Der Markt, eine platonische Schnapsidee

 

Welchen Sinn hat es, ausgerechnet in einem Blog über ein solch steinaltes philosophisches Konzept wie die platonische Ideenlehre nachzudenken? Eine rein akademische Turn- und Fingerübung ohne jeden praktischen Nutzen? Oder hat uns das Höhlengleichnis im sokratischen Dialog Politeia doch noch irgendetwas zu sagen? Vielleicht eine heimliche Aktualität, verborgen unter dem Staub der Jahrtausende?

Platon stellt unsere sinnlich wahrnehmbare Welt als die unvollkommene Welt der vergänglichen, materiellen Dinge dar. Diese sind die Abbilder, die Schatten der Ideen, des eigentlich Seienden. Und eben diese Ideen sind ewig, beständig, unwandelbar und, leider, nur rein geistig zu erfassen.

Sie haben keine schnöde Art der Existenz wie es ein Stuhl oder Tisch hat. Ideen sind vollkommen. Und vollkommen geistiger Art. Doch wie hat sich dies der nun mal geistig etwas limitierte Mensch, also ich, vorzustellen? Wie soll dieses Sein sein? Haben die Ideen etwa eine vom Menschen gänzlich unabhängige Existenz? Setzt die Existenz der Ideen überhaupt die Existenz des Menschen voraus? Und wie ist das mit der Idee des ‚Menschen’ selbst? Kann es sie geben, ohne dass es den vergänglichen Menschen je gab, gibt oder geben wird? Und wenn ja: Wer oder was soll dann bloß diese rein geistige Idee konstituiert haben? Ein Gott? Unser Gott womöglich?

Theoretisches, philosophisches Gefasel? Verquastes Gemurmel? Mitnichten. Denn auch wenn in der Historie niemand mehr so recht daran glauben wollte, dass es ewige, präexistente Ideen gibt, die den vergänglichen Dingen ein Vorbild sind, so zündete doch der Funke im Hochmittelalter, der Vermittlung der griechischen Philosophie durch arabische Denker wie Avicenna und Averroes sei Dank. Und entfachte den sogenannten Universalienstreit der Scholastik, einer der wohl wirkmächtigsten intellektuellen Auseinandersetzungen des Abendlands.

Im Prinzip kreisten die gelehrten Disputationen um die Frage, ob denn auch die Allgemeinbegriffe, besagte Universalien, analog zu den Dingen eine eigene Seinsqualität besitzen oder eben nicht. Eine Frage, die, in vielfältiger Ausgestaltung, seitdem bis heute diskutiert wird.

Mensch’ ist solch ein Allgemeinbegriff. Der konkrete Mensch, der vor mir steht, existiert. Ganz offensichtlich. Existiert aber auch der ‚Mensch’ als solcher, über den ich mir seit geraumer Zeit so meine Gedanken mache? Oder existiert der nur in meinen Gedanken? In dem Moment, wo ich ganz allgemein über ihn spreche, spreche ich von ihm als ein abstraktes Etwas, nicht aber als eine konkrete Person: Dieser ‚Mensch’ existiert nur gedanklich, jener Mensch jedoch tatsächlich.

Klingt ja alles ganz putzig. Aber wo ist die praktische Relevanz? Die zeigt sich ganz schnell, wenn man sich einmal einige andere Allgemeinbegriffe anschaut. Und den Gedanken konsequent zu Ende denkt:

Zum Beispiel: ‚Staat’, ‚’Kirche’ oder auch ‚Markt’. Alles sind sogenannte Allgemeinbegriffe. Universalien. Abstrakte Entitäten. Und da diese ja, wie gesehen, zum einen nur gedanklich existieren, und zum anderen, anders als ‚Mensch’, ‚Stuhl’ oder ‚Tisch’, kein real existierendes Pendant haben, bedeutet das nichts weniger als:

Es gibt keinen Staat, keine Kirche und auch keinen Markt.

Ein unerhörter Gedanke. Aber so ist es. Der Markt, ein von Menschen geschaffenes gedankliches Hilfskonstrukt, das mir, als Begriff, äußerst nützliche Dienste in der täglichen Kommunikation leistet. Aber eben doch ein Hilfskonstrukt bleibt, bei dessen beeindruckenden Möglichkeiten, die es einem bietet, man nie vergessen darf, dass es sich eben nicht um ein real existierendes Etwas handelt. Real existieren tun allein wir, die Marktteilnehmer.

„Das Allgemeine gehört nicht zum Bereich der existierenden Dinge, es ist vielmehr Erfindung und Produkt des Verstandes, der es sich für seinen eigenen Gebrauch herstellt.“ John Locke, An Essay concerning Human Understanding, (1690)

Es gibt keinen Markt, es gibt immer nur die in verschiedenen, überaus komplexen Kontexten sozial interagierenden Menschen, deren Handlungen sich im Laufe der Zeit dann als das manifestieren, was wir der einfacheren Verständigung zuliebe als ‚Staat’, ‚Kirche’ oder auch ‚Markt’ bezeichnen.

Nur: Wenn es keinen real existierenden Markt gibt, dann gibt es auch keine obskuren und doch immer wieder gerne beschworenen Selbstheilungskräfte des Marktes. Denn was nicht ist, kann sich schlecht selbst heilen. Oder empfindlich reagieren. Das können lediglich die Marktteilnehmer. Also wir.

Der Markt ist kein unabhängig von uns Handelnden existierendes Substrat. Er existiert allein im Moment unseres kollektiven Handelns. Und nur dann. So wie es ja auch bei der Sprache der Fall ist. Was übrigens schon Wilhelm von Humboldt wusste.

Stereotype wie ‚Marktgesetze’ oder ‚Selbstheilungskräfte des Marktes’ suggerieren uns aber, dass es ein außerhalb und unabhängig von uns Handelnden existierendes Etwas, eine platonische Chimäre namens ‚Markt’ gibt. Und wenn der Markt bei der einen oder anderen Krise taumelt, geht Wirtschaft und Wissenschaft nur zu gerne davon aus, dass er nicht uns folgt, sondern inhärenten Gesetzmäßigkeiten. Der hübsche Nebeneffekt: Da, wo ganz fatalistisch die Mathematik mit unerbittlicher Strenge und Stringenz regiert, bin ich raus aus der persönlichen Verantwortung und Verantwortlichkeit.

Wir lassen uns von der Sprache nun mal gerne am Nasenring durch die Manege führen. „Reine Verstandesbegriffe sind Fiktionen“, so Franz von Brentano. Was nicht weiter schlimm wäre, wenn nicht die Menschen generell dazu neigen würden, Fiktionen für bare Münze zu halten.

 

 

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Essays von Stefan Oehm, KUNO 2003

Die Essays von Stefan Oehm auf KUNO kann man als eine Reihe von Versuchsanordnungen betrachten, sie sind undogmatisch, subjektiv, experimentell, ergebnisoffen. Er betrachtet diese Art des Textens als Medium und Movens der Reflektion in einer Zeit, die einem bekannten Diktum zufolge ohne verbindliche Meta-Erzählungen auskommt. Der Essay ist ein Forum des Denkens nach der großen Theorie und schon gar nach den großen Ideologien und Antagonismen, die das letzte Jahrhundert beherrscht haben. Auf die offene Form, die der Essayist bespielen muss, damit dieser immer wieder neu entstehende „integrale Prozesscharakter von Denken und Schreiben“ auf der „Bühne der Schrift“ in Gang gesetzt werden kann, verweist der Literaturwissenschaftler Christian Schärf. Im Essay geht die abstrakte Reflexion mit der einnehmenden Anekdote einher, er spricht von Gefühlen ebenso wie von Fakten, er ist erhellend und zugleich erhebend.