Es gibt drei Arten von Anthologien. Die ersten sind Dokumente der hohen Literatur, machen jedenfalls darauf Anspruch: Auswahlsammlungen, die von einem mehr oder minder berufenen Literaten nach Grundsätzen gemacht sind, die, eingestandenermaßen oder nicht, einen normativen Charakter haben. Solche Sammlungen können großes Interesse besitzen. Man braucht nur den Namen Rudolf Borchardt zu nennen, um anzudeuten, in welchem Grade sie eigentliche literarische Dokumente darstellen können und als solche der Kritik ausgesetzt sind. Dies ist die zweite und seltenere Gattung viel weniger. Sie setzt sich rein informatorische Ziele. Ihr Herausgeber tritt als Person zurück, die Auswahl, die er gibt, ist gewissermaßen die technische der Raffung und Verkürzung in der Vogelperspektive. Die häufigste, aber unerfreulichste Gattung ist die dritte: ein undeutliches Ineinander eklektischer und informatorischer Gesichtspunkte sucht das müßige Spiel eines Unberufenen für das Publikum interessant zu machen. Die vorliegende Sammlung ist ein reines, geglücktes Exemplar der zweiten Gattung, die für die schweizerische Dichtung schon wegen der Mannigfaltigkeit der Sprachen und Dialekte an erster Stelle erfordert scheint. Und naturgemäß kommt gerade die Lyrik dem anthologischen Prinzip besonders entgegen. Die Frage aber, die hier – gerade weil der Herausgeber mit Kenntnis und Umsicht seines Amtes gewaltet hat – sich einstellen könnte, ist: auch der schweizerischen Eigenart? Vielleicht geht Faesi eines Tages an eine Anthologie schweizerischer Prosa. Dann wird sich zeigen, daß auch die Namen aller großen Schweizer Lyriker in ihr vertreten wären, während auf diesen Blättern Gotthelfs Name notwendig fehlen mußte.
***
Die Ernte schweizerischer Lyrik. Deutsche, französische, italienische, rätoromanische und lateinische Gedichte und Volks-Lieder, von Robert Faesi. Zürich: Rascher u. Cie. 1928. 332 S.