Transmediale Poesie

Wenn man sich den Ursprung der Lyrik ansieht, so kommt der Begriff selbst von „Lyra“, Leier, sprich, Lyrik war auch Wort in Verbindung mit Klang und Rhythmus. Das bedeutet, in gewissem Sinne ist die Wurzel der Poesie ja schon „interdisziplinär“, wenn man so will. Ich denke aber, dass doch eine Tendenz besteht, mehr und mehr auch andere Medien wie Videokunst und Live-Elektronik einzubeziehen.

Sophie Reyer

Von den Hütern der reinen Lehre aus betrachtet, erscheint die Gattung Lyrik nur in der Einwegverpackung Buch akzeptabel. „Werch ein Illtum!“, schrieb Ernst Jandl (selbst ein Meister des Vortrags) in dem Gedicht „Lichtung“. Vor Gutenbergs epochaler Erfindung lebte die Gattung Lyrik vom Vortrag, KUNO erinnert in diesem Zusammenhang an den Minnesang, eine hoch ritualisierte Form der gesungenen Liebeslyrik, die der westeuropäische Adel etwa von der Mitte des 12. bis zur Mitte des 13. Jahrhunderts pflegte. Gedichte existieren seit dem Gilgameš-Epos in sehr vielseitigen Formen: Verbreitet sind im tonalen Bereich dieser Gattung: Sonette und Balladen, daneben auch Liedertexte und Limeriks. Sprache und Wörter sind gleichfalls ein reflektierter Gegenstand, es liegt die Vermutung nahe, daß sich nur noch wenige Poeten als orphische Sänger verstehen. Es sei ferner erinnert an Traktate, gelehrte Schriften, Polemiken, Satiren, Erbauungsschriften, Gelegenheitsdichtungen, aber auch die sogenannte „hohe Lyrik“. Gedichte werden über beinahe alle Inhalte geschrieben. Sie erzählen große historische Gegebenheiten, huldigen Herrschern oder Geliebten (Minnesang), preisen den eigenen Staat (Nationalhymne) oder die eigene Klasse (Arbeiterlieder), erzählen tragische Geschichten, Erotisches oder Moritaten, dienen seit dem 19. Jahrhundert auch der Selbstvergewisserung des Autors und richten sich aber im 20. Jahrhundert daneben zunehmend auf Begebenheiten des Alltags. Gedichte werden auch improvisiert, etwa im Calypso oder im Rap, hier weniger vom Inhalt betrachtet als eine neue rhythmische Rezitationsform.

Die Schrift ist gegenüber dem Medium der mündlichen Sprache und Kommunikation minderwertig, da sie sich nachteilig auf das Erinnerungsvermögen auswirkt.

Platon

Mit dem Medium Hörbuch lauschen wir der Wiederannäherung der Worte an die Musik nach. Im Abspielgerät wird die Sprache selbst zum Mittel ihrer Entkörperlichung, im Lautsprecher geht die Spreche mehr und mehr in Schall auf. Mit all diesen lyrischen Formen und ihrer sinnhaften Ausweitung in den akustischen Bereich, hat sich die Redaktion im letzten Jahrzehnt beschäftigt, – die Redaktion muss dies kritisch hinterfragen – hat sich seit dem „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ wirklich viel geändert?

Ein Blick zurück: Bereits 1991 legte dieses Duo die zum Schlagwort gewordenen Literaturclips vor. Erst in 1993 schlossen sich mehrere bekannte belletristische Verlage zusammen (unter anderem Suhrkamp, Hanser und Rowohlt und gründeten den Hörverlag (DHV) in München um das Audiobuch auf CD zu vermarkten. Hier werden vor allem Lesungen längst bewährter Titel aus Klassik und Moderne vermarktet, die von bekannten Schauspielern vorgelesen werden, es geht um eine Mehrfachverwertung, die ästhetisch nicht weiter beachtenswert ist, wenn einmal eine Hörspielproduktion auftaucht, dann ist es die Übernahme eines öffentlich-rechtlichen Senders, Übernahmen des sogenannten „Neuen Hörspiels“ sind da eher selten. Es gibt viel verdienstvolles darunter, doch das weitaus meiste bezieht sich auf die gesicherte und bereits ausführlich referierte Literaturgeschichte. Den großen Verlagen geht es lediglich darum, eine neue Wertschöpfungskette zu erschließen. „Entfaltung der Produktivkräfte“, eine materialistische Variante der christlichen Trias von Glaube, Liebe und Hoffnung“, schieb Enzensberger. Welches kreative Potential wirklich im Bereich Audiobücher erschließenswert ist, bleibt auch nach über zehn Jahren weiterhin den unabhängigen Labels überlassen. Etwas anderes war eigentlich nicht zu erwarten, wir wollen darüber nicht in Kulturpessimismus verfallen und nehmen es mit einem Ohrenzwinkern wahr.

A.J. Weigoni und  Tom Täger spüren der Sprache vor allem als akustischem Phänomen nach.

Dr. Christiane Schlüter, Buecher-Wiki

Photo: Thomas Suder

Das neue Gebiet der Klangbücher ist Sprach-Kunst, Arbeit am Wort, und es steht dem Umstand nichts im Wege, ihr als solcher mit Ernsthaftigkeit und vor allem Selbstverständlichkeit zu begegnen. Seit der Gründung des Labors stand das transmediale Erzählen im Vordergrund der künstlerischen Spekulationen. Im multimedialen Bienenstock lanciert die Edition Das Labor auf der Plattform vordenker.de mit MetaPhon eine Reihe, in der Facetten der multimedialen Kunst und des Hörbuchs zugänglich gemacht werden, die nach den herkömmlichen Marktgesetzen unerschlossen bleiben. Der Markt wurde durch die unabhängigen Labels entmystifiziert. Das aufgeklärte Publikum erwartet nun Künstler, Wissenschaftler, Akteure, die den Vorhang aufreißen, um in anderen Formen zu erzählen. Die Kunstakademie hatte sich in den 1970er Jahren als installativer Diskursraum auf die Ratingerstraße ausgedehnt. Als künstlerische Grenzgänger betrieben A. J. Weigoni und Frank Michaelis mit der Literatur, in einem hocharbeitsteiligem Virtuosentum mit den Schauspielern Marion Haberstroh und Kai Mönnich, eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung, und setzen Elemente der Minimalmusik ebenso ein, wie die des Jazz. Es ging bei dieser Zusammenarbeit um eine Synthese, die Alchemie des Zusammenbringens, die Erweiterung der Vorstellung, was mit Literatur, Musik und Kunst möglich ist.

Der Claim für Klangbücher war noch nicht abgesteckt

Tom Täger, Komponist der Hörspielmusik zu Señora Nada · Photo: Dieter Meth

Als der Tonmeister Tom Täger 1989 im Tonstudio an der Ruhr Helge Schneiders erste Schallplatte Seine größten Erfolge produzierte, hat man ihn für verrückt gehalten. Als A.J. Weigoni 1991 seine LiteraturClips auf CD (der Claim für Klangbücher war noch nicht abgesteckt) realisierte, hat man ihn für verrückt gehalten. 1995 begann die Zusammenarbeit von Täger und, die mit dem Hörbuch Gedichte einen sinnfälligen crossmedialen Zirkelschluß findet, zu dem Täger als Hörspielkomponist mit Señora Nada eine Musik der befreiten Melodien zelebriert oder bei dem zweiten Monodram Unbehaust eine Klang-Collage aus Papiergeräuschen anfertigt. Ein Hörbuch zu machen bedeutet für Täger und Weigoni das Navigieren durch einen Sprachsturm, ohne ihn zu bändigen. Jedes dieser Langgedichte hat einen eigenen, unverwechselbaren Rhythmus. Die meisten Wörter haben ein Doppelleben, das Klangprinzip führt zuweilen ein Eigenleben, während der Anteil des Verstandes beiseite steht, der Klang der Sprache wird auf dem Hörbuch zur Realität. Diese Gedichte stammen im engeren Sinne gar nicht aus dem Literarischen, auch und gerade in einem traditionellen Sinn, das Hörbuch arbeitet in und an der Sprache und weniger auf der Ebene des Dargestellten, des Inhalts. Gesprochene Sprache ist ein Zurückbesinnen auf das, was Literatur sein sollte: das Erzeugen von Komik und Tragik, von Ästhetik und Hässlichkeit allein durch Sprache. Weigoni schält die Klänge aus den Wörtern, er bewegt sich auf Gedichte in der Intermedialität von Musik und Dichtung und sucht mit atmosphärischem Verständnis die auditive Poesie im ältesten Literaturclip, den die Menschheit kennt: dem Gedicht!

Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer.
Ioona Rauschan, Regisseurin des Hörspiels

Der VerDichter A.J. Weigoni entzieht sich genauen Gattungszuschreibungen. Einerseits ist Señora Nada ein lyrisches Monodram, andererseits kommt es in der Regie von Ioona Rauschan in der Form eines Hörspiel daher. Mit dieser Inszenierung erforschte sie das Transzendenzbegehren des Menschen in einer transzendental für obdachlos erklärten Welt.

Die Produktion Señora Nada provoziert mit einem stream-of-consciousness durch Inhalte und nicht durch Dolby-Surround. Darin begleitet Tom Täger die Schauspielerin Marina Rother mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition zu Señora Nada ist durchsetzt von minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Die Vertonung ist rasch im Grundtempo. Crescendo- und Decrescendo-Verläufe schaffen fiebrig-erregte Ausdruckszonen wie die buchstäblich hervorbrechenden Forte- und Fortissimo-Attacken. Tägers Klanglichkeit bleibt Weigonis Exaltiertheit nichts schuldig. Es gibt Momente, da berühren sich Musik und Sprache, wie eine Fingerkuppe vorsichtig in eine gespannte Wasseroberfläche eintaucht, ohne sie zerstören zu wollen. Diese behutsamen Momente sind die Augenblicke, in denen für ein paar Takte kaum etwas zu hören ist. Es sind Sekunden von viel größerer Kraft als jedes Crescendo. Das Angebot, das in dieser Musik liegt, ist eine Herausforderung.

Wenn sich gegen Ende von Señora Nada, die Komposition zu einem leeren Quintklang zusammenzieht in der Pianissimo-Dynamik, haben die Takte dieses Hörstücks Welten an Ausdruck, Dynamik, Ambitus durchschritten. Man weiß es nicht so genau, ob die Ruhe nach dem Sturm nachklingt oder eine im statischen Quintklang erstarrte Erschöpfung. Die Vertonung Tom Tägers fügt sie – mit allen Kontrasten von Tempoverläufen, Klangdichten, dynamischen Abstufungen – über die Wortbedeutungen hinweg zu einer einleuchtenden Zyklik. Die Klänge und Strukturen sind eigenartig: ähnlich und doch immer wieder neu, streng und doch offen. Das Zuhören führte an ein Zeitempfinden heran, wie es in dieser Weise selten zu erleben ist. Jedes Kunstwerk erinnert an den Geist und die Erweiterbarkeit des menschlichen Horizonts. Jedes bedeutende Werk hat das Bewußtsein geöffnet und nicht einfach nur die öffentliche Nachfrage nach Schönheit bedient.

Als Angelika Janz im Rheinland in den 70er Jahren erste Schritte in die Literatur- und Kunstszene unternahm, lehrte in Düsseldorf Joseph Beuys, in der Kunst wurden nicht die Schlachten des 19. Jahrhunderts geschlagen, sondern zwischen Pop Art und Fluxus wurde im Zukunftslabor gearbeitet.

Michael Gratz

Um die obigen Überlegungen provokativ zuzuspitzen: Daß moderne Literatur nicht nur im begrenzten Format eines Buches seinen Platz hat, belegen der Multimediakünstler Peter Meilchen, der Sprechsteller A.J. Weigoni oder die visuelle Poetin Angelika Janz nachdrücklich. Alle vorgenannten Artisten arbeiten sowohl mehrperspektivisch, als auch interdisziplinär. Ein Ansatz, der bei den germanistischen Fliegenschißdeutern keine große Beachtung findet, weil die Rezeption von Literatur im Gegensatz zu der von bildender Kunst größtenteils im 19. Jahrhundert steckengeblieben ist. Die Literaturtheorie sollte daher im 21. Jahrhundert zu einer dienenden Rolle zurückfinden und endlich ihre Unterwürfigkeit ablegen. Das Werkzeug für Buch, Katalog und CD-Projekte, die mehr darstellen, als die Summe der Einzelteile: Der Stift, das Papier, das Klebstoff. Das Mikrophon, das Aufnahmegerät, das Mischpult. Zwischen den Bildern und Tönen kommt ein Bruch zur Sprache. „Ideen bestehen aus Buchstaben, Gemälde bestehen aus Pigmenten, einer Leinwand und internen Raumbeziehungen. Musik besteht aus konventionsbestimmt arrangierten Tönen.“, das wäre der Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit der Künste und der Möglichkeit das Denken in Bewegung zu halten. KUNO wird sich auch im nächsten Jahrzehnt für transmediale Projekte engagieren, bei denen ein künstlerischen Projekt durch die mitwirkenden Artisten mehr ergibt als die Summe seiner Teile.

Das Ergebnis sind Textgebilde die auf beiden Ebenen wirken, der visuellen und der semantischen. Ein verblüffendes Ergebnis, das das Bildhafte des Textes, und zwar über das konkrete Gebide hinaus, in den Blick und ins Bewußtsein treten lässt. (Ästhetische Prothetik)

Jan Kuhlbrodt

Das Imaginierte erweitern das, was Sprache nicht ausdrücken kann. Die visuelle Poetin Angelika Janz hat ein Händchen dafür verschiedene Genres miteinander zu verknüpfen, man findet Einsprengsel aus Philosophie und Physik oder Wirtschaft und Kunst oder alles zusammen. Ihre künstlerischen Feldforschungen erstrecken sich auf die Bereiche Lyrik, Prosa, Essay und Visuelle Poesie. Dabei arbeitet sie intermedial und interdisziplinär, das hießt, dieser Freigeist ist nicht auf bestimmte künstlerische Disziplinen wie Literatur, bildende Kunst, Film, Fotografie, Computer und sofort eingrenzbar. Diese Artistin realisiert ihre Arbeiten zwischen allen Künsten und damit auch zwischen / mit allen verfügbaren Medien. Ihre Werkzeuge sind unter anderem Schreibmaschine, Stempel oder Letra-Set, unter der Arbeit entsteht aus der Lesbarkeit der Welt ein neuer Text, der sich mit der komplexen Ereignis-, Ding- und Sprachwelt facettenreich und hintergründig auseinandersetzt. Dies setzt Janz mit gediegener Professionalität in Hörspiele, Rundfunkbeiträge und lyrische Performances, interaktive Kunstaktionen, Ausstellungen, Vorträge, Kunst- und Literaturkritik, sowie die Arbeit mit Musikern um. Diese Arbeiten grenzen sich ab gegen Kalligraphie und typographische Kunstformen, in denen eine neue visuelle Form für bereits existierende Texte gefunden wird. Janz interessieren die Nahtstellen und Grenzen korrespondierend-fragmentarischen Arbeitens in eine Bild- und Wortsprache, jenseits gegenseitiger illustratorischer Deckungen. Das Zugeordnetsein, das scheinbar Aneinandergenähtsein von Bild und Text, ob gegenständlich oder konkret – immer findet eine gegenseitige Erweiterung formaler und inhaltlicher Wirkungen statt, es entsteht etwas „Drittes“.

Lautagregate – Klänge beleuchten die Zwischenräume der Poesie.

Die Produktion eines Kunstwerks geht mit Selbstvergessenheit einher. Als Existenz-Experimentator schuf Carlfriedrich Claus ein Gesamtwerk von mehreren hundert Tonbandkassetten mit Artikulationen, Sprachblättern, Handzeichnungen, Büchern, Druckgrafiken, Briefen etc. Seine Arbeiten hatten den Anspruch den Rezipienten ganzheitlich zu fordern. Seine Arbeiten können stets als ein Selbstexperiment erfasst werden. Zu Beginn schrieb Claus konkrete Gedichte auf der Schreibmaschine. Diese Lyrik hatte u. a. Natur und Zeit zum Thema. Später werden die Motive „Klang“ und „Vibration“ wichtig und er schrieb mit der Hand. Claus Literatur ist experimentell und kann nicht einfach kategorisiert werden. Beim Anfertigen seiner „Sprachblätter“ oder auch „Vibrationstexte“ artikulierte er (teilweise) gleichzeitig, sodaß es quasi ein Werk auf mehreren Ebenen darstellt. Eine Ahnung der Ganzheitlichkeit des Werkes kann der Rezipient z. B. beim Besuch des Sprachraumes AURORA bekommen. „Ich frage mich nach dem Entstehen eines Sprachblattes oft: wie groß ist hier der Anteil von noch nicht Gewordenem im Körper, das sich ohne gleichzeitige Umsetzung, also sozusagen das Bewußtsein überholend, durch die Bewegung der Hand manifestiert, wie groß der des noch nicht im Bewußten im Bewußtsein, speziell im Sprach-Bewußtsein, wie groß der des nicht mehr des Bewußten, und tauben Gerölls.“ Claus Werk ist transmedial. Bei der Rezeption der „Sprachblätter“ und „Lautprozesse“ soll der Rezipient seine Wahrnehmung erweitern. Klang und Bild als symbolhaft-diskursive Momente der Kommunikation werden zerstört. “In den Auflösungen und Unterbrechungen erhalten sich jedoch die Möglichkeiten für neue, bisher nicht bedachte Bezüge und Ausrichtungen. Ein statisches bloßes Wahrnehmen solcher Zerstörung könnte einen vernichten; ein handelnder tätiger Realismus wäre dagegen auf eine andere Wahrgebung hin gerichtet”, so Claus. Denken als Sprache und Schrift bilden eine Landschaft. „Phantasiegeleitete Reaktionen und intellektuelle Reflexionen sollen sich durchdringen“. Claus versucht in seiner Arbeit die Latenz der Sprache offenzulegen und ihre Tendenz sichtbar zu machen. Er kombiniert ihre Elemente neu und „kündigt sie [die Grundannahme der modernen Linguistik] auf […]. Er experimentiert mit der Vorstellung, daß von den Zeichenträgern der Sprache, von der Schrift und den Sprechlauten, also von der „Substanz“ ihrer Klänge und Kuvaturen, so etwas wie „strukturelle Informationen“ ausgehen“. Wenn auch einige von Claus’ Werken sehr graphisch aussehen, so hat Claus selbst sich immer als Literat gesehen. Er sagte: „Ich betrachte mich im Grunde nicht als bildenden Künstler, sondern als Literat“. Obwohl Claus Werke teils für den Rezipienten ohne Lupe kaum lesbar waren, weigerte sich Carlfriedrich Claus bis in die 1990er Jahre seine Werke vergrößert ausstellen zu lassen. Er wollte, daß der Rezipient in engem Kontakt mit dem Werk kommt und beim Anfassen und Wenden (der Sprachblätter) selbst einen Prozess vollzieht.

Es ist Zeit, der Stimme wieder Achtung zu erweisen, ihr unsere Worte, unsere Töne zu übertragen… Es ist Zeit, sie nicht mehr als Mittel zu begreifen, sondern als den Platzhalter für den Zeitpunkt, an dem Dichtung und Musik den Augenblick der Wahrheit miteinander haben… wem würde da, wenn sie noch einmal erklingt, wenn sie für ihn erklingt! – nicht plötzlich inne, was das ist: Eine menschliche Stimme.

Ingeborg Bachmann

Randständigkeit ist das Lebensprinzip der Poesie. Vom Rand aus arbeiten wir seit 1989 auf dem Online-Magazin Kulturnotizen (KUNO) daran, den Kanon zu erweitern. Die Idee zum Projekt Das Labor ist ein viertel Jahrhundert alt. Wer über hinreichend Neugierde, Geduld, Optimismus und langen Atem verfügte, konnte in den letzten 25 Jahren die Entstehung einer Edition beobachten, die weder mit Pathos noch mit Welterlösungsphatasie daherkam. Über die allmähliche Verfertigung einer projektbezogenen Arbeit erfahren Sie im Konzept der Edition Das Labor. Die zeitliche Abfolge der projektorientierten Arbeit ist nachzuvollziehen in der Chronik der Edition. KUNO interessiert sich für die Musikalität eines Gedichts, der klanglichen und melodiösen Qualität seiner Prosodie. Sie gilt als Kategorie, die den Gesamt-Eindruck eines Gedichts wesentlich moduliert und deshalb auf ihre Stimmigkeit hin sorgfältig geprüft werden sollte, was letztlich zu phonologischer Analyse führt. Wir schätzen das poetische Gewirr aus Dialekten, Fachsprachen, Stilwechseln, Redensarten, Neologismen und Lautmalereien. Porträts von überaus geschätzten Lyrikern finden Sie in unserem Online-Archiv, z.B. eine Würdigung des Herausgebers und Lyrikers Axel Kutsch im Kreise von Autoren aus Metropole und Hinterland. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über Ulrich Bergmann, A.J. Weigoni, zur Lyrik von HEL = Herbert Laschet Toussaint, André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Holger Uske, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, Sibylle Ciarloni und Joanna Lisiak. Lesen Sie auch die eine Würdigung von Theo Breuer oder eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer.

Die Klassiker des Andersseins

Conclusio: Hinter der Identifikationsformel von der „Solidarität der Solitäre“ (Hans-Ulrich Prautzsch) versammeln sich die KUNO-Autoren ebenso, wie in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.

Mit dem KUNO-Online-Archiv versuchen wir dieses Wissen auch weiterhin recherchierbar zu halten.

 

…will be continued…

 

 

Satyr mit Lyra

Weiterführend Die Redaktion blieb seit 1989 stets in Äquidistanz.

1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie

→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie

→ 2015 fragen wir uns in der Minima poetica wie man mit Elementarteilchen die Gattung Lyrik neu zusammensetzt.