Seine beiden Begleiter hatten sich der Einfachheit halber überlegt, kein eigenes Zelt mitzunehmen. Es ist ja auch gemütlicher zu dritt zu zelten. Mitschläfer sozusagen. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, wenn man sich auf grundsätzliche, grundlegende Übereinkünfte zu einigen in der Lage ist. Keine Schuhe ins Zelt. Kein Müll, tägliche Grundreinigung mit dem Handfeger und ganz wichtig und nicht zu vergessen: Pupsen verboten. Feste Schlafzeiten hatten sie naturgemäß nicht vereinbart. Jeder weiß, dass der Biorhythmus jeder einzelnen Person sich gravierend von dem der nächsten unterscheidet. Dafür würde sich wohl eine Regelung finden und im Lauf der Woche gibt es sicherlich auch noch größere und vor allem andere Probleme, die der genauen Besprechung bedürfen.
Schon am ersten Morgen musste er allerdings feststellen, wie schwierig die fehlende Festlegung von definierten Aufstehzeiten sein kann. Wie immer wachte er gegen sechs auf, bereit in den Tag zu starten, drehte sich herum und blickte in völlig verschlossene Gesichter, die sich so eben aus den Schlafsäcken herauslesen ließen. Während der gesamte Körper samt der Extremitäten völlig eingemummelt dalag. Dieser Blick verhieß nichts Gutes: tiefer, fester und vor allem zufriedener Schlaf. Gerade in ihrer jeweiligen REM-Phase angekommen, war auch nicht damit zu rechnen, dass die beiden Strategen in den nächsten drei Stunden sich erheben würden. Herr Nipp konnte sogar auf dem Gesicht des einen Mitschläfers das durchaus als süffisant zu bezeichnende Lächeln eines genussvollen, zumindest aber sehr lustigen Traums erkennen. Man soll es nicht glauben, aber Menschen im Schlaf zu sehen, kann auch auf gewisse Weise zufrieden machen.
Also griff er zu einem dicken Buch von Fernando Pessoa, las einige Seiten und dachte darüber nach. Nicht nur, dass sein Freund, der ihm dieses Werk neben einigen anderen Exemplaren der Hochliteratur und einigen Flaschen Wein extra per Privatzustelldienst hatte zukommen lassen, den Autor “Pschoa” aussprach, sondern auch an die Lebensbestrachtungen an sich. Vielleicht gäbe es ja die Möglichkeit eines Vergleiches mit den Essays des lange vorher schreibenden Michel de Montaigne. Wenn die Qualität des Inhalts auch mit der Form zu tun hatte, dann bei diesen beiden. Unglaubliche Wortjongleure mit klarem Blick auf ihre Zeit.
Das Nachdenken ist anstrengend, manchmal muss man ganz abseitige Wege gehen. Als die beiden Begleiter aufwachten, war Herr Nipp längst wieder in andere Gefilde des menschlichen Unterbewusstseins hinab geglitten. Der dauernde Aufenthalt in 1500 Metern Höhe macht müde, wenn man es nicht gewohnt ist.
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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019
Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.
Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421