Präludium – Sprache als Medium des Denkens
Es beginnt immer mit einem Wort. Einem Wort, das Strahlkraft besitzt und mich buchstäblich im Moment der Entdeckung überzeugt. Fast magnetisch werden aus dem Umfeld weitere Worte angezogen und im freien Spiel der Kräfte auch wieder abgestossen. Die Ausrichtung dieser ‚Sprechspäne‘ erfolgt nicht nach physikalischen, sondern nach poetischen Gesetzen. In einem Prozess der VerDichtung fädeln sich diese Worte zu einer Zeile auf. Darum herum gruppieren sich Wortfelder, die sich zu einer Strophe formen lassen.
Anregung kommt zumeist aus dem nicht–sprachlichen Bereich. Ich schreibe mit einer Sprachmelodie im Kopf. Nutze Töne zur Inspiration. Meine schriftlichen Zeichen beziehen sich auf sprachliche Äusserungen, dies können Wörter, Silben oder auch einzelne Laute sein; wichtig ist, dass Schriftzeichen diesen doppelten Bezug enthalten und insofern abgeleitet sind.
Ich setze mich nicht mit einer Idee hin, die ich kommunizieren will und dann in ein Gedicht packe. Es hat nicht so viel mit mir zu tun. Sicherlich geht alles durch den Filter meiner Erfahrung, steht dafür, wer ich bin. Trotzdem ist es für mich eher so, dass sozusagen ‚auf der Strasse‘ Gedichte sind, die warten, von mir entdeckt zu werden. Das ermöglicht eine Flexibilität im Einzelnen, jene kaum wahrnehmbaren Nuancierungen des Tempos zum Beispiel, die so bewegende Wirkung erzielen können. Und nicht zuletzt erlaubt es jenes vornehme Zurückgehen ins Leise.
Verständnisarbeit: Das Lösen der Zunge ist immer noch eine heikle Arbeit; Dialekte, Fachsprachen, Lieder und Sprichwörter – im Gedächtnisspeicher lagern die unzählbaren Tonarten der Poesie: vom Barock bis zum DaDaismus und der so genannten ‚konkreten Poesie‘ klingen sie in jedem Sprechen an. Unter der Arbeit vergesse ich das Einfache nicht: Sprache ist ein Werkzeug. Ein Mittel der Verständigung, ein Spiegel der Wirklichkeit. Sprache schafft Realität, mit Worten und durch Worte konstruieren wir Welt. Menschen haben Poesie und Musik entwickelt, eine Sprache, mit der sich vieles ausdrücken lässt, auch vieles scheinbar Überflüssige. Alles ist möglich, nichts steht fest.
Im Fluss, in Fluss, das Unvollendete reizt als lustvoll offene Form. Die Avantgarde–Praxis, Texte in Phoneme zu zerlegen und sie damit als semantische Botschaften unkenntlich zu machen, radikalisiert sie noch. Ich kann zuwarten. Die Leere und die Stille aushalten. Wir können nicht sicher sein, ob ein Gedanke nicht schon vor uns ausgesprochen worden ist. Unser ABC kennt die Trauer ebenso wie das Lachen, die pathetische Geste aber auch das zwinkernde Augenlid.
Vor einer Generation wurde proklamiert, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne, die Würde eines Genres erweist sich allerdings darin, dass man es wie ein Kaleidoskop betrachten kann: Je nach Blickwinkel lässt es unterschiedlichste Brechungen zu. Ich spüre die Ambivalenz der Zeit in der bürgerlichen Kritik an der Globalisierung, aber auch die Hilflosigkeit des Bürgertums, ihre kulturellen Werte ins 21. Jahrhundert herüber zu retten. Es erscheint mir angezeigt, die Balance zwischen Satire und Tragödie zu finden, die Schmerzmomente ernst zu nehmen und ihnen damit Menschlichkeit zu erlauben.
Da der Mensch nicht mehr Natur ist, sollte er wenigstens in seiner Sprache so natürlich, so aufrichtig wie möglich sein, und eine gegenwärtige Sprache finden, die sich öffnet für das Mysterium der Dinge. Poesie ist kein Teil der Natur, vielmehr siedelt sie sich mit einer überwältigenden Unabhängigkeit in einem neuen, ausserräumlichen Aktionsfeld an, wo sie die Natur nicht nacherzählt, sondern spielend inszeniert mit Hilfe jener Instrumente, die man gemeinhin ‚Bilder‘ nennt. Unter der Arbeit geht es mir um Einschreibung und die stete Umschrift des Erlebten. Dafür braucht es Zeit. Zeit zum Nachdenken. Und genau diese Zeit lässt einem die beschleunigte Gegenwart kaum noch. Gedichte müssen aus Not und Notwendigkeit entstehen und nicht als Geschäftsgrundlage. Lyrik ist eine Kunstdisziplin, die ihren Weg von unten nach oben antreten muss. Sonst ist sie für mich nicht glaubwürdig.
Nach Jacques Derrida erfüllt das Gedächtnis eine zentrale psychische Funktion, er sieht in ihm gar „das Wesen des Psychischen selbst“. Die Arbeit des Erinnerns stellt die Gelenkstelle von Innen und Aussen dar, von materieller und psychischer Realität, von körperlichen und psychischen Prozessen. Die zentralen Metaphern für diesen Vorgang sind die der ‚Umschrift‘. Die Annahme, dass der psychische Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift, erfährt. Das wesentlich Neue an dieser Theorie ist die Behauptung, dass das Gedächtnis nicht einfach, sondern mehrfach vorhanden ist, in verschiedenen Arten von Zeichen niedergelegt. Diese These von der mehrfachen Kodierung und Umstrukturierung von Gedächtnisinhalten im Sinne von nachträglichen Umschriften führt auch zum Kern der Kreativität.
Rekurs: Die Metapher der ‚Erinnerungsspur‘, verweist auf die Vorstellung, dass das, was jemand erlebt und was ihm widerfährt, einen Eindruck hinterlässt, der auf ganz bestimmte Weise in dem Körper eingeschrieben wird. Während frühere Abbildtheorien davon ausgingen, dass die Sinneseindrücke unverändert im Gedächtnis gespeichert und ebenso wieder abgerufen werden können, bestreiten neuere Theorien diese Unveränderlichkeit und betonen die Rolle der künstlerischen Verarbeitung dieser Eindrücke. Erinnerungen wären demnach keine schlichten Abbilder erlebter Szenen, sondern stellen komplexe Konstruktionsleistungen dar. Das Verhalten und Erleben schlägt sich demnach nicht einfach „so, wie es ist“ nieder, sondern hinterlässt Spuren, die auf verschiedene Weise geprägt werden.
Lyrik wird nicht willkürlich konstruiert, die bewusste, konflikthafte Dimension früherer Erlebnisse drängt zu fortwährend neuen Umschriften. Eine genauere Vorstellung, wie solche Verarbeitung aussehen könnte, bietet die Theorie der Interaktionsformen von Alfred Lorenzer. Sie handelt davon, wie die Interaktionen eines Autors einen Niederschlag in der psychischen Struktur finden. Nach neuesten Theorietrends in der Neurobiologie sagt man: wie es „mentalisiert wird“. An der Schnittstelle von der sensomotorischen zur symbolischen Interaktionsform wird das Interaktionsmuster nicht nur auf der Ebene der Sinneswahrnehmung, sondern auch auf der Ebene der Sprache niedergelegt; die Interaktionsform wird mit einem Sprachzeichen verbunden. Aus einer Vielzahl von einzelnen Interaktionen bilden sich Produktionsformen. Neurobiologisch entsprechen dem bestimmte Konstellationen von neuronalen Bahnungen oder Vernetzungen, die bei einem Lyriker ihren Ausdruck in der Poesie finden.
Die Kombination der Wortfelder zu Strophen gleicht einem architektonischen Plan. So wie eine Partitur die Behauptung beinhaltet, dass etwas entstehen kann, ergeben meine Wortfelder nach einer Zeit der Überformung des lyrischen Materials so genannte Rohlinge. Bei dieser Transformation nehme ich die Theorie der ’schöpferischen Zerstörung‘ zum Anlass, Poesie zu überformen. Die ‚Schöpferische Zerstörung‘ ist ein Begriff aus der Ökonomie, der von Joseph Alois Schumpeter popularisiert wurde. Die Kernaussage lautet: „Jede ökonomische Entwicklung baut auf dem Prozess der schöpferischen beziehungsweise kreativen Zerstörung auf. Durch die Zerstörung von alten Strukturen werden die Produktionsfaktoren immer wieder neu geordnet. Die Zerstörung ist also notwendig, damit Neuordnung stattfinden kann.“ VerDichtung bedeutet daher, an der Verflüssigung zu arbeiten und Vergegenwärtigung anzustreben.
Mit der Erfindung des Buchdrucks wurden Zugang und Verteilung von Wissen nachhaltig verändert. Das bisherige Selbstverständnis der Dichter wurde in Frage gestellt. Das Weltnetz revolutioniert den Wissenszugang noch radikaler als der Buchdruck. Was an Wissen nicht nachgefragt wird, verkommt zur Marginalie. Umgekehrt erschliesst das Weltnetz abgelegene Spezialgebiete und abseitige Expertisen. Marginalien erhalten auf diese Weise eine zweite Chance. Die Quantitätsspirale dreht sich somit nicht in Richtung Exzellenz. An der Schnittstelle mit der Qualitätsspirale treffen Daten und Informationen auf Wissen, Verstehen und Weiter–Verarbeiten. Es gibt Inhalte, die man übers Internet einfach nicht austauschen kann. Ansonsten aber stelle ich immer mehr Gemeinsamkeiten zwischen der postindustriellen Gesellschaft und vorschriftlichen Kulturen fest. Im Internet organisieren sich die vereinzelten Artisten wieder wie ursprünglich Stämme, die über die Fingerspitzen, Augen und Ohren miteinander verbunden sind. Die Verständigungsgrundlage sind Zeichen, Symbole und Sounds. Das verändert jede Vorstellung nationaler oder lokaler Arten der Kommunikation – hoffentlich zum Positiven. Während sich die Schere zwischen Theorie und Praxis weiter öffnet, wächst die Distanz zwischen Wirtschaft, Wissenschaft und kulturellem Leben. Es gilt, sich für ein Mehr an interkultureller Kompetenz einzusetzen und eine Vielfalt zu erschliessen. Nach diesem ironischen Beipacktext ist Lyrik: 58 Prozent Poesie, 11 Prozent Theorie, 31 Prozent Philosophie.
Ein Spannungsfeld offenbart sich in der Gegenläufigkeit von Ganzheitlichkeit und Spezialisierung. Immer mehr Lyriker bewegen sich innerhalb des Literatur–Betriebs der Selbstreferenzierung. Sie suchen im Weltnetz die herkömmliche Geschlossenheit der Literatur zu erhalten. Unbemerkt unterlaufen sie aber dabei, was Schriftstellerei ausmacht: Ganzheitlichkeit. Von hier aus ist es nicht weit zur Spezies der Transferspezialisten, die das erarbeitete Wissen in Poesie übersetzen. Poesie zu verfertigen, ist zu 89 Prozent Instinkt, diese Inspiration nutzt allerdings überhaupt nichts, wenn man kein Hirn hat, um Poesie durch Faktenwissen in der Sprache zu verorten. Diese Dialektik von Intuition und Informiertheit macht Lyrik erst zur Poesie. „Die Form folgt der Funktion“, dieser Lehrsatz gilt noch. Funktion bedeutet: etwas gestalten, das versöhnt mit dem Verlust des Realen. Aus den Rohlingen, die nach meinen VerDichtungen entstanden sind, kann nach einer Zeit des Nachdenkens, des Weglassens und der Überformung ein Gedicht entstehen. Auch dies ist nur vorläufig. Ein Gedicht ist immer erst fertig, wenn es der Poet nicht mehr ändern kann. Dann kann es vom Leser weitergedacht werden…
I – Die Worte abklopfen und in den Silben sesshaft werden
Um dem Wort Gestalt zu geben, entwickeln sich meine Gedichte zwischen Symbol und Laut. Die Produktion von Sprachlauten ist ein physikalischer Vorgang, den man exakt beschreiben kann. Ein M beispielsweise kann man nur mit geschlossenen Lippen hervorbringen, egal in welcher Sprache. An einem Stehpult erarbeite ich die Rohlinge in einem phonographischen Prozess. Woche für Woche werden die einzelnen Wortfelder in unterschiedlichen Variationen lautmalerisch und rhythmisch überprüft. Poesie betrachtet die Welt als Klang–Rede und Wort–Laut.
Dass Musik eine Sprache ist, mit ganz eigenen Mitteln Botschaften überbringt, hat sich im Wesentlichen im Barockzeitalter ausgeformt. Einige dieser damals entwickelten Grundsätze haben ihre Wirksamkeit bis heute nicht verloren. Mit der Poesie versuche ich den richtigen Ton zu treffen, Musik als eine Sprache zu verstehen und das verborgene Zauberwort zu finden.
Eine Komposition verstehe ich wie ein Gespräch, als Monolog, Konversation, oder als Disput. Eine wohleingerichtete Sprachmelodie muss mit der Deutlichkeit der klar strukturierten Rede entworfen werden, um schliesslich durch eine Anordnung aller Teile und Umstände, durch Ausarbeitung und Zierde zum melodischen Kunstwerk zu gedeihen. Dem hellen Tag gehört die Ratio, die Logik, das Wort, an dessen Grenzen erst „jene andere Welt“ beginnt, aus der, wie Richard Wagner sagt, „der Musiker zu uns spricht“. Demzufolge spricht der Musiker, während der Dichter komponiert. „Wir waren genährt von Musik“, bekannte Paul Valéry, „und unsere literarischen Köpfe träumten davon, mit Worten täuschend ähnliche Wirkungen zu erzielen, wie sie die Töne auf unsere sensiblen Wesen ausübten.“
Die Musik zur Sprache bringen und die Rede auf die Musik. Für mich ist das Schreiben ein ständiger Dialog mit dem Material, für das ich mich einmal entschieden habe. Dann muss ich genau das tun, was das Material möchte. Ich höre in den Wortklang hinein. „Aushören“ war der Begriff, den Schönberg am meisten verwendet hat, genauso wie später dann auch Hanns Eisler seinen Schülern gegenüber. Würde ich gegen den Organismus verstossen, würde sich das Material sofort wehren: Denn Konstruktion ist zwar wichtig, die Letztentscheidung aber treffe ich selbst. Die musikalisch–rhetorischen Figuren dienen der Bereicherung der Klangrede in ornamentaler wie expressiver Absicht: als Schmuck, Zierrat und Verblümung des Vortrags, aber wesentlicher noch als ein System, beinah ein Vokabular des musikalischen Ausdrucks.
Wem das Scheitern aufgegeben ist, der darf zumindest dessen Wahrheit nicht preisgeben. Das eigensinnige Zirkulieren verlangt mehr Kraft als das progressive Sich–Treibenlassen. Die Verbindung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem lässt sich nicht greifbar machen, aber auf ihr beruhen meine VerDichtungen. Es ist für mich nicht überraschend, dass alle Versuche, die Sprache selbst greifbar zu machen, entweder auf das eine oder auf das andere Phänomen zielen. Aristoteles lehrte, dass „gesprochene Wörter Symbole der Bewegungen der Seele und geschriebene Wörter Symbole gesprochener Wörter“ seien. Diese „Bewegungen der Seele“ nennt man heutigentags sachlich: Begriffe. Die Verschränkung von Schriftlichkeit, Bildlichkeit und Tonalität, von Literatur, bildender Kunst und Musik, bildet die Grundlage meiner Arbeit als VerDichter.
Mein Ansatz setzt sich von Vorläufern wie dem „Vers libre“ (Arthur Rimbaud), den „Calligrammes“ (Guillaume Apollinaire), den eruptiven Wortreihungen der Futuristen und dadaistischer Lautpoesie ab, es ist ein durchdachtes Konzept einer Integration von Zeichen und Bedeutung. Der Verzicht auf Umlaute, der Einsatz von Sonderzeichen und der exakt gesetzte Zeilenbruch sollen die Wahrnehmung abbremsen… und beim Lesen die Zeitlupe einschalten.
Das Auge folgt ungewohnten Derivationen der Schriftsprache, vom kleinsten Teilchen, Phonem (Graphem), springt der Blick auf das grosse Ganze und zurück auf das Buchstäbliche; dabei lassen Differenzen erkennen, wie fragwürdig die Annahme ist: Sprache = feststehendes Repertoire und Regelwerk.
Es ist eine doppelte Lust, am Text und am Klang zu feilen, an Tautologien, Wortspielen, laut– und wortmalerischen Konstellationen und am Ausserkraft–Setzen von Sprachregeln. Demontage und Dekonstruktion sprachlicher Strukturen setzen kreatives Potenzial frei; getrennte Gattungen der Bildlichkeit und der Tonalität finden zusammen. Jede Antwort kann immer nur vom denkenden Einzelnen verantwortet werden.
Erkenntnis als Begehren, Wissen als Lust. Es liegt nahe, Kriterien guter Literatur auch in poetischer Sprache zu benennen. Man kann das klassisch in der Sprache des liberalen Bildungsprotestantismus beschreiben, auch wenn es heutigentags etwas hölzern klingt: „Poesie dient im gelingenden Fall der Persönlichkeitsbildung.“ Für solche Bildungsprozesse ist Selbstbegrenzung grundlegend. Gute Poesie befördert die Einsicht, dass freie Vernunftwesen sich verfehlen, wenn sie Freiheit als Selbstentgrenzung missverstehen. Der Lyrik fällt es leichter als der Musik, die kreative Zeichensprache in ihren Kanon zu integrieren, und so nennt sich die freie Sprachgestaltung dieser Gattung zwangsläufig Poesie.
In der Lyrik des 21. Jahrhunderts finden sich Abraum, Geröll und Spurenelemente der filmischen Montage. Im Umschnitt auf die Totale eines Orts finden sich VerDichtungen. Das Verhältnis von Raum und Figur ist nicht mehr zusammengehalten von einer Strophe, verloren sind die harmonische Stimmung und Gestimmtheit von Vordergrundfigur und Hintergrundlandschaft. Zu beschreiben sind, unter dem Brennglas der Poesie, Menschen, die den Halt im Raum verloren haben. Zu dieser Klangfarbe assoziiert man technoide Klänge und den Industrial–Sound entvölkerter Landschaften. Die Beliebigkeit des Raums in der Lyrik ist nichts anderes als das Verschwinden der Selbstverständlichkeit der Lebenswelt, der die Poesie auf der Spur ist. Der beliebige Raum ist kein Ort, er ist ein Zustand. Meine Diagnose lautet: Die Geopoetik muss das Lokale nicht blind einer ästhetischen Globalisierung opfern.
Literatur ist Teil des kapitalistischen Kreislaufs, aber darin ein Rätsel. Das grösste von diesen Rätseln ist vermutlich die Lyrik. Gedichte kreisen um ein schwarzes Loch des Absoluten, von dem man nur das zeigen kann, was noch dem Leben angehört. Mit exzellenter Technik – oder dem Verzicht darauf – erreicht ein Lyriker vielleicht den Anschein des Lebens, aber drückt er auch sein Zuviel aus, das über die Ufer tritt, jenes Irgendetwas, das vielleicht die Seele ist. In manchen Momenten ist diese Poesie dem Geheimnis der lyrischen Alchemie auf der Spur: wenn ein Wortbruch, ein Zeilensprung und eine liebevoll angerichtete Metapher uns plötzlich kostbar wie pures Gold erscheinen – weil sie ohne ein Bild alles sagen.
II – Tradierte Werkkonzepte neu definieren
Wenn die Wahrheit zum Klischee wird, verbirgt das Klischee nichts mehr: „Der Dichter ist ein Zauberer. Seine Sprache will keine Mitteilung. Oft ist sie so dunkel, dass sie der Dichtende selbst nicht versteht“, diese romantische Sentenz des Novalis wird heutigentags in Stunden der wahren Empfindung erforscht. Wo der Dichter noch Rhapsode ist, kann das Publikum seine eigene Unbehaustheit und die „transzendentale Obdachlosigkeit“ vergessen, die Georg Lukács im modernen Roman ausfindig gemacht hatte. Sprache ist heutigentags ein Instrument, um Bedingungen der Entstehung und Wahrnehmung von Welt zu erforschen. Gedichte sind freie Zeichen, die auf keinen schon fertigen Code bezogen werden können, sondern die ihre Leser zum Entwerfen neuer Zeichensysteme herausfordern. Aus dieser Sicht verkörpert jedes Gedicht durch seine spezifisch ausdifferenzierte Gestalt eine multiple und komplexe Bedeutung, die nicht unmittelbar auf der Hand liegt, sondern die es im Prozess einer ästhetischen Reflexion erst und immer wieder frisch zu ergründen gilt. Die ästhetische Qualität eines Gedichts erweist sich darin, ob sich seine Gestalt bis in die Details hinein durch diesen vom Betrachter auszulotenden semantischen Gehalt erklären lässt; ist das nicht der Fall, hätten wir es mit einem Zeugnis blosser künstlerischer Willkür zu tun.
Wenn man sich auf die Unwägbarkeit der Poesie einlässt, muss man den Mut zum Fragmentarischen haben, zuwarten können, bis sich eins zum anderen fügt, und kann doch nicht gewiss sein, ob man dann ein Gedicht „abgeschlossen“ hat. In seiner »Phänomenologie des Geistes« vergleicht Friedrich Hegel die Handschrift mit der Stimme: „Die einfachen Züge der Hand also, ebenso Klang und Umfang der Stimme als die individuelle Bestimmtheit der Sprache, – auch dieselbe wieder, wie sie durch die Hand eine festere Existenz als durch die Stimme bekommt, die Schrift, und zwar in ihrer Besonderheit als Handschrift – alles dies ist Ausdruck des Innern.“ Die vielgestaltige Form des Ausdrucks dieses „Innern“ muss allerdings erst registriert und dechiffriert werden.
In den Gezeiten der Erinnerung schwimmen die Vergangenheit und der Tod, Vergesslichkeit und Wissen, die überwältigende Präsenz des Nichts, das sich wie eine anschwellende Flut langsam über alles Leben hebt. Es offenbart sich die horizontlose Weite eines Raums, dessen Leere schliesslich nur der voluminöse, unhörbare Lärm der Stille füllt. Ich taste mich seit der frühesten Lektüre zu den Wahrheiten jenseits der Sprache vor; kreise um die gleichen, neu justierten Fragen nach dem gegenstandslosen Fluidum eines Ich–Erzählers, dessen inneren Bildern das Gesicht einer autonomen Welt gegenübersteht, die nicht in Worte zu fassen ist.
Als Bewohner der Gutenberg–Galaxis fürchte ich die Konkurrenz des visuellen Steno. Als „Minimalschrift für Analphabeten des hektischen Zeitalters“ spotteten Kritiker über die Sportzeichen der Olympiade 1972. Diese Piktogramme funktionieren, weil sie weniger darstellen. Präzision ist der Schlüssel dieser konkreten Poesie. Das A war in seiner ursprünglichen Form – das heisst: auf dem Kopf stehend – das Zeichen für: Rind! Der gehörnte Stierkopf stand als Symbol für das ganze Rindvieh, phönizisch: Aleph. Aus diesem Ideogramm wurde im Lauf der Zeit ein einfacher Buchstabe. Zu Beginn des 21. Jahrhundert befinden wir uns in einer Kehre. Das Abbild des Rindviehs wird auf einem Verkehrsschild als Warnbild neben der Landstrasse aufgestellt.
Piktogramme werden für die Kreuzungen des modernen Lebens entworfen, für Verkehrsdrehscheiben und internationale Grossveranstaltungen. Diese Hieroglyphen sind die Verkehrszeichen der Globalisierung. Die neue Einfachheit einer globalen Gesellschaft müssen wir nur noch lesen lernen, um die Wahrheiten jenseits der Sprache zu dekodieren!
Dadurch, dass man zum Erkennen von Zusammenhängen und damit zum Finden eines Grössenmassstabs auf das Alphabet als Zeichensystem angewiesen ist, gewinnen die Buchstaben ein Gewicht. Gleichzeitig steigern sich die formalen Werte von bildlichen und alphabetischen Zeichen gegenseitig, so dass man kaum umhin kann, hier ein Ineinandergreifen verschiedener Zeichensysteme als Zeichensysteme zu bemerken. Obschon ich mir Literatur ohne den Geruch von Druckerfarbe und Leim nicht vorstellen kann, betreibe ich mit der Lyrik die poetische Auseinandersetzung mit den so genannten Neuen Medien. Es ist kaum möglich, zwischen persönlichem Erinnerungsbild und öffentlichem Medienbild zu unterscheiden. Die gewohnte Grenze zwischen Privatem und Öffentlichem wird im Gebrauch der neuen Technik verschoben. Manchmal scheint es gar, als füllten Bilder nur noch die Leerstellen zwischen der Schrift. Eine virtuelle Realität ist meiner Anschauung nach nur dann sinnvoll, wenn sie eine andere Art von Sinnlichkeit ermöglicht. Ideal wäre es, wenn ein Gedicht im 21. Jahrhundert gegenständlich und transzendiert zugleich wirkt und mehrere Bedeutungsebenen darin zusammenflössen.
„Es ist aber bei weitem das Wichtigste, dass man Metaphern zu finden weiss. Denn dies ist das Einzige, das man nicht von einem anderen erlernen kann, und ein Zeichen von Begabung“, bemerkte Aristoteles. In der Poesie ist das Metaphorische das Mittel schlechthin, den Lesern Erfahrungsräume und Perspektiven zu öffnen, die ihnen bislang verschlossen waren – indem Assoziationsketten geknüpft werden, die „Verstehen“ ermöglichen. Das Metaphorische ist ein wichtiges Zeichensystem, über das wir verfügen, aber das auch über uns verfügt. Eine Metapher lenkt immer auch den Fluss der Gedanken, wie ein Flussbett das Wasser. Kein Fortschritt des Wissens ohne den Mut zum Metaphorischen. Aber einen neuen Kontinent des Wissens erobert man oft erst dann, wenn man sich von den feinen Fesseln der Metapher befreit. Oder, um es pathetisch zu sagen: Die Metapher ist eine Brücke zur Wahrhaftigkeit. Damit habe ich als Lyriker ein Problem, ich lüge wie gedruckt und bin doch der Wahrhaftigkeit verpflichtet. Wie aber wahrhaftig bleiben, wenn ALLES schon einmal dagewesen ist? Was verdichtet man, wenn man seine Sprache wiedergefunden hat? Im neuen, wirklicheren Leben. Mit alten Strophen einen neuen Reim machen? Oder sich der Weltraumkälte der Freiheit stellen?
In westlichen Gesellschaften wurde die Autonomie des Individuums als Prinzip verinnerlicht, der einzelne Mensch schafft in immer grösserer Unabhängigkeit genau diejenigen kleinteiligen Glaubenssysteme, die seinen eigenen Bestrebungen und Erfahrungen entsprechen. Es ist ein rein emotionaler und personalisierter Transzendenzbezug im Dienste der Selbstverwirklichung zu beobachten, der den Einzelnen nur auf ein seiner sozialen Befähigung entsprechendes standardisiertes Set von Symbolressourcen zurückwirft. Das Bedürfnis nach Subjektwerdung kann niemals wirklich durch den personalisierten Konsum standardisierter symbolischer Güter gedeckt werden.
III – Grenzüberschreitende artIQlationen
Mit der optimistischen Prognose: „Geistiges Eigentum ist das Öl des 21. Jahrhunderts!“, bezieht Mark Getty auch Lyriker als Vorreiter mit ein. Sie arbeiten auf eigene Rechnung und sind Unternehmer ihrer selbst. Von ihnen kann man lernen, die Prekarität auszuhalten. Die kreative Klasse im weitesten Sinn hat auch wirtschaftlich ein bedeutendes Gewicht. Für ökonomische Erfolge sind ohnehin immer mehr die weichen Erfolgsfaktoren wie Lifestyle und das Symbolische verantwortlich, in diesen Fächern sind die Kulturkreativen die Spezialisten. Kein unternehmerischer Erfolg ohne Unternehmenskultur. Keine Marke ohne Markenpersönlichkeit.
Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ist ein Kulturkapitalismus. Alle Wirtschaft und Wissenschaft wäre nichts ohne Elemente von Avantgarde, Exzentrik und mit Ironie gehandhabter Dominanz, die untrennbar zu einer Künstler–Persönlichkeit gehören. Widerspruchs– und geräuschlos kann man nie mit den Institutionen und Gebräuchen der Gesellschaft umgehen. Die Schule der Eigentlichkeit, die Lehre der Langsamkeit und die Wiederentdeckung des Reims sind nicht das geeignete Rüstzeug für die Literatur. Was als künstlerische Vision universale Geltungskraft gewinnt, kann an den Forderungen des Tages leicht zerschellen. Vom utopischen Surplus der Literatur bleibt nicht mehr viel. Statt dieses Mehrwerts liefert die Literatur das, was den Waren zu mehr Wert verhilft. Ob es aber tatsächlich ein Bedeutungsgewinn für die Kultur ist, wie das von den Propagandisten der Creative Industries dargestellt wird, ist freilich ziemlich fraglich. Gewiss, Vorteile sind unübersehbar, besonders für die Kontostände mancher Kreativer und gewiefter Diskursjockeys. Aber das, was der Ökonomie an kulturellen Zuwächsen beschert wird, schlägt sich gesellschaftlich als Defizit nieder.
In einem neoliberalen Literatur–Betrieb, in dem Angebot und Nachfrage durch Leidenschaft und Sehnsucht ersetzt wurden, werden Produzenten gezwungen, eine Vision zu entwickeln, die kulturelle Relevanz vor kaufmännisches Denken stellt. Das wird die Zyklen, in denen die Marketingbranche gesellschaftliche und kulturelle Strömungen aufgreift und vermarktet, weiter verkürzen, bis die Kreisläufe an einen Nullpunkt gelangen, in dem Konsum und Kultur zu einem dynamischen Fluidum verschmelzen. Nachdem der Humanismus den Bann der Transzendenz gebrochen hat, ist die nachhumanistische Avantgarde in einen neuen Bann geraten. Unübersehbar und fragwürdig sind die naturalistischen Verschiebungen im Selbst– und Weltbild. Der Geist hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts schlechte Karten. Er kommt nicht zu Wort in der neuen Grammatik des Körpers. Der Mensch, losgekettet von Religion und Humanismus, ist sein eigenes Projekt geworden, der Körper seine einzige Utopie. Nicht dem Sonnenstaat, sondern dem Astralkörper gilt die Sehnsucht; nicht Gedanken schaffen eine neue Welt, sondern Pharmazie und Chirurgie einen fortwährend sich erneuernden, in der Erneuerung sich zerstörenden Leib. Die Hypermoderne ist die Epoche, in der die Freiheit eine Freiheit zur Selbstschöpfung ist. Das Anforderungsprofil für Autoren hat sich radikal geändert. Der Autor ist ein Dienstleister, der die Entgrenzung von Arbeit und Freizeit als Bereicherung erfahren und unablässig dazulernen muss. Doch selbst wenn er im Fein–Tuning seine ’soft skills‘ überdurchschnittlich entwickelt hat, kann er nicht mehr mit einem festen Arbeitsplatz rechnen.
Finden, Vereinfachen, Versachlichen und Vermenschlichen – das Letzte ist das Schwerste. Vielfalt wird durch die Einheit des Blicks wahrgenommen. Von Maria Lassnig stammt die Erkenntnis: „Die Feder ist die Schwester des Pinsels.“. Wer sich auf die Poesie einlässt, wandert von Texten zu Bildern und wieder zurück zu den Wörtern. Das Silizium des Computers ist dagegen dem menschlichen Körper fern. Silizium lebt ewig. Es braucht kaum Raum, um Datenmengen zu speichern und entzieht sich weitestgehend der Sinnenwelt. Ein Computer liest und arbeitet zigtausend Mal schneller als der Mensch. Computer brauchen kein Papier. Sie benutzen es nur, um mit uns und unserer unerhörten Langsamkeit in Kontakt zu treten. Papier nimmt im Computerzeitalter keine herrschende Rolle mehr ein, sondern eine dienende. Die Zeit der absoluten Vormacht des Papiers ist vorbei. Wir alle spüren, dass das Papier etwas ist, das uns mit der Vergangenheit verbindet, mit einer Tradition, mit der Welt von gestern. In der heutigen Zeit assoziieren wir mit dem Papier – bewusst oder unbewusst – die alte Welt des Körpers.
Ich versuche mit der Poesie nicht nur einen Steg zwischen den Künsten zu schlagen, sondern auch eine Brücke zwischen den Zeiten, und betreibe eine digitale Manufaktur, bei der die Instrumente der neuen Medien zum Einsatz kommen. Als Werkzeuge setze ich einen leistungsfähigen Rechner, Scanner, Laser– sowie herkömmliche Drucker ein. Mit Hilfe der geeigneten Software werden Texte und Bilder verarbeitet und gestaltet. Dieses Material wird auf der Festplatte des Rechners so organisiert und abgelegt, dass es durch einen einfachen ‚mouseklick‘ aktiviert werden kann. Der Buchdruck geschieht dann von der Datei über den Laserdrucker direkt ohne Umwege auf bearbeitetes Werkdruckpapier. Auf den ersten Blick wirken diese Arbeit und das Verknüpfen von unterschiedlichen Techniken widersprüchlich. Ich gehe bei meinen grenzüberschreitenden artIQlationen vom Virtuellen ins Materielle und ziele auf ein älteres Speichermedium, das mittels neuer Medien hergestellt wird. Der Artist ist die Krone seiner ikonographischen Ausschöpfung. Seine Arbeit kreist um den ‚point of no return‘ der poetischen Vollendung. Hinter der Unkörperlichkeit eines Textes, die seine Reproduzierbarkeit garantiert, verbirgt sich der Poet. Die Überlagerung der Welt durch das Wort, ihre beschreibende Übersetzung in Sprache bedeutet einen Schritt zur Poesie.
Poesie ist ein Universum mit vielschichtigen kulturellen Ablagerungen, die unauflösbar ineinander verwoben sind, diese Poesie gehört uns allen. Sie ist enteigneter Text, ‚Open Source‘, als Allgemeingut ohne abgesegnete Autor–Instanz, immer schon „instand besetzt“. Um Wahrheit bestimmen zu können, muss man die Grenzen der dafür benutzten Wahrnehmungsinstrumente begreifen – die Begrenztheiten unserer Sinne und unsere psychologischen Grenzen. Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und die Hirnforschung stellen die wissenssoziologische Annahme einer grundlegenden Verwiesenheit des Wissens auf den sozialen Kontext in Frage, wollen sie doch grundlegende kognitive Prozesse auf der Basis der so genannten natürlichen, evolutionär gebildeten Eigenschaften der Menschen erklären. Es ist die Konsequenz dieses Denkens, das Geist und Kultur in den Kontext naturwissenschaftlicher Konzepte stellt, die Fähigkeiten zur Wissensproduktion und zum Wissenserwerb als angeboren zu verstehen und sie von den spezifischen kulturellen und sozialen Kontexten, das heisst, von Macht und Ungleichheit unbeeinflusst erscheinen zu lassen.
IV —Poesie als Fingerzeig im doppelten Sinne des Wortes
Die entscheidende Frage beim Schreiben lautet: Wo soll ich anfangen? – Was den Leser mit dem Poeten verbindet, ist das Papier. Zwischen Mensch und Papier gibt es eine Intimität, eine geradezu körperliche Affinität. Papier ist dem Menschen ähnlich. Es ist schwach und altert. Der kleinste Unfall, und es reisst. Die Asiaten verehren das Papier für diese Schwäche, die der unsrigen nahe kommt. Das Papier hat sich auf die Seite unserer Verwundbarkeit und Sinnlichkeit gestellt. Papier fühlt sich angenehm an und riecht gut. Bedruckte Papierseiten entsprechen dem menschlichen Lesetempo, unserem Rhythmus. Papier ist ein besonderer Stoff. Es ist dünn und glatt. In kleinen Mengen sind die Blätter leicht, in geballter Ladung gewichtig und womöglich gefährlich. Vielfältig ist das Papier zu nutzen oder zu missbrauchen. Es ist verletzlich und kann verletzen – und nicht nur mit seinen scharfen Kanten. Papier gehört zu den Errungenschaften, die der Menschheit zum Segen gereichen – ebenso knisternd zum Fluch. Und bei Fahrenheit 451 fängt es an zu brennen. Die entscheidende Frage beim Lesen lautet: Wo soll ich aufhören?
Poesie ist ein Mittel der Welterkenntnis, sie bleibt der Stachel im Fleisch der Philosophie. Menschen denken nicht nur in trennscharfen Begriffen, sondern auch in Gefühlen, Bildern, Geschichten, Erinnerungen, Melodien, Wünschen und Ängsten. Roland Barthes hat über die Stimme gesagt, dass die Melodie beim Singen die Sprache bearbeite, „nicht das, was sie sagt, sondern die Wollust ihrer Ton–Signifikanten, ihrer Buchstaben”. Für ihn war die Stimme Ausdruck des Körpers und der Körper Ausdruck der Wahrhaftigkeit des Menschen in der Welt. Poesie ist eine tönend bewegte Form, nichts anderes als die immer neu geschaffene Möglichkeit, in Bildern, Melodien und Gefühlen zu denken und so die klaffenden Risse, die das Denken in Begriffen übrig lässt, zu schliessen. Sie ist eine Sprache des Unsagbaren – die aber manchen letzten Wahrheiten wohl eher nahe kommt, als die Sprache der Verständigung mit ihrer Logik, mit ihrer Eindeutigkeit.
„Die Bestimmung der deutschen Literatur…“, schrieb der Frühromantiker Friedrich Schlegel, sei es, „…durch Universalität zur Religion zur gelangen“. In einer Zeit, in der das Vertrauen in die christlichen Heilslehre brüchiger wurde, gehörte es für ihn zu den Aufgaben der Poesie, eine Kunstreligion zu errichten, die als neues Fundament des Glaubens dienen konnte. Poesie ist seither die Überschreitung des Leidens und damit der Ausdruck von Glück. Grosse Kunstwerke umfassen beides. In der dichterischen Anschauung öffnet sich der Hallraum der Poesie. Diese Poesie kann als Träger eines ästhetischen Codes oder Zeichenkomplexes beschrieben werden, der im Schöpfungsprozess unter den Händen des Dichters in das physikalische Material hineinkonfiguriert wird und der vom Bewusstsein des Rezipienten decodiert werden muss. Das gelingt um so erfolgreicher, je besser die kulturelle und mentale Welt des Künstlers mit der des Sammlers übereinstimmt. Der Code oder Zeichenkomplex übermittelt den Bedeutungsgehalt des Kunstwerks, zu dem selbstverständlich das Bewusstsein des Publikums auch seinen Teil beisteuert. Die Bedeutung überlagert und durchwirkt in unserem Bewusstsein die ästhetische Erscheinung des Gegenstandes und erhebt ihn dadurch zum Kunstwerk. Gesucht wird ein Mythos – zu finden sind viele einzelne Gedichte. Vergeblich hofft man, dass sich zur Idee auch noch ein Gedanke gesellt.
Die Verweigerung von Sinn bedeutet nach wie vor eine Provokation. Es ist nicht einsichtig, warum das immer neue Sprachspiel nach selbstdefinierten Regeln für neue Varianten weniger fruchtbar sein sollte, als hermetische Tiefsinnssuggestion oder prätentiöses Geraune. Die Traditionslinie, die vom barocken Manierismus zur Avantgarde führt, ist nicht notwendig stärker ‚veraltet‘ oder ‚verbraucht‘ als jene, die von Hölderlin zu Celan reicht. Der Sinn der Poesie ist Poesie, nicht Erziehung, nicht Agitation, nicht Propaganda, nicht ein Weg zum Glauben. Poesie ist ein Spiegel, in dem nicht das zu sehen ist, was sich in ihm spiegelt, das ohne Worte zwischen den Zeilen mitschwingt und über den kontrollierenden Verstand hinweg Gefühl erzeugend in die Seele des Lesers trifft. Es ist der Gegensatz, den das Leben selbst in sich birgt. Poesie entsteht aus der Differenz zwischen dem Gesagten und dem Unausgesprochenen, durch sie werden wir zu Erkenntnissen geführt, oft gestossen: Sie ist der Weiher, in den wir schauen müssen. Um dem zu entkommen, hat man eine bloss ästhetisierende, manche sagen: kulinarische Art, mit Dichtung umzugehen. Mal angenommen, die hypermodernen Menschen lesen klassische Literatur, blättern in schönen Büchern… sind jedoch nicht von ihr erschüttert. Die Rolle, die diese Schöngeister der Poesie zubilligen, ist vielfach folgende: sie wollen sie sich dienstbar machen, zähmen – aber auch sich mit ihr brüsten. Da sie im Bereich der Fantasie zu Hause ist, hat Poesie etwas nicht Erklärbares; ihre unsichtbare Macht ist gewaltig und gefährlich, ihre Wirkung subversiv.
Poesie ist eine Waffe des Geistes, sie ist stets oppositionell und souverän, sie lässt sich weder zähmen noch einverleiben. Wissensproduktion vollzieht sich keineswegs unabhängig von den Machttechnologien. Wer nach dem Stellenwert, dem gesellschaftlichen Ort oder den Produktions– und Verbreitungsbedingungen von Poesie fragt, thematisiert immer auch die Strukturen einer Gesellschaft, ihre Ideologien, Ziele und Leitbilder. Das Erstaunen über unerwartetes Wissen und Verstehen, das die Poesie stets weckt, verlangt als Auslöser immer den Augenblick der Vertauschung des kalt Kosmischen mit dem heiss Subjektiven, der Heimholung von sternenfern Allgemeinem in das lyrisch Besondere. Poesie ist in Musik verwandelte Sprache, ein fundamentales Alphabet des menschlichen Denkens, und wird sich, einmal entdeckt, als zuverlässiges und letztgültiges Instrument zur Aufdeckung der Wahrheit erweisen. Hätte man eine Liste aller nicht mehr weiter zerlegbaren Ideen, der begrifflichen Atome, dann wäre die Wahrheitsfindung nur noch eine mechanische Prozedur. Bis dahin muss man sich im VerDichten üben…
Poesie thematisiert innere Abläufe im menschlichen Bewusstsein, sie kann nicht als angeboren oder nur als mentaler Zustand eines Subjekts gedacht werden, sondern lässt sich nur in einem Bezugsfeld von sozialen Praktiken thematisieren. Die hypermodernen Menschen versuchen den Gedanken dazu zu bringen, sich als Gegenstand darzubieten. Sie sprechen nicht mehr vermittels von Wörtern, vielmehr bringen sie die Wörter dazu, sich selbst auszusprechen, sich selbst als Wortdinge zu erzeugen. Sprache als Gegenstand ist demzufolge ein Gegenzug zur Idee als Wort. Diese Menschen geben ihre Autorität an den Gegenstand ab, damit dieser selbst sich als Wortding konstituiert, ihnen bleibt die Aufgabe, das Wort hin und her zu wenden, es unentwegt abzufragen nach seiner Her– und Hinkunft, seiner Assonanz– und Assoziationsfähigkeit, es zu bestätigen in seiner sprachdinghaften Präsenz fern aller Repräsentation. Die Entmythologisierung der Sprache schlägt, als das wesentliche Element des Aufklärungsprozesses, in Magie zurück.
Das Experiment der Aufklärung ist ein Balanceakt zwischen Entgrenzung und vernunftgeleiteter Selbstbeherrschung. Die hypermodernen Menschen leben in einer Zeit, die nicht nur normative Moralvorstellungen hervorbringt, und zugleich ihr Wissen um die Breite des menschlichen Handlungsrepertoires erweitert. Gegen den Absolutismus jedweder Couleur steht das Denken und Existieren auf zwei Ebenen. Sie versuchen ein Denken in Äquivalenzen, dem sich in jeder Struktur mehrere potenzielle Lesarten erschliessen. Es gibt nurmehr graduelle Unterschiede zwischen Konsonanz und Dissonanz, weshalb sie frei sind, die als Obertöne ferner liegenden Konsonanzen als Dissonanzen aufzufassen oder auch nicht. In beiden Positionen ist ein fruchtbarer Widerstreit zwischen Systembewahrern und Systemüberschreitern zu erkennen. Letztere nutzen die Dissonanz, um das künstlerische Besitzergreifen auf die Reize des Verbotenen und Ungewöhnlichen zu lenken. Die eigene Biografie hat nichts fest Gefügtes mehr, weil die Zeichen der Rebellion kommerzialisiert sind. Die Zielgruppe ist an die Stelle der Öffentlichkeit getreten. Die laute Rebellion ist von einer leiseren Form des Aufbegehrens abgelöst worden. An die Stelle der Gegenkultur tritt die Gegen–Ökonomie der eigenen Nische. Hier reflektieren sich banale und basale Erfahrungen, in denen stets die Metaphysik des Alltags mitschwingt, und plötzlich ergibt sich ein Moment von Wahrhaftigkeit, wie man ihn nicht mehr für möglich gehalten hätte. Instinkte entäussern sich ohne unbedingte Rückkoppelung mit der Ratio. Rhetorik im landläufigen Sinne meint den bewusst konjugierten Einsatz der verbalen und gestischen Mittel bei einem öffentlichen Auftritt. Der Widerspruch zwischen diffusen Sehnsuchtsmomenten und kalkuliertem Effekt kommt poetisch zur Sprache.
In Zeiten fortwährender künstlerischer Selbstreflexion, da ästhetische Grenzen beständig hinterfragt, umdefiniert und für jedes Werk neu überprüft werden, fällt es schwer, Entwicklungen zu diagnostizieren. Zu eigenständig sind die Perspektiven und Wege der Schriftsteller am Beginn des 21. Jahrhunderts, als dass sie sich unter wenigen Schlagworten subsummieren liessen. Ich verDichte Dinge langsam, um ihnen Bedeutung zu geben. Langsam, keineswegs langatmig. Poesie verweigert das auratische Format und gewinnt so eine eigene Aura, gerade aus deren Verweigerung. Wie in Heinrich von Kleists wunderbarem Aufsatz ‚Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘ steht nicht fest, was unter der Arbeit passieren wird, es sind vielmehr die Wörter, die sich selbst fortzeugen, die verworren Gefühltes in Gedachtes verwandeln. Manchmal muss ich Worte neu schöpfen, muss den Platz eines Wortes innerhalb des Satzes neu erfinden. Es ist ein Vergnügen, wenn ich dieses Wort finde – und eine Erleichterung. Es gibt eine wichtige Verbindung zwischen den heutigentags auftretenden Depressionen und Ängsten und dem Verfall der Sprache. Die Menschen fühlen, dass sie etwas in sich tragen, das sie nicht mitteilen können. Damit es zu dieser Wort– und Textmagie kommt, braucht es mehr als nur ein rigoroses Konzept; es sind auch Darsteller vonnöten, die über ihre Stimme und ihren Körper als Instrument verfügen, Sprecher, die sich ihr Material aneignen. Die Absicht hier ist ein Versprechen, sie vermittelt eine Ahnung vom Eigenleben der Sprache, wie sie sich entzieht, wie sie schlimmstenfalls nichts preisgibt – oder umgekehrt, wie sie sich in Energie verwandelt und den Raum ausfüllt. Im digitalen Zeitalter geht der Schrift der Sinn und damit die Sinnlichkeit immer mehr verloren; so scheint es. Ich suche die Poesie im ältesten „Literaturclip“, den die Menschheit kennt: dem Gedicht.
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Der Schuber, Werkausgabe der sämtlichen Gedichte von A.J. Weigoni. Edition Das Labor, Mülheim 2017
Die fünf Gedichtbände erscheinen in einer limitierten und handsignierten Ausgabe von 100 Exemplaren. Mit dem Holzschnitt präsentiert Haimo Hieronymus eine handwerkliche Drucktechnik, er hat sie auf die jeweiligen Cover der Gedichtbände von A.J. Weigoni gestanzt hat. Bei dieser künstlerischen Gestaltung sind „Gebrauchsspuren“ geradezu Voraussetzung. Man kann den Auftrag der Farbe auf dem jeweiligen Cover direkt nachvollziehen, der Schuber selber ist genietet. Und es gibt keinen Grund diese Handarbeit zu verstecken.
Alle Exemplare sind zusammen mit dem auf vier CDs erweiterten Hörbuch in einem hochwertigen Schuber aus schwarzer Kofferhartpappe erhältlich.
Hörbproben → Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon.