Klarheit

An bestimmten Tagen stehen die Bedeutungen klar im Raum, man weiß, was passieren wird, besser noch und wichtiger, man versteht, was passiert ist. Mit einem selber, mit ganzen Zusammenhängen von Situationen. Durchblick haben. Es mag vielleicht etwas damit zu tun haben, dass das Wetter gerade sein Optimum erreicht hat, es stimmt einfach. Die Sonne scheint und trotzdem ist die Luft klar, nicht staubig, nicht schwül. Herbstwetter. Kein Streulicht stört die Fähigkeit zu sehen, alles steht klar umrissen vor Augen. Plötzlich können die Dinge zueinander in Beziehung treten.

Herr Nipp hatte sich schon seit Tagen darüber Gedanken gemacht, warum immer wieder eine seiner Beobachtungen einer zunächst unbedeutenden Kleinigkeit zum Ausgangspunkt ganzer Assoziationscluster wurde. Von außen betrachtet als Verschrobenheiten zu benennen. Niemals sah er sich in der Lage, beim Dingthema an sich zu bleiben, immer musste er fast zwanghaft ganz unwissenschaftlich abschweifen, andere Bezüge herstellen, die ganz weit außerhalb lagen, Verwicklungen. Er verglich die grundsätzlichen Schwierigkeiten der europäischen Währung und der Währungswechselsysteme mit der Beziehung von Ameisen und Läusen an einem langsam vertrocknenden Busch. Geriet dabei langsam ins Mikrobielle und verstrickte sich letztlich in der Frage, warum der Grundwasserspiegel so stark gesunken ist. Verglich die Zuwachsraten der Autoindustrie mit einem Zierrasen, der nur in den Wachstumsmonaten von April bis Oktober regelmäßig geschnitten wird, kam darüber zu den Faulgasen des sich zersetzenden Schnitts auf dem Komposter und landete schließlich bei der Erkenntnis, dass Rasenbesitzer, die eigentlich für das Klimaloch verantwortlich waren, weil sie sich weigerten, Gasgewinnungsanlagen in ihren Gärten zu bauen, endlich eine Faulgassteuer zu entrichten hätten. Nicht dass irgendjemand davon auch nur ansatzweise Notiz genommen hätte, er hütete seine Gedanken im kleinen Gehirn, wie die Amerikaner das Gold in Fort Knox, beide weil sie nicht verstanden, dass Behütetes und Verstecktes keinen Nutzen bringt.

An diesem Tag aber schien ihm alles klar zu sein. Er nahm sich einen Block mit Spiralbindung und begann die Ideen zu notieren. Sie gerieten ihm zu hermetischen Gedichten voller Chiffren.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019

Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.

Weiterführend → 

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.

Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421

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