstag am 27.3.1976, hg. v. Volker Dürr und Géza  von Molnár, Heidelberg 1976, 201-211

Fernsehspiele Westdeutscher Rundfunk. Januar – Juni 1976. WDE-Pressestelle Köln. (Auf S. 155 ausführliche Daten zum Film „Eine falsche Bewegung“)

Janz, Rolf-Peter: Zum sozialen Gehalt der „Lehrjahre“. In: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie, Festschrift für Wilhelm Emrich, hg. vom Helmut Arntzen, Bernd Balzer, Karl Pestalozzi und Rainer Wagner, Berlin / New York 1975, 320-340

 

Jeremias, Brigitte: Die hoffnungslose Jugend der siebziger Jahre

In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1975

Lukács, Georg: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1936). In: G. L., Goethe und seine Zeit, Berlin 1955, 55-73

Michaelis, Rolf: Ohrfeigen für das Lieblingskind. Peter Handke und seine Kritiker. Eine Beispielsammlung. In: Text + Kritik, Zs. f. Lit., Heft 24/24a, 3. Aufl., September 1976, 80-96

Niehoff, Karena: Tote Seelen, blutendes Fleisch. „Falsche Bewegung“, ein Film von Wim Wenders nach einem Drehbuch von Peter Handke. In: Der Tagesspiegel, 23.3.1975

Pütz, Peter: Schläft ein Lied in allen Dingen. In: Suhrkamp-Literatur-Zeitung Nr. 1/2. Programm, Frankfurt/Zürich/Wien, September 1975, S. 1-2 (auf S. 4-25 Abdruck von Peter Handkes Filmerzählung „Eine falsche Bewegung“)

Schütte, Wolfram: Träumerei oder Weg nach Innen. „Falsche Bewegung“ von Wim Wenders nach Handkes Wilhelm-Meister-Drehbauch. In: Frankfurter Rundschau, 25.4.1975

Storck, Joachim W.: Das Ideal der klassischen Gesellschaft in „Wilhelm Meisters Lehrjahren“. In: Versuche zu Goethe. Festschrift für Erich Heller zum 65. Geburtstag am 27.3.1976, hg. v. Volker Dürr und Géza Molnár, Heidelberg 1976, 212-234

Storz, Gerhard: Wieder einmal die „Lehrjahre“. In: Versuche zu Goethe, Festschrift für Erich Heller zum 65. Geburtstag am 27.3.1976, hg. v. Volker Dürr und Géza von Molnár, Heidelberg 1976, 190-200

Zürcher, Gustav: Leben mit Poesie. In: Text + Kritik, Zeitschrift für Literatur, Heft 24/24a, 3. Aufl., September 1975, 38-56