Meine Kindheit war geprägt durch mein Aufwachsen in einer bürgerlich-konservativen Großfamilie (zehn Kinder) auf dem Land, durch das Eingebettetsein in tief verankerte religiöse Grundsätze, die sich streng nach der Lehre der römisch-katholischen Kirche richteten und davon abgeleitet waren. Darüber hinaus durch das vorgelebte Beispiel einer tiefen Frömmigkeit der Eltern und eines bekenntnishaften, lebensprägenden Christentums. Dies auch in der Zeit des kirchenfeindlichen Nationalsozialismus, in der mein Vater als vorheriger christlichsozialer (Ständestaat-) Bürgermeister stets unter Beobachtung der NS-Regimeträger im Ort stand und somit permanent gefährdet war.
Die beiden ältesten Brüder – Max (imilian) und Sepp (Josef) – wurden in ganz jungen Jahren vom Gymnasium weg zur Wehrmacht eingezogen und mußten in den Krieg, Max nach Rußland, Sepp nach Belgien und Frankreich. Das bedeutete, daß die Familie ständig in Angst und Sorge um sie war, vorallem nachdem sie in Gefangenschaft geraten waren und wir lange Zeit keine Nachricht von ihnen hatten. Diese Bedrückung, sowohl in der NS-Kriegszeit, als auch bezüglich meiner „vermißten“ Brüder spürte ich deutlich, auch als Kind. Etwas Schweres, Bedrohliches lastete auf der ganzen Familie, ließ kaum jemals Fröhlichkeit aufkommen. Fröhlichkeit und unbekümmerte Lebensfreude waren in unserer Familie sowieso nicht das Bestimmende, sondern das waren eher die Sorgen, der Ernst, die Strenge, die Disziplin, der Gehorsam, das Sichfügen in alles, was man uns vorschrieb. Meine Kindheit war keine helle, sondern eine eher verdunkelte Welt, eine des Sichbescheidens, des Verzichtes, der Pflicht anstatt der Freude. Und sie war – mit dem Beginn der Pubertät immer schärfer und unerträglicher als solche empfunden – eine Welt der Normen und Verbote, der Drohung und Unterdrückung; eine katholisch-reaktionär-repressive Gefängniswelt.
Mit zehn Jahren schon kam ich in die Fremde, wurde ich herausgerissen aus dem bisherigen gewohnten Lebensumfeld, aus der schützenden und wärmenden Geborgenheit der Familie, aus meinem Mitschüler-Freundeskreis, aus der mir vertrauten Ortsgemeinschaft, auch aus meiner Mühlviertler Landschaft. Das war ein Bruch, ich empfand das als einen brutalen Verfügungsakt gegen mich. Ich kam in ein katholisches Internat und bischöfliches Gymnasium (Kollegium Petrinum) in der Landeshauptstadt Linz. Alle Studenten, eigentlich Schüler, dort sollten Priester werden, sollten auf diesen Beruf von klein auf vorbereitet werden. Dementsprechend war auch die klerikal-strenge Atmosphäre dort. Schon mein Vater war sechs Jahre in diesem Haus gewesen, zwei meiner Brüder waren schon dort, als ich 1949 in die erste Klasse kam. Ich wollte eigentlich nicht dorthin, ich wollte kein Priester werden. Aber man wurde ja nicht gefragt, es wurde über einen bestimmt und verfügt. Basta! Ich litt in der Masse der Buben und Burschen gerade unter dieser Massenerziehung und unter der Entindividualisierung. Man war nur eine Nummer, man hatte eine solche – meine war die Nummer 123 – auf allen seinen Wäschestücken aufgenäht. Ich litt weniger unter Heimweh, doch sehr unter einer inneren Isolation und unter dieser befohlenen Integration in eine – von mir von Anfang an abgelehnte – Zwangsgemeinschaft. Ich hatte Angst vor den Lehrern und Erziehern, manche haßte ich. Denn wiederum war nur Strenge und Disziplin „das oberste Gebot“. Es gab keine Wärme, keine menschliche Zuwendung. Und man war ja doch noch ein kleiner Bub. Zudem fiel mir das Lernen schwer, vorallem in den Fächern Latein, Griechisch, Mathematik. Ich hatte dafür nicht die nötige Begabung; ich konnte mir nichts für lange merken. Und Mathematik verstand ich einfach nicht. Aus meiner Ablehnung wurde innerer Widerstand, der sich im „Aufbegehren“, im „Frechsein“, wie es in meinem Führungszeugnis stand, ausdrückte, und dann eine allgemeine Lernverweigerung zur Folge hatte. Ich wollte weg aus dieser Erziehungsanstalt, aus dieser von Bildungsfanatismus geprägten „Eliteschule“. Also machte ich auf Verweigerung. Das Ergebnis: Kein schulischer Erfolg, Klasse wiederholen. Das bedeutete: Schande! Schande, die ich meinen Eltern machte, wie sie sagten. Das bedeutete – nach zweimaliger Klassenwiederholung – ein absoluter Versager, ein Nichtsnutz, eine Schande der Familie, fast ein Ausgestoßener, auf jeden Fall ein Aussätziger zu sein. Der Persönlichkeitswert als Mensch wurde vom schulischen Erfolg abgeleitet und bestimmt. Bei schulischem Mißerfolg wurde einem dieser Wert abgesprochen und einem die Anerkennung als Mensch verweigert. Man wurde zum Niemand, in der Familie, bei seinen Geschwistern, überhaupt. So fühlte ich mich jedenfalls: abgeurteilt, wertlos. Was hat ein solches Ichgefühl für die Persönlichkeitsentwicklung eines jungen Menschen zur Folge? Heute weiß ich es. Alle jene, die an mir pädagogisch herumgepfuscht haben, hätten es damals wissen und aufgrund dessen anders mit mir umgehen müssen.
Vom Kollegium Petrinum kam ich in die Missionsschule Dachsberg (OÖ), wo es schulisch und disziplinär leichter war. Das Internat war ein altes Schloß, befand sich auf dem Land, in unberührter Natur und schöner Landschaft. Es gab keinen Massenbetrieb, sondern nur vier Schulklassen, nur Untergymnasium. Präfekten und Lehrer waren Ordenspatres, vom Orden der Salesianer. Das Leben in der Missionsschule Dachsberg war einfach, die Kost miserabel, die Freizeitgestaltung gut. Es gab verständnisvolle und nachsichtige Patres, gute und schlechte Präfekten und Lehrer, gebildete und weniger gebildete; es gab aber auch neurotische unter ihnen, ja sogar einen Gewalttätigen, der die Schüler mit einem Holzstock schlug, so daß diese sogar bei den Schlägen an den gequälten und geschändeten Körpern zerbrachen. Ich habe ihn beim Landesschulrat von Oberösterreich schriftlich angezeigt, mit fünfzehn Jahren. Und er wurde aus der Schule entfernt. Es gab Heuchelei, pädophile Annäherungsversuche eines Priesters, Schweigen und Vertuschung, sträfliche Naivität und Blindheit, pädagogische Inkompetenz, Fanatismus, Verlogenheit, aber auch, wie zum Beispiel beim Pater Regens, eine weltmännische Aufgeschlossenheit; alles je nach der Persönlichkeit der verschiedenen Patres. Das Erziehungssystem war nicht so restriktiv wie im Petrinum, man war keine Eliteschule, sondern ein einfaches Ausbildungsinstitut und – wie in meinem Fall – auch ein Auffanglager für Gescheiterte. „In Dachsberg schaffst du es“, war der bekannte Spruch unter den schlechten Schülern der unteren Klassen in Oberösterreichs Gymnasien. Denn Dachsberg war eine Schule mit einer anderen Zielsetzung als die übrigen, nämlich jener, einmal im praktischen Leben seinen Mann (als Missionar) zu stellen. Man bekam auch eine handwerkliche „Ausbildung“ bzw. Grundkenntnisse in der Landwirtschaft. Das fand und finde ich heute noch gut. Viele Buben waren aus bäuerlichem Milieu. Auf Intellektualität legte man keinen so großen Wert. Diese Einfachheit, Lebensnähe, die Weltoffenheit gefielen mir.
Nach Beendigung der vierten und somit letzten Klasse an dieser Schule ging ich nach Tirol, nach Solbad Hall, in diese historisch-traditionsreiche Kleinstadt am Inn, zehn Kilometer von Innsbruck entfernt, mit der es durch eine Tramway verbunden war. Ich besuchte dort das Stadtgymnasium, das unter Führung von Franziskanerpatres, die wir auch als Lehrer hatten, stand. Ich wählte dieses Gymnasium, weil ich wußte, daß man dort auch als Externer die Schule besuchen konnte. Das erste Jahr war ich noch im Franziskaner-Schülerinternat Leopoldinum, das aber auch keine so hermetisch abgeschlossene Erziehungsanstalt wie das Kollegium Petrinum war. Ab der sechsten Klasse war ich dann endlich „frei“; d.h. ich nahm mir eine „Bude“ (ein einfaches Zimmer) bei einer „Wirtin“ (Vermieterin) und besuchte als Externer das Gymnasium. Die schulischen Anforderungen waren im Haller Gymnasium höher als jene in Dachsberg. Das System war offener und durchlässiger, weil unkontrollierter und unkontrollierbarer. Man hatte die Freiheit zu tun und zu lassen, was man wollte, solange nichts allzu Aufregendes öffentlich wurde. Man mußte sich jetzt aber ganz allein auch um seine eigenen Belange kümmern, vorallem darum, wie man ökonomisch zurechtkam. Das bedeutete eine Umstellung und Herausforderung, die ich aber im Gegenzug für die endlich gewonnene Freiheit gerne annahm. Bald schon gab es im schulischen Bereich mit zwei Professoren die ersten Reibereien, auch deshalb, weil ich mir nichts mehr gefallen ließ, sondern offen und öffentlich meine Meinung äußerte. Das hatte repressive Gegenmaßnahmen zur Folge, Einschüchterung, Unterdrückung, schlechte Noten. Ich mußte nach einer Nachprüfung, in der mich ein empörend widerlich schikanierender Lateinprofessor, ein Neurotiker par excellence, ungerechterweise „durchfallen“ ließ, nochmals, also zum dritten Mal, eine Klasse wiederholen. Wieder die Schande, die Schmach, die entsprechenden Reaktionen bei meinen Eltern und Geschwistern. In meiner Erinnerung bis heute unauslöschlich der damalige Ausspruch meines Super-Philosophenbruders: ich sei „der Kretin der Familie“. Na herrlich! Ich schaffte mit Ach und Krach die Matura, im zweiten Anlauf. Ich hatte zu der Zeit schon andere Sorgen, nämlich die, ob meine „Verlobte“ schwanger von mir sei oder nicht. Sie war es Gott sei Dank dann doch nicht, jedenfalls damals noch nicht und kurze Zeit später auch nicht vor mir, sondern vom in den Ort zugezogenen Zuckerbäckerburschen. Das war für mich Treuebruch, Vertrauensbruch, Erschütterung meines Glaubens. Was meinen Glauben betraf, den an die Katholische Kirche und überhaupt, so war der sowieso nicht mehr „blind“. Ich glaubte immer weniger, weder der ständigen Verkündigung und Einmahnung der moralischen Grundsätze, noch dem wortreichen, blumigen, pathosbeladenen, doch nur hohlen Gerede der „Pfaffen“ (Priester). Ich hatte es satt, daß man mir ständig in mein Leben hineinredete und hineinpfuschte, dieses beurteilte und mich verurteilte. Ich wollte endlich frei sein, in meinem Denken, in meinem Handeln, in meiner Lebensführung. Das war natürlich nur ein Wunschtraum, denn ich war ja geprägt von meiner Erziehung; und sich davon zu lösen und sich einfach so davon zu verabschieden, war nicht so einfach. Es gab noch nichts (Vollständiges), was ich anstelle des Alten setzen konnte. Und ich war abhängig, ökonomisch jedenfalls noch, wenn auch nicht ganz, und somit war ich nicht frei.
In Tirol, wo ich mich nie wirklich wohl, weil immer fremd und nicht dazugehörig gefühlt hatte, allein schon wegen der sprachlichen Divergenz (Dialekt!) und wegen der mentalitätsmäßigen Unterschiede – nirgendwo sind Engstirnigkeit und Chauvinismus so verbreitet und als „Volkskultur“ so verlogen verankert wie in Tirol! – wollte ich auf keinen Fall bleiben, auch wenn ich in Innsbruck zwei Schwestern ansässig hatte. Nein, mich zog es nach Wien, ich wollte dort studieren; am besten etwas „Ausgefallenes“. Also ging ich im Herbst 1960 nach Wien und inskribierte Theaterwissenschaft im Hauptfach. Theater hatte mich schon immer interessiert, ich war oft und gerne ins Theater gegangen. Theaterwissenschaft aber hatte mit dem lebendigen Theater nichts zu tun und war, wie ich bald feststellen mußte, das absolut falsche Studium, weil nur historisierend und ohne jede Berufsausbildung; nur ein Luftstudium!
In Wien war alles ganz anders. Da war ich plötzlich in einer Großstadt, auch wenn das Leben damals noch nicht so pulsierte wie heute. Es war 1960 und somit erst 15 Jahre nach Krieg und NS-Herrschaft. Das alles wirkte noch nach. Verdrängung, Verlogenheit, jetzt in dem, was die eigene Geschichte betraf. Meine Zimmerwirtin (Zimmervermieterin) sagte einmal – aus reiner Provokationslust, aber mit voller Überzeugung – nachdem sie gerade von der Sonntagsmesse heimgekommen war: „Der Hitler hat sowieso viel zu wenig Juden wegputzt (ermordet)!“. Eine Nazikatholikin 1960 in Wien! Ich bewohnte – von Wohnen kann man nicht sprechen – eine ca. 5-6 qm „große“ Kammer, eigentlich ein Küchenabteil, ausgestattet nur mit Bett, Tisch, Stuhl und einem kleinen Bücherregal, in einer Mansardenwohnung unter dem Dach; ohne Heizung und warmes Wasser. Es waren miserable Verhältnisse. Und ich mußte gleich nach meiner Ankunft in Wien eine Arbeit finden, um mein Studium und mein Leben mitzufinanzieren. Ich fand eine Anstellung bei einer Tankstelle und machte diese Arbeit – auch jedes Wochenende hindurch – mehr als fünf Jahre lang. Trotz der schwierigen Umstände gefiel es mir sehr in Wien. Die Stadt und ihre historische Erscheinung und Bedeutung beeindruckte mich. Und daß es so viele Menschen verschiedener Herkunft gab. An der Universität fühlte ich mich eigentlich immer unwohl. Trotz besten Studienerfolges – ich studierte fleißig und gern – fühlte ich mich eigentlich deplaziert. Ich war kein Städter, ich war vom Land. Ich hatte Komplexe. Ich konnte ja nicht einmal richtig Hochdeutsch sprechen. Immer merkte man meinen Dialekt mit seinen verschiedenen Färbungen. Und ich war ziemlich ärmlich gekleidet. Jedenfalls konnte ich mir nichts leisten. Erst sehr viel später glichen sich alle diese Unterschiede aus, und ich integrierte mich in dieser Stadt, ohne mich freilich je als „Wiener“ zu fühlen; dies bis heute nicht. Die Mentalität und Lebenskultur „der Wiener“, jetzt einmal so verallgemeinert, und wie sie sich – vorallem zum Außenstehenden – verhalten, ist mir nicht sympathisch. Ich begegne dem mit Skepsis. Eine gewisse Falschheit und Verlogenheit, übertüncht mit sich anbiedernder Freundlichkeit stellte ich immer wieder fest. Ich mag das nicht. Ich mag lieber eine klare Konfrontation, nicht dieses Verbogene, Nebulose, Unverbindliche, Trügerische, Hinterhältige.
Das Wichtigste in meinem neuen Leben in Wien war: Ich war zwar völlig auf mich selbst gestellt, doch ich war frei! Ich konnte (fast) tun und lassen, was ich wollte. Niemand kontrollierte mich mehr, niemand konnte mich kontrollieren. Das erste Jahr war ich noch ziemlich isoliert, fühlte mich auch manchmal sehr allein. Kontakte ergaben sich im Haus der Katholischen Hochschulgemeinde, die sehr aufgeschlossen war. Ich ging dort fast täglich in die Mensa essen. Es war billig, genügend und gut. Dort traf ich junge und auch ältere geistig wache und interessierte Menschen, z. B. auch Kollegen meines Philosophenbruders Fridolin, mit denen ich reden und diskutieren konnte. Denn alles Problematische interessierte mich brennend: Religion, Philosophie, Politik, Gesellschaft, Geschichte, Kultur. Ständig war ich auf Begegnungen und Auseinandersetzungen aus, mit Menschen, ihren Ideen, ihren Einstellungen, ihren Haltungen. Vorallem interessierten mich KollegInnen aus anderen Ländern, die in Wien studierten, und solche aus anderen Wissenschaftsgebieten und mit anderen Studienrichtungen als den meinen. Ich war neugierig, offen, gesprächsbereit, leidenschaftlich im Gespräch und im Leben. Mich interessierte die Stadt, ich erfreute mich an ihrer Architektur. Mich interessierten Randbereiche, sowohl topographisch, als auch in Bezug auf Lebensgeschichten und Lebensführung. Mich interessierten besonders die Mädchen und Frauen; und andere Menschen, die nicht intellektuell waren, sondern „einfach“, Alltagsmenschen sozusagen, aber nur dann, wenn sie etwas Besonderes an sich hatten und ausstrahlten. Immer interessierte mich das Anderssein mehr als das „Normale“. Immer mehr rückte ich auch selber hinaus von der bisher eingenommenen Mitte hin zum Rand, an die Peripherie, an Grenzen. Ich beschäftigte mich vorallem mit dem Existentialismus (Sartre, Camus). Ich distanzierte mich immer mehr von allem Katholischen, stand dem Katholizismus und seiner dogmatischen Lehre in immer schärferer Konfrontation und individueller Gegenposition gegenüber, vorallem der katholischen Sexualfeindlichkeit; dies jedoch bei einer immer noch vorhandenen emotionalen Restbindung an diese mir vertraute Welt.
Immer mehr und immer konsequenter lehnte ich alles Bisherige ab, jeden vorgezeichneten Weg, den andere gingen und den sie auch mir zudachten, wie dies vorallem bei meinen Eltern der Fall war. Sie gaben ihre „Bekehrungsversuche“, die ich als Übergriffe auf meine Person und meine persönliche Souveränität ansah, einfach nicht auf. Das hatte jahrelange Auseinandersetzungen zur Folge und eine gewisse Entfremdung. Ich fühlte mich daheim nicht mehr zu Hause. Ich wollte nicht mehr in diesem Gefängnis dort sein und verbleiben. Also ging ich auf Reisen, per Autostop oder mit meinem Moped, oft wochenlang. Ich fand Unterschlupf bei Freunden, dort wo das möglich war. Ich hatte einige Freunde in Wien gewonnen. Wir bildeten eine bunt zusammengewürfelte Gruppe, trafen uns des öfteren da oder dort. Aus Begegnungen wurden neue Beziehungen, auf kurze Zeit oder auch für eine längere Dauer. Vorallem der kärntnerslowenische Maler Valentin Oman und der leider so früh verstorbene Burgenländer Franzi Dirnbeck waren meine engsten Freunde. Mit Oman verbindet mich bis heute eine schon länger als vierzig Jahre währende Lebensfreundschaft. Er war es, der mir die Kunst und das Künstlerische als Lebensprinzip erschloß, nämlich indem er sich und sein Werk mir mitteilte. Durch ihn kam ich auch mit der mir bisher unbekannt gewesenen österreichischen Volksgruppe der Kärntnerslowenen und mit der Minderheitenfrage überhaupt in Kontakt; so wie später mit den Burgenlandkroaten durch Krista Kornfeind und Petar Tyran; und noch einmal später mit der Volksgruppe der Roma durch Ceija Stojka und Ilija Jovanovic. Immer war mir das Persönliche wichtig in meinem Leben. Immer war die menschliche Begegnung das Entscheidende; in der Liebe, in der Kunst, in der Politik, überhaupt.
Der österreichische Dichter Franz Kießling (Wien), der viel trank und fast nichts mehr schrieb, führte mich in langen Nachtsitzungen im Weinhaus Viklicky, im Gasthaus Sinkovicz und im Café Neubaugasse in die Welt der zeitgenössischen österreichischen Poesie ein, las mir seine Gedichte vor, und ich besprach meine Gedichte mit ihm. Der sehr belesene, aber etwas verrückte Naturwissenschaftler Fritz Schneider wiederum, der später in seinem Wahn leider mit Selbstmord endete, brachte mich in Kontakt mit der spanischen Lyrik (García Lorca, Rafael Alberti, Guiseppe Ungaretti, Miguel de Unamuno, Juan Ramón Jiménez) und mit den Gedichten von Pablo Neruda, Arthur Rimbaud und Blaise Cendras. Schon in der Mittelschule hatte ich mir die Taschenbuch-Anthologien „Flügel der Zeit – Deutsche Gedichte 1900-1950“ und „Zeichen der Zeit – Ein Deutsches Lesebuch, Gedichte von 1980 bis zum 2. Weltkrieg“ sowie die Anthologie „Das Deutsche Gedicht – vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert“, alle aus der Fischer-Bücherei, gekauft, und mich intensiv mit den darin abgedruckten Gedichten und Dichtern beschäftigt. Im Gymnasium hatten wir von all diesen Dichtern nie etwas gehört. Da endete die Literatur bestenfalls mit dem „Cornet“ von Rainer Maria Rilke, einem Text, der auch in der Nazizeit sehr beliebt war (Heldentum). Wichtig wurde für mich auch ein dünnes Heft, nur 83 Seiten stark, eine Anthologie „Österreichische Lyrik nach 1945“, die 1960 im S. Fischer Verlag erschienen war. Viele Namen von heute glorifizierten Dichtern und Dichterinnen stehen da neben heute kaum noch bekannten. Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann, H.C.Artmann und Thomas Bernhard, Christine Busta und Paul Celan, Erich Fried und Michael Guttenbrunner, Hertha Kräftner und Christine Lavant, Andreas Okopenko und Wieland Schmied, um nur einige von den Großen zu nennen. Vorallem aber versenkte ich mich in die Gedichte und in die dichterische Welt von Hölderlin, Georg Trakl und Ezra Pound. Ich las schon früh (1960) die Gedichte in der Anthologie „Im Labyrinth – Französische Lyrik nach dem Symbolismus“ (Piper-Bücherei, 1959) und meditierte mit chinesischer und japanischer Lyrik (Haiku), an der ich besonders das Kontemplative, die Welt der Innerlichkeit, den Einklang des Menschen mit der Natur, die ausgewogene Balance zwischen Wort und Schweigen, vorallem aber die prägnante Kürze schätzte. Auch literaturtheoretische Ausführungen und Auseinandersetzungen interessierten mich, sowohl zur Anregung und Vertiefung meiner Gedanken, aber auch zur Kontrolle und Überprüfung der von mir selbst erbrachten Ergebnisse. So gaben die Taschenbücher „Hugo Friedrich: Die Strukturen der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart“, Rowohlts Deutsche Enzyklopädie, Hamburg, 1956, und „Hans Bender: „Mein Gedicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten“ einen wichtigen Anstoß zur eigenen, bescheidenen literaturtheoretischen Arbeit. Henry Miller (Wendekreis)und Anais Nin (Tagebücher) sowie Simone de Beauvoir (Der Lauf der Dinge, Alles in allem) zählten für mich zur „Befreiungsliteratur“ (ein Begriff, den ich jetzt soeben für mich präge, in Anlehnung an die „Befreiungstheologie“ eines Ernesto Cardenal in Lateinamerika). Neben den Büchern war es aber vorallem das Kino, waren es die Filme, die mir neue Erlebniswelten vermittelten und Stoff zur Auseinandersetzung gaben. So wurde ich z.B. durch den Film und dann durch die Lektüre des Buches „Wem die Stunde schlägt“ (Hemingway) nachhaltig mit dem Spanischen Bürgerkrieg konfrontiert.
Früh schon beschäftigte ich mit dem 1. und dem 2. Weltkrieg. Schon als Kind sah ich mir, innerlich schaudernd, die Dokumentar-, aber auch die Propagandafotos in alten Zeitschriften an, die es bei uns zu einem Buch gebunden in vielen Folgebänden gab. Ich begriff, wie ungeheuerlich das war, was ich sah und las, konnte es aber nicht wirklich fassen. Ebenso war ich schon früh durch solche Fotos, die man knapp nach dem Krieg und dem Ende des NS-Regimes vorerst nur sehr spärlich in Büchern sehen konnte, mit den Greueln der NS-Konzentrationslager in Berührung gekommen. Alles Politische interessierte mich. Immer trachtete ich danach, Gründe für alles zu erfahren und Zusammenhänge zu verstehen. In der Schule, in der Gesellschaft, in der Kirche, in der österreichischen Öffentlichkeit wurde die NS-Zeit mit Schweigen, mit Verschweigen und Verdrängen übergangen. Überhaupt wurde vieles tabuisiert. Erste Öffnung, Aufklärung, ein Aufbrechen der ideologischen Fronten, die sich aus dem österreichischen Ständestaat vor Hitler ins Heute herüber gerettet hatten, sowie eine Infragestellung der (be)herrschenden Autoritäten und Strukturen wurde erst mit der Studentenbewegung 1968, die in Wien nur ein schwaches Abbild von jener in Frankreich und Deutschland war, und in der darauf folgenden politischen Ära von Bruno Kreisky zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Dies bedeutete neue und noch größere Spannungen zwischen der alten und „meiner“ neuen Welt.
Der Studienablauf ging planmäßig vor sich. Ich absolvierte alle für das Doktorat notwendigen Prüfungen in meinen Fächern Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie. In Philosophie studierte ich sehr viel mehr und legte weitaus mehr Prüfungen ab, als ich hätte müssen. Philosophie interessierte mich sehr, auch im Hinblick auf das reale Leben, auf Gesellschaft und Politik. Doch da bot man an der Universität kaum Antworten auf aktuelle Fragen. Alles war und blieb in den alten Geleisen. Gesichert eben. In Deutschland und anderswo waren Adorno und Marcuse ein Idol. In Wien beschäftigte sich an den Philosophischen Instituten oder in Vorlesungen kaum jemand mit ihnen und ihrer Philosophie. Neue marxistische Strömungen tauchten auf, Splittergruppen, Modernismen. Ich gehörte nirgendwo dazu, wollte auch nirgendwo dazugehören, ich war und blieb Individualist, wurde immer mehr zum Außenseiter; manchmal fühlte ich mich auch wie ein Ausgestoßener. Zur „alten Welt“ gehörte ich nicht mehr, zur „neuen Welt“, so es eine solche überhaupt gab, einer Welt aus engstirnig-dogmatischen Ideologien oder willkürlich zusammen gezimmerten, hohlen Gedankengebäuden, ausgestattet mit gängigen Modernismen und Schlagwörtern, tendenziösem Zeitgeist und austauschbaren Platitüden, wollte ich nicht dazugehören. Damit hatte ich weder etwas am Hut, noch etwas gemein. Dieses Ausgesetztsein war der Boden, auf dem meine Gedichte wuchsen. Und immer mehr verbanden sich damit meine Ich-Welt-Vorstellung, mein Denken, meine Persönlichkeit, meine Existenz. Auf einmal gab es sozusagen zwei Welten: die reale Alltagswelt und „meine Welt“. Diese beiden Welten vertrugen sich immer weniger, sie waren inkompatibel. Normen zu negieren, dem Normativen das Spontane und Intuitive, die individuelle Freiheit entgegenzusetzen – und zwar radikal, das mußte zwangsläufig zu Konflikten, Kontroversen, Zerwürfnissen, zu einem Dilemma, möglicherweise zur Ausweglosigkeit führen. Und so war es auch. Hinzu kam, daß nach fast zweijähriger Arbeit an meinem ersten Dissertationsthema („Egon Friedell“) eine Dissertation eines anderen Dissertanten zum gleichen Thema vorlag und approbiert wurde. Das schloß die Weiterführung meiner Arbeit aus. Mein Doktorvater hatte mich nicht darauf aufmerksam gemacht und mir das gleiche Thema gegeben. Ich suchte ein anderes, eine leichte Schauspielerbiographie. Und scheiterte damit. Alles zog sich wegen eines zu umfangreichen Quellenstudiums in die Länge, bis mir das Geld und der Atem ausgingen. Ich war ohnedies sehr weit von allem Studentischen und der Universität entfernt, machte verschiedene Jobs, um mich über Wasser zu halten.
Dann kehrte ich noch einmal an unser Institut zurück, arbeitete wissenschaftlich am Max-Reinhardt-Nachlaß und an meiner Dissertation. Bis man mich eines Tages plötzlich rausschmiß. Ich hatte mich in einer scharfen Kontroverse mit meiner Meinung – zugegeben etwas aggressiv – gegen einen hohen Ministerialbeamten und somit gegen die Interessen meines Professors (Zitat aus seinem in der NS-Zeit veröffentlichten Buch über die Wiener Theatergeschichte: „..das mit Schnitzler jüdisch-verseuchte Wiener Burgtheater..“) gestellt. Am nächsten Tag stand ein Karton mit meinen Habseligkeiten vor der verschlossenen Tür (in der Wiener Hofburg). Ich hatte genug. Genug vom Studium, von der Universität, von der Präpotenz und Arroganz der Professoren, von der Repressivität des Systems, von dieser Duckmäuserei, von der unwürdigen Unterwürfigkeit der Assistenten und Studenten, von dieser verlogenen und verdorbenen österreichischen Gesellschaft überhaupt. Ein Lebensgefühl ähnlich dem von Thomas Bernhard. Am liebsten wäre ich ausgewandert. Aber das ging nicht. Mein Philosophenbruder Fridolin, mittlerweile Ordinarius für Philosophie, verstarb plötzlich an einem Herzinfarkt (1973). Ihm folgten Jahre später auf die gleiche tragische Weise meine Brüder Gilbert (1979) und Max (1987). Also mußte ich weiter in Wien bleiben und oft auch bei meinen Eltern in Haslach. Ich ging jedoch meinen Weg unbeirrt weiter, obwohl ich nicht wußte, wohin er führen würde. Er erschien mir aber doch als der mir einzig mögliche und – wenn ich mich näher besann – auch als der einzig richtige für mich. Heute bezweifle ich das manchmal. Vielleicht hätte es damals die Möglichkeit einer Wende gegeben, die ich übersehen habe. Auswandern nach Amerika; wie so viele vor mir, die auch im Leben keinen richtigen Platz gefunden und nicht gewußt hatten wohin. Das kommt mir in Betrachtung meines Lebensweges manchmal noch heute in den Sinn.
Nach jahrelangen aufreibenden Tätigkeiten als Tankwart, Interviewer und Werbetexter und anschließend drei Jahre als Tag- und Nachtportier, in denen ich weder meine Dissertation fertigstellen, noch mein Romanprojekt (1. Teil: „Das Haus“) fertigstellen und auch sonst nichts großes Literarisches realisieren konnte, in welcher Zeit ich in mehrere strapaziöse Liebesbeziehungen samt Scheitern verstrickt war, in der ich mich familiär und gesellschaftlich immer mehr mißachtet fühlte und es sicherlich auch war, worunter mein Selbstwertgefühl immer mehr litt, fiel mir endlich das Abraham-Woursell-Stipendium aus den USA wie aus heiterem Himmel unerwartet auf den Kopf (1975). Ohne eine für mich günstige Kündigungsfrist (Abfertigung) abzuwarten, schmiß ich meinen Portierjob hin, sagte diesen Leuten (Sportprofessoren) noch, was ich von ihnen hielt, und orientierte mich neu. Ich wußte, daß ich mit dem Stipendium eine neue Chance und Voraussetzung – auch und vorallem für das Schreiben – hatte, weil ich nun auf eine längere Zeit hin existentiell abgesichert war. Ich überlegte: Sollte ich mich in der Welt herumtreiben – die Verlockung war groß – oder sollte ich ernsthaft und gezielt versuchen, ein wirklicher Schriftsteller zu werden. Bis jetzt war ich ja nur einer, der schrieb. Ich entschied mich für die Schriftstellerei, für das Schreiben; auch wenn es „nur“ Gedichte waren. Ich konnte nichts anderes. Doch in der Lyrik wollte ich (m)einen Weg weiterhin suchen und finden. Das war mein Ziel. Und ich machte mich an die Arbeit.
Im Jänner 1980 bot sich plötzlich eine Möglichkeit, in ein Metier einzusteigen, das mich schon immer interessiert hatte, nämlich der Kunstbetrieb. Ich wurde von einem Tag auf den anderen Leiter einer Kunstgalerie, die der „Gesellschaft der Kunstfreunde“ gehörte, die aber zugleich eine Bildungseinrichtung des Verbandes Wiener Volksbildung war. Ich hatte mich schon immer für Bildende Kunst, für Malerei und Grafik interessiert, sammelte auch in sehr bescheidenem Maße Bilder, bekam sie von Künstlerfreunden, mit denen ich verkehrte, vorallem von meinem Freund Valentin Oman. Ich kannte mich in der zeitgenössischen Kunst und in der Wiener Szene ganz gut aus, hatte Kontakte. Ich sah die Möglichkeit, hier einen Beruf zu bekommen, den ich ja nicht hatte. Die Arbeit gefiel mir, ich war sehr engagiert und – wie man mir von verschiedenen Seiten her bestätigte – auch wirklich gut als Galerist, weil ich neben dem bisherigen konservativen Programm die Galerie nun auch für die Moderne öffnete, für junge in- und ausländische Künstler, für die Avantgarde. Ich redigierte eine der Galerie und der Gesellschaft zugehörige Monatszeitschrift, die „Wiener Kunsthefte“, in der ich auch der Literatur, vorallem den zeitgenössischen österreichischen Dichtern, einen entsprechenden Platz einräumte. Ich organisierte Lesungen, Kunstgespräche, Themendiskussionen in der Galerie. Mit der Arbeit und den Künstlern gab es keine Probleme. Von Anfang jedoch gab es Spannungen und Kontroversen mit meinem Chef (auch weil ich nicht sein Kandidat für den Posten gewesen war), einem voreingenommenen, parteihörigen (SPÖ), anti-intellektuell eingestellten „Professor“ (h.c.), einem gelernten Elektriker, der in der Partei und in der Gemeindepolitik groß geworden war (Gemeinderat, Landtagsabgeordneter). Wieder einmal waren mir enge, zu enge Grenzen gesetzt. Ich wurde und war bevormundet, am Gängelband; etwas, das mir verhaßt und unerträglich war, und wogegen ich mich natürlich wehrte. Das war der Nährboden für Konflikte und Konfrontation, die man in Österreich und vorallem in Wien nicht fair und offen austrägt, sondern wo die Übergeordneten und Mächtigeren ihre Machenschaften im Geheimen abwickeln und immer aus dem Hinterhalt und mit den Mitteln der Verleumdung und Intrige agieren. Und so in der Regel ihre Ziele erreichen. Das Ziel dieses Professors und seiner Verbündeten war es, mich loszuwerden. Und natürlich gelang ihnen das auch. Nach sieben Jahren mußte ich das Feld räumen, es einem intriganten Mitarbeiter, Liebkind des Professors, der seit langem meinen Posten haben wollte, überlassen. Ich hatte mehr als 150 Ausstellungen realisiert, etwa 80 Kunsthefte redigiert, viele Lesungen organisiert. Jetzt war ich von einem Tag auf den anderen out, arbeitslos, ohne Perspektive. Alle kurz zuvor noch für mich offenen Türen (bei Ministern, Abgeordneten, Stadträten, Kulturfunktionären, etc.) waren mit einem Male verschlossen. Ich war wiederum eine „persona non grata“, vorallem in den politischen Kreisen der Wiener SPÖ und in der von ihr dominierten Gesellschaft. Ein hoher Gewerkschaftsfunktionär drohte mir, ich würde nie mehr einen Posten in Wien erhalten, „man“ würde dafür sorgen, wenn ich nicht endlich (Zitat!) „die Goschen halten“ (schweigen) könne und weiterhin „renitent“ sei. Und das mir – einem ehemaligen langjährigen SPÖ-Betriebsrat! Ich hatte ja beim Arbeitsgericht geklagt. Ich mußte aber dann die Klage zurückziehen, mich unter Druck mit diesen Leuten einigen, die angebotene Abfertigungssumme annehmen. Ich mußte ja „überleben“. Ich brauchte das Geld, um nicht in einem ökonomisch-existentiellen Desaster unterzugehen. Alles das war und ist mir bis heute eine Lehre, eine wichtige Lebenslehre; vorallem der Verrat der „Freunde“. Das bestätigte meine ohnehin schon längst gemachte Erfahrung: Wer, vorallem hierzulande, den Mund zu weit aufmacht, der findet sich bald außerhalb der Gemeinschaft wieder. Denn die Macht duldet keinen Widerspruch, keine Auflehnung dagegen, vorallem keinen, der sie infragestellt.
Ich bin keiner, der resigniert; wenngleich ich damals ziemlich getroffen war, und mir die ungewisse Zukunft, vielleicht sollte ich sagen: die Zukunftslosigkeit, Angst machte. Es ging ja auch um meine Existenz. Wieder war plötzlich die Tatsache brennend spürbar, nämlich jene, überhaupt keinen erlernten Beruf zu haben. Ich wußte nur zu gut, was das bedeuteten konnte. Trotzdem und gerade in dieser schwierigen Lebenssituation wandte ich mich nun wieder dem Schreiben zu. Das war auch die beste Hilfe und Stütze für mich selbst. Zum Thema wurden nun (wieder) das ehemalige KZ-Mauthausen, der Holocaust; die österreichische Lüge. Der Fotogedichtband „Farbenlehre“ entstand. Darin rechnete ich auch mit diesem (verlogenen) Österreich ab, mit langjährigen honorigen SPÖ-Parteimitgliedern und Günstlingen wie dem ehemaligen Euthanasie-Arzt-Verbrecher Dr. Gross, den die Republik sogar mit dem „Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst“ ausgezeichnet hatte, anstatt ihn (rechtzeitig) vor Gericht zu stellen und zu verurteilen. Mein Zorn, meine Wut halfen mir; beim Schreiben dieses Buches, aber auch beim „Überleben“. Ich war nicht mundtot, nicht gefügig gemacht worden.
Die „Farbenlehre“ war ein Erfolg; nicht finanziell, nicht ökonomisch, sondern in existentieller Hinsicht für mich: Ich war damit ein Dichter, ein österreichischer Schriftsteller geworden. Das wurde anerkannt. Es stand in allen Zeitungen. In der Zeitschrift „Die Zeit“ war die „Farbenlehre“ in der Rubrik „Buch des Monats“. Erich Fried hatte das Vorwort zu dem Buch geschrieben, es spontan diktiert, nachdem wir die Gedichte miteinander besprochen hatten. Ich hatte mich mit diesen Gedichten, mit diesem Buch als Schriftsteller, vorallem aber als Mensch – so fühlte ich es (befreiend) – endlich legitimiert. Damit begann für mich ein neues Leben.
Die „Farbenlehre“ war ein politisches Buch, aber auch ein zutiefst menschliches. Es war das Ergebnis einer schon lange dauernden Beschäftigung von mir mit dem Holocaust, mit dem, was in meiner engeren Heimat „passiert“ war; damit, wie sich das offizielle Österreich und die österreichische Gesellschaft vor jeder Verantwortung jahrzehntelang gedrückt hatten. Es war aber auch ein Zeichen dafür, entsprechend meiner Maxime, daß Literatur, daß Dichtung sich nicht von der (politischen) Realität absentieren darf, daß sich Schriftsteller nicht in einen Elfenbeinturm und in ein bequemes, unverbindliches l’art pour l’art-Reservat zurückziehen dürfen. Mit dem Buch war ich abgestempelt als „politischer Dichter“. Das bedeutete eine Festlegung, eine Punzierung, eine Einengung; das bedeutete, auf ein Klischee reduziert zu werden. Jedenfalls war das die Gefahr. Dieser begegnete ich mit dem Fotogedichtband „Bildersprache“, der im darauffolgenden Jahr erschien, und an dem ich schon parallel zur „Farbenlehre“ gearbeitet hatte. Dieses Buch hatte nur ein Thema: Sterben und Tod. Es griff das schon im Fotogedichtband „Abschiede“ (1980) behandelte Thema jetzt noch einmal auf. Die „Bildersprache“ war dem Andenken meiner verstorbenen Eltern und Geschwister – Max/Rosa/Josef/Fridolin/Gilbert/Annemarie/Maximilian – gewidmet. Gedichte und Bilder sprechen von Abschieds- und Todesereignissen und davon, in welcher Befindlichkeit ich mich nach dem Weggehen der von mir geliebten Familienmenschen wiederfand, nämlich einsam und allein. Die Familienarchitektur war endgültig zerbrochen. Das Elternhaus, in dem ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, und das mir wirklich Heimat gewesen war, wurde verkauft und abgerissen, dem Erdboden gleichgemacht. Tod, Zerstörung, Auflösung, Ende, dieses „Niemals wieder!“, das war nun in meinem Bewußtsein und in meinem Lebensgefühl. Mit dem Tod der geliebten Menschen, mit der Todeserfahrung am Tod des Anderen, wird einem schlagartig die eigene Lebensbegrenztheit als unabänderliche Seinsgegebenheit bewußt. Der Tod wird zu etwas Konkretem, weil das Weggehen des Anderen als etwas Unausweichliches, Endgültiges erfahren wird und einem so bewußt bleibt. Die Gedichte und Bilder in den Fotogedichtbänden „Abschiede“ und „Bildersprache“ sind Niederschriften und Zeugnisse einer Trauerarbeit, in der ich mich mit Tod und Sterben auseinandergesetzt habe. Ob das hilft, ob das helfen kann, sich mit dem Tod zu versöhnen, weiß ich nicht, ich bezweifle es. Denn der Tod bleibt unser Feind, auch wenn er ein Teil des Lebens ist.
Die „Farbenlehre“ und die „Bildersprache“ sind meine beiden wichtigsten Bücher, auch weil sie meine Bildinterpretation der Gedichte beinhalten und weil Wort und Bild zusammenwirken, eine Einheit bilden, so daß dem Leser und Bildbetrachter eine Botschaft übermittelt wird, die ihm auch sinnlich begreifbar macht, worum es (mir) geht. Das ist nämlich mir ganz wichtig: Die Botschaft soll den anderen erreichen, und er soll sie verstehen (können). Deshalb auch die Einfachheit im Ausdruck der Gedanken und Gefühle, der Worte, der Bilder; der Sprache der Worte und der Sprache der Bilder. So zu verstehen ist der Titel des Buches: „Bildersprache“.
Nach den Liebesgedichten in „Herzschläge“ (1989) folgte der Gedichtband „Lebenszeichen“ (1992), der in verschiedenen, auf die jeweiligen Erscheinungsorte abgestimmten Fassungen in viele Sprachen übersetzt und in vielen Ländern publiziert wurde. Dieses Hinausgehen, sowohl mit dem Buch, als auch selbst als Person, war für mich ganz wichtig. Das war für mich etwas Befreiendes; eine Grenzenüberschreitung, Gewinnung von Neuland. Wien bedeutet(e) für mich immer das (allzusehr) Gewohnte, eine aufreibende und zugleich einschläfernde (Lebens-) Enge. Wien ist eine Stadt fürs Zurückkehren und eine zum Fortgehen, aber keine zum Bleiben. So ist es jedenfalls für mich. Aufenthalte in St. Petersburg und Moskau, in London und Paris, in Jerusalem, in Helsinki, Dublin und Istanbul, stets verbunden mit Lesungen, Gesprächen, Diskussionen, mit Begegnungen, waren für mich immer befreiend und inspirierend zugleich. Oft habe ich gedacht: Ich gehörte eigentlich woanders hin, nach New York, nach London, nach Paris, nach Moskau vielleicht, aber nicht nach Österreich, nicht nach Wien. Ich mag keine Provinzialität; so oder so nicht, in keiner Weise. Alle Reisen und Aufenthalte brachten als Ergebnis auch immer wieder Gedichte. Eine Sammlung davon veröffentlichte ich im Gedichtband „Unterwegs – Reise- und Aufenthaltsgedichte 1966-1996“, der 1997 als erster Band der fünfbändigen „Werkausgabe“ meiner Gedichte 1965-2000 in der Edition Roetzer erschien. Mit dieser fünfbändigen Ausgabe meiner Gedichte, die ausschließlich noch nicht vorher publizierte Gedichte enthält, betrachte ich meine Lyrikproduktion und Lyrikpublikation als im wesentlichen abgeschlossen. Natürlich entstehen noch Gedichte, aber die Lyrik ist nicht mehr das alleinige Metier, in dem ich mich ausdrücke und literarisch verwirkliche.
Im Jahr 2000 betrat ich mit der Erzählung „Die Fanni“ Neuland, nämlich den Bereich der Prosa. Dieser Erzählung folgten – animiert durch die Redakteurin der Zeitschrift „Der Granatapfel“ – weitere Erzählungen und Kurzgeschichten. Dieses Schreiben gefiel mir. Es war ganz anders als mit der Lyrik. Das Geschichten-Schreiben strapaziert mich nicht, weil es mich freut, da es mich öffnet, anstatt – wie so oft bei der Lyrik – mich in mich (und ins Gedicht) einsperrt. Als ich genug Geschichten zusammen hatte, machte ich ein Buch: „Lebensbilder – Geschichten aus der Erinnerung“ (2003). Dieses Buch wurde ein Erfolg. Es wurde gerne gekauft und gut rezensiert. Nun ist auch das abgeschlossen.
Jetzt geht es wieder darum, für mich Neuland zu erschließen. Seit 1.7.2004 bin ich in Pension. Das bedeutet aber nicht. daß ich mich zur Ruhe setze. Denn ruhig werde ich nie. Ich bleibe ein Unruhiger, ein Ruheloser, ein Grenzgänger, ein Neugieriger; weil ich – hoffentlich noch lange – so am Leben bleiben möchte. Denn ich liebe das Leben.
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Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.