Man hatte ihn abgeschoben. Bewusst, kein Platz mehr. Auf den Flur, kein Arbeitsraum, er saß an einem einfachen Tisch auf einem schlichten Stuhl, ohne Kommunikationsverbindungen, kein Telefon, kein Internet, sogar die mobile Foniereinheit war stark empfangsgestört, durch die dicken Wände unbrauchbar. Der Gang war behördenschmal, gerade mal zwei Meter, dafür über sechzig lang, geeignete Ausmaße um stetige Zugluft zu erzeugen – ein Erkältungskatalysator. Er fühlte sich ausgegrenzt und war zunächst unglücklich über diese unerträgliche Situation, von einer solchen hatte vorher hier wohl niemand gehört. Nun saß er da mit seinem Stapel von Akten und begann diese stupide und ermüdende Arbeit, Wort um Wort, Zeile für Zeile, Blatt um Blatt. Ordner um Ordner. Dabei hatte er sich in der Jugend die Arbeit immer als ein spannendes Abenteuer vorgestellt. Aber es ging nun zügig, er wollte möglichst schnell fertig werden, wollte einen Abschluss finden, jeden Tag, denn der Flur war still, gespenstisch still. In solchen Situationen werden die Sinne sensibilisiert, jedes Geräusch gewinnt an Bedeutung, jeder Laut wird zu einer Leiter, die man besteigen kann, um aus dem Loch zu gelangen.
Die ersten Tage kümmerte sich Herr Nipp nur um seine Akten, ganz bewusst. Schon am dritten Tag aber lehnte er sich ab und zu zurück, schloss die Augen und legte seine gesamte Aufmerksam- keit in das Hören. Zunächst undechiffrierbare Lautagglomerate, also lose Zusammenballungen von Wortteilen. Schnell aber verstand er Zusammenhänge, hörte den Leuten in ihren Büros bei Telefongesprächen zu oder den Konferenzen der Führungsetage. Er erkannte, dass es entgegen seiner Erwartung sogar ein Privileg war, gerade hier im Flur zu arbeiten, diese Informationen würde er eines Tages zu seinem Vorteil nutzen…
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421