Nachbarschaftsfest

Ein altes Sprichwort sagt, man soll Feste feiern, wie sie fallen, ein anderes verhohnepiepelt das Ganze zur Doppelbödigkeit, die nur lautsprachlich zu verstehen ist, man soll FESTE feiern. Trotzdem wird meistens vorher lang angelegt geplant, wird die Infrastruktur geschaffen, da muss die Bierzeltgarniturensammlung herangeschafft werden, der DJ, der Bierwagen oder die Zapfanlange, der Grill und jeder sollte schon einen Salat zum Gelingen mitbringen, nicht zu vergessen muss auch der Ort sorgsam ausgewählt sein. Feste gehören zu unserer Kultur wie Beerdigungen und das nachfolgende Kaffetrinken, das in ländlichen Gegenden meist recht lustig endet, erzählt man sich doch Geschichtchen und Erlebnisse aus der Vergangenheit und hebt im Verlauf des Nachmittags gerne eine paar Bierchen und Schnäpschen. So gesehen bewahrheitet sich auch hier der oben erwähnte Spruch.

Herr Nipp hatte lange in der Badewanne gesessen, sich von der Wärme umspülen lassen und gerade als er anfing einen Brief zu schreiben (auf Papier, ganz altmodisch mit Aufziehfüller), meldete sich das mobile Telefon, die vertraute Stimme fragte, ob er Zeit habe. Ja, natürlich, solange man lebt, hat man Zeit, seine ehemalige, esoterisch engagierte Kunstlehrerin hatte es folgendermaßen formuliert: „Wir haben keine Zeit, wir sind Zeit.“ Da er also Zeit war, hatte er sie auch. „Wir kommen in fünf Minuten vorbei und holen dich ab, wir gehen zum Straßenfest…Da spielt doch …“ Ja, hatte ich ganz vergessen, ist denn auch, äh…?“ „Ja, ist auch da, kommt gerade von einem Dreh…“ „Gebt mir noch eine viertel Stunde.“

Herr Nipp schrieb den Brief noch schnell zu Ende, am nächsten Tag würde er die Muße dazu sicherlich nicht finden, zog sich an und hörte die drei schon vor dem Haus ihr munteres Gespräch führen, immer wieder unterbrochen von gekichertem Gekiekse oder lautem Basslachen, sie hatten gute Laune und Herr Nipp würde sich mitreißen lassen, würde den recht seltsam verspielten Humor genießen. Nur wer sich darauf wirklich einließ, konnte das. Die Klingel wurde vom Summen des Öffners abgelöst, die drei stürmten die Wohnung und drängten auf Eile, es sei schließlich schon spät. Kritisierten im Vorbeigehen die Änderungen in den Räumen.

Ein paar hundert Meter weiter hörte man schon die typische Straßenfestmusik, eine gesunde Mischung aus aktueller Musik und Oldies, für jeden etwas dabei. Um die letzte Ecke biegend, sah man schon eine Anzahl von Menschen um den Bierwagen versammelt und der Hauch von Bratwürstchen wehte heran. Menschen hatten sich hier versammelt von zehn bis achtzig, teilweise spielend, teilweise in freundlicher Unterhaltung, eigentlich ein Traum von Harmonie und Frieden. Eigentlich unglaublich, dass dies jedes zweite Jahr stattfand, immer ohne Randale, organisiert von fünf, sechs Paaren, bis spät in die Nacht, eine ganze Spielstraße dafür abgesperrt. Die Bedienung war unglaublich freundlich – eben nette Nachbarn, der DJ hatte immer etwas zu trinken vor sich stehen, ge- bracht von ihn anhimmelnden Nachbarinnen, die sich nebenbei ihre Lieblingslieder wünschten. Die Gruppen wechselten immer wieder, da sprach eine Enddreißigerin mit einem Siebziger, scherzten Jugendliche mit Erwachsenen, unterhielten sich Migranten (Alle Menschen, die von weiter als zwanzig Kilometer „weg kommen“.) und Einheimische. Ernsthaft und doch…

Später lagen sich sogar einige der sonst eher reserviert erschei- nenden Männer in den Armen, noch später wurde ein Geburtstagsständchen gesungen – von allen. Viel später, als Herr Nipp schon wieder zu Hause war, wünschte er sich ganz bürgerlich, auch auf seiner Straße wäre so etwas möglich.

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421