Eine Trinkerchronik

 

Alles was ich tat, war auf die Gegenwart ausgerichtet. Nichts hatte Bestand. Jeder Zukunftsgedanke war wie eine Fata Morgana. Ich dachte nicht an Bausparverträge und Lebensversicherungen, nicht an Heirat und Familie. Ich fuhr meine Personal-Freifahrten der Bundesbahn von Nord nach Süd, von Ost nach West ab, alles war im Fluss. Obwohl ich dauernd neue Leute kennen lernte, mit ihnen trank und redete, blieb ich eher der Außenseiter, der immer wieder ohne sein Zutun in Sachen hineingeriet. Es gab die Sprache der Sprachlosen, die über Alkoholmoleküle definiert wurde, der Suff verwischte Linien, man wurde zum Grenzgänger. Manchmal wusste ich erst nach längeren Überlegungen wo ich gewesen war. Vom Leben ist immer nur ein Stückchen zu sehen – immer nur der Schauplatz des eigenen Leidens, und die Clowns ringsum sind besoffen. Mein Spitzenwärter-Job füllte mich nicht aus. Ich füllte die freien Stunden mit Bier und Büchern. Und ich schrieb. Besonders in den Nachtschichten schleppte ich die kleine Reiseschreibmaschine mit. Zuerst setzte ich mich hin, trank und tippte das Alphabet auf einen Bogen Papier, nahm eine Büroklammer, bog sie auseinander und reinigte anschließend die Typen A und O. Danach ging es wie von selbst. Ab und an besuchte mich ein Arbeitskollege und wenn er fragte, was ich denn schreibe, antwortete ich, Heimarbeit, Adressen abtippen. Ich tippte meine Träume aufs Papier, doch bevor der Morgen anbrach warf ich die meisten Blätter in den Ofen.

Dann kam die Johnny-Cash-Europatournee 1981. Ein Konzert fand in der Wembley Arena/London statt. Mein Bruder und ich hatten zwei GUTE Eintrittskarten für 19.50 Pfund, einen Opel Ascona als Leihwagen – weil der Mercedes mal wieder fahruntüchtig war – und kurvten mit genügend Bier Richtung Ostende. Bis Dover überbrückten wir die Zeit und tranken und pennten schließlich ein, und als die Fähre vormittags anlegte, fuhren wir wie von selbst London entgegen. Mein Bruder war noch immer Student, und ich war ein Spitzenwärter bei der Bundesbahn, wir mussten unsere Finanzen einigermaßen im Griff halten und hatten vorsorglich gleich die Tickets für die Nachtfähre gekauft. Als sich Johnny Cash gegen 22 Uhr mit einem lächelnden Bye bye vom Publikum verabschiedete, setzten wir uns ins Auto und preschten wieder nach Dover. Die letzte Fähre ging um 1 Uhr. Auf halber Strecke trat ich voll die Bremse und sagte: „Wolle, ich bin zu besoffen.“

Wolle war zwar auch besoffen, doch wir wechselten die Plätze und dann preschte er weiter. Wir erreichten die Fähre. Wir gingen nach oben, flappten uns hin und schliefen. Um 6 Uhr morgens öffnete das Restaurant.

„Solln wir frühstücken?“, fragte ich.

„Ich hol zwei Bier“, sagte er.

Er kam mit zwei Bechern Bier zurück und sein Gesichtsausdruck war ziemlich ernst.

„Ich glaube“, sagte er, „das Geld reicht nicht.“

„Was für’n Geld?“

„HERJEMINE, ich meine das GELD. Oder hast DU noch was?“

Er wusste genau, dass ich kein Geld mehr hatte. Und ich wusste es auch.

„Wieso, wofür brauchen wir noch Geld? Den Rest der Fahrt werden wir auch ohne Bier auskommen.“

„Ach so“, sagte er, „kommen wir auch ohne Sprit aus?“

„Sag ich doch, wir kommen ohne Sprit aus.“

Er schüttelte seinen Kopf. Sah mich mitleidig an. Ich nahm einen Schluck aus dem Becher und begriff.

„Ach du Scheiße.“

„Der Tank ist kurz vor der Reserve“, sagte er Bier schluckend.

„Nix zu machen?“

„Nix zu machen.“

„Aha.“

Wir kontrollierten unsere Barschaft. An englischem Geld hatten wir knapp ein Pfund, an deutschem Geld 4 Mark.

„Das englische Geld können wir auch hier ausgeben. Hol‘ noch zwei Bier“, sagte ich.

Er holte zwei Becher und dann legten wir uns zurück und dösten. Ostende. Früher Vormittag. Ich saß hinterm Steuer und beobachtete die Tanknadel. Roter Bereich. Statt auf die Autobahn fuhr ich zur Stadt. Wo hätten wir sonst hinfahren sollen?

„Sprit klauen“, sagte mein Bruder.

„Und wie?“

„Ganz einfach. Wir fahren auf ’ne Tankstelle, du lässt den Motor laufen, ich tanke, steige ein und dann ab dafür.“

„Hm“, machte ich. Mehr fiel mir nicht ein.

„Und wenn die sich das Kennzeichen aufschreiben?“

„Dann müssen wir dafür sorgen, dass die sich ein falsches Kennzeichen aufschreiben. Fahr mal ein bisschen raus, ein Verbandskasten wird ja wohl drin sein.“

Ich fuhr ein bisschen raus. Im Verbandskasten fanden wir weißes Pflaster. Wir fanden sogar eine Rolle schwarzes Isolierband. Zuerst diskutierten wir eine halbe Stunde über die Buchstaben- und Zahlenkombination, die das Kennzeichen aufwies. Unser Nummernschild lautete: E-H-303. Aus dem E machten wir mit schwarzem Isolierband ein B. Jetzt kamen wir schon aus Berlin. Aus dem H wurde mit Hilfe des weißen Pflasters ein I, und aus 303 klebten wir 883.

„Immer noch deutsch“, sagte ich.

„Scheiß drauf, Hunderte von Deutschen überqueren täglich die Grenze.“

„Na ja, jetzt brauchen wir noch die richtige Tankstelle.“

„Die suchen wir uns.“

Aber keine Tankstelle war nach unserem Geschmack – an der einen war zu viel Betrieb, an der anderen zu wenig, hier boten sich keine vernünftigen Fluchtmöglichkeiten, dort hatten wir ein schlechtes Gefühl. Aber die Tankanzeige des Opel Ascona log nicht. Sie kletterte bis in den rötesten aller roten Bereiche. Jeder Block, den wir umkurvten, kam dem totalen Stillstand näher. Zuerst hatten wir die Möglichkeit überlegt, einfach irgendwo im Auto zu übernachten, quasi den Rest des Tages, der gerade erst angebrochen war, um morgen bei einer Bank Bargeld abzuheben, aber das würde uns nur von einer Bredouille in die nächste befördern, zumindest mich, der ich am Montag wieder meinen Spitzenwärterjob anzutreten hatte. Außerdem wollten wir keine 20 Stunden nüchtern verbringen.

„Die ist gut“, meinte Wolfgang.

Schräg gegenüber lag eine Shell-Tankstelle. Von dort kam man direkt auf die zweispurige Schnellstraße.

„Eine andere werden wir auch nicht mehr finden“, sagte ich und sah, dass die Tanknadel starr links anlag. Ich drehte und fuhr zu den Zapfsäulen.

„Lass den Motor laufen“, zischte Wolle, „und mach‘ den Türknopf runter.“

Ich drückte den Türknopf runter und ließ das Automatikgetriebe auf Drive. Wolfgang stieg aus und tankte. Er machte den Tank randvoll. Dann hakte er den Rüssel ein, sprang ins Auto und sagte: „LOS!“
Ich drückte das Gaspedal bis zum Kickdown. Die Reifen quietschten. Wir zischten vom Hof. Ich scherte auf die linke Spur und erwischte im letzten Moment die vor uns liegende Ampel bei Gelb. Dann drosselte ich den Motor bis auf 50 km/h und benahm mich wie ein biederer Sonntagsfahrer. Ich fuhr links ab Richtung Flughafen und hoffte auf eine Autobahnbeschilderung. Etwa zwei Kilometer weiter stand ich an einer roten Ampel.

„Wo geht’s denn hier zur Autobahn?“, fragte ich.

Er grinste: „Keine Ahnung, hat doch gut geklappt?“

Während die Ampel weiter Rot zeigte, sah ich plötzlich einen Typ neben mir, der versuchte, die Fahrertür aufzureißen.

„HEILIGE SCHEISSE, WAS IST DENN DAS?“, schrie ich.

Ich stand als erster an der Ampel. Ich gab Gas und fuhr los. Im Rückspiegel beobachtete ich, wie der Typ zu seinem Wagen lief, einem Ford Granada, und uns folgte. Die verschiedenen Wegweiser deuteten darauf hin, dass ich mich fast auf dem Flughafengelände von Ostende befand. Da musste ich raus. Ich brauchte freie Strecke, Zubringer, Schnellstraßen, Autobahnen. Ich überholte mittig und schlängelte mich durch, hier stand mehr auf dem Spiel als ein paar Liter Benzin. Mein Bruder guckte sich um und hielt mich auf dem Laufenden. Ampeln hatten lediglich empfehlenden Charakter. Ich trat das Gaspedal bis zum Bodenblech. Tiefer ging’s nicht. Der Granada blieb uns auf den Fersen. Offensichtlich saß dort ein energischer Typ hinterm Steuer.

„Entweder du schüttelst ihn ab, oder wir kriegen Probleme“, sagte Wolle.
Ich nahm jede Kurve mit quietschenden Reifen. Es war wenig los. Halb Ostende schlief noch. Endlich erreichten wir eine Schnellstraße. Einspurig. Scheiße. Aber breit ausgebaut. Ich setzte mich in die Mitte, blendete die Scheinwerfer auf und überholte.

„Der traut sich nicht“, sagte Wolle.

Ich registrierte, dass der Granada von Mal zu Mal aus meinem Blickwinkel verschwand. Dann kam eine Autobahnauffahrt und ich gab noch mal richtig Gas. Nachdem wir einigermaßen sicher waren, unseren Verfolger abgehängt zu haben, stoppten wir an einem Rastplatz und verwandelten unser „Berliner“ Kennzeichen wieder in eins aus Essen. Kurz vor der Grenze hatten wir abermals Schiss, wir dachten, die hätten eine Suchmeldung raus gegeben, aber dem war nicht so, und am nächsten Rastplatz kauften wir uns vom letzten Geld zwei Dosen Beck’s-Bier, dazu schien die Sonne. Sie lachte auf uns runter.

 

 

***

Noch ein Bier, Harry?, Roman im Neon-Verlag – Neuauflage Thomas Tonn Verlag 2004

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