Die Unzuständigkeit des Wortes „Lesung“ für einen Vorgang, der mit Hilfe von verschiedenen Wahrnehmungstätigkeiten (Sehen, sich Gesehenes fließend sinnfällig anverwandeln und dieses wiederum in AussprechBares mit hohem Hörgestaltungswert verwandeln, Seiten haptisch bedienen und umblättern, auf der anderen Seite das Zuhören/Zuschauen, MitDenken/Empfinden/Vorstellen (in der Fachsprache rezipieren) umgesetzt wird, hat mir lebenslang zu denken gegeben. Schon früher besass das Wort Lesung für mich etwas Sanftes, Salbungsvolles, lautlich-meditativ Außereuropäisches, war singbares Klangsynonym für Salbung, Adelung von Geschriebenem, Gedrucktem und bildhaft liebte ich das Wort als ein Übereinandergeschichtet- und Durchdrungensein von Gesuchtem, Gefundenem, Aufgesammeltem und Gesungenem, eben leitfähige Dichtung. In den ersten Kindheitsjahren erfuhr ich die „Lesung“ über die Kirche – als zumeist salbungsvoll ver-lesene Briefe von heiligen Aposteln als Ansprachen und Appelle, gerichtet an Gemeinden, Menschengruppen und einzelne Personen. Sie erschienen mir lang, manchmal langweilig, manchmal auch eindringlich und fast insistierend. Wirklich angesprochen aber fühlte ich mich nicht. Auch schreckten mich real erfahrene Lesungen seit meiner Jugend oft ab und lachten Hohn meinen romantischen Vorstellungen.
Alternativen wie Vorlesung, Verlesung, Vortrag sind von der intellektuelleren Seite der lesbaren Sprachvermittlung schon besetzt und intendieren ein eher langatmiges Entertainment. Die DDR-übliche “Buchlesung“ erschien mir später zunächst stimmiger, dann eher tautologisch. Der literarische, lyrische, prosaische oder wissenschaftliche Vortrag (unterschieden von der religiös-moralisch verfärbten Predigt setzt in der Regel die Kenntnis des Inhaltes, Gegenstandes oder Buches nicht voraus, wünscht sie ausdrücklich nicht – oder gerade doch?
Eine meiner ersten Lesungen überhaupt fand im Krefelder „Sassafras“ statt, in dessen gleichnamigen Verlag ich mein erstes Prosabuch „Der Inbegriff“ veröffentlich hatte. Für mich ein mehr als aufregendes Erlebnis, denn meine Lesungspartnerin sollte Rose Ausländersein. Die damals schon im Heim lebende Dichterin war plötzlich erkrankt. Im Bett hatte sie ihre Texte auf Band gesprochen. Und so fand dann eine Art transformierter Lesungsdialog statt. Wir „lasen“ unsere Texte im Wechsel, sie mit ihrer fernen charismatischen Stimme fast magisch präsent: auf Knopfdruck durch Kurt Düsselberg, den Verleger, und ich in in einer Art konzentrierter Trance eigene Gedichte in Korrespondenz zu den ihren spontan auswählend (blätternd) und vortragend.
Seit ich Lesungen „mache“, habe (?) – stets mager marginal und manchmal – meist anlässlich ebenso marginal-schmaler neuer Publikationen hier und da– begleitet mich eine kleine aus Pappe und Leim gefertigte Doppel- Plastik aus gepresstem Eierkarton und Kleister, in wenigen Minuten vor über 4 Jahrzehnten hergestellt, die ich stets in einer blau-silber- besternten Aluminiumkeksdose dabeihabe. Es sind 2 Brustfiguren, mit hilflos flatternden Armen, ohne Hände, einander gegenüber aus dem Sockel gewachsen sich fixierend, die jede in eine Art Riesen-Mikrophonrohr (Kupfer, aus der Klempnerbranche) sprechen. Auf den ersten Blick ein Kommunikationssymbol. Aber jeder spricht für sich in das gekrümmte Rohr, das unter die Erde führt, wie wir Kinder damals durch ein einziges Rohr einander gegenseitig ansprachen und uns wunderten, dass das Hörbare außerhalb davon existierte. Es gibt keine wirkliche Verbindung der Figuren miteinander, außer dem Sockel, auf dem die 2 Figuren und die beiden Kupferrohre im damals noch Nasszustand montiert wurden. Aber dort, unter der Erde, treffen sich die Wörter, Sätze, Gedanken und vermischen sich, finden sich, in der Parallelwelt lebendiger Sprache.
Mitte der 70er Jahre begann ich mit ersten Bildtext-Aktionen, – das Verändern, Bekleben, Beschriften und Bestempeln von Straßenelementen, Litfasssäulen, Fenstern, Ruinen, UBahnstationen mit Worten und Sätzen besaß für mich die unmittelbare Präsenz eines Auftritts, einer „Lesung“ – ich tat diese Dinge entscheiden und selbstsicher und wie auftragsgemäß agierend und fügte mich so in das jeweilige Straßenbild ein. Am Ende gab es ein Foto, manchmal bat ich auch Passanten darum. Zu dieser Zeit lud ich in regelmäßigen Abständen für die Dauer von ca. 2 Jahren Freunde und Bekannte ein, um abwechselnd aus ihren derzeit lesenden Büchern vorzulesen und für sie so Partei zu ergreifen, als sei es ihr eigenes Buch. Auf diese Weise entdeckte ich Thomas Bernhard und Witold Gombrowicz, große Vorbilder für mich. Einige Jahre später begann ich, dieselben Freunde und Bekannten einzuladen, um ihnen den neuesten Stand meiner damaligen Arbeit an dem bis heute nicht veröffentlichten Bildtextroman „Der Gegenfüßler“ vorzulesen, um so von Anfang an in einen kritischen Zuhörerkontext eingebunden zu sein. es waren immer ausdrücklich private Zusammenkünfte. Jedoch schrieb ich – bis heute – nie in Gedanken an die Anderen, sondern immer allein „für mich“, allein im eigenen, forschenden, das Schreiben vorantreibenden Interesse.
Zum Ende der 70er Jahre verfolgte mich in Träumen die Vision einer spontanen, aber „nachhaltigen“ Sprachaktion. Vor laufendem stumm geschalteten Spielfilmbildschirm mit bevorzugt Filmklassikern oder auch Western wollte ich – hochkonzentriert und improvisiert – im aufgeregten oder ruhigen Verfolgen und emphatischen Mit-Vollzug der Handlung neue sinnfällige Dialoge und Kommentare (Gedankenstimme) erfinden – jenseits der bekannten Handlung und mit existenziellen, z.T. philosophischen Inhalten, um so das Filmgeschehen mit gänzlich anderen Inhalten und Geschichten einzufärben. Einige Male gelang es mir, die 90 Minuten vor meinem kleinen Schwarzweißgerät durchzuhalten, doch versäumte ich es, die Texte auf Band festzuhalten und fand später, dass dies auch so bleiben könne – eine Form spontaner Literaturproduktion, die ein hohes Sprach- und Sprechniveau erforderte, eine gute physische und seelische Kondition und natürlich auch Mut, sich vor Zuhörern auf diese Weise fließend sprachlich zu produzieren, was natürlich auch scheitern kann. Hier hielt Robert Musils Mann ohne Eigenschaften sein bis heute Rücken stärkendes Lebensmotto bereit: Scheitern ist der Normalfall, aber auch – nochmals Musil: Kaum einer kann heute noch (also das war ja vor einigen Jahrzehnten) im logischen und überblickenden Vollzug eine oder seine Geschichte g a n z erzählen. Im Zuge jener Übungen träumte ich einmal tatsächlich von einer entsprechenden „Lesung“: Im gefüllten Kinosaal und mit dem Rücken zu den Zuschauern oder zwischen ihnen versteckt begann ich, das Mikro in der Hand, als „Alleinunterhalterin“ die spontanen Dialoge abendfüllend und sinnfällig zu zelebrieren. Ich hatte oft Lust darauf, doch realiter es ist nie dazu gekommen.
Im kalten Februar 1979 begab ich mich frühmorgens, ausgerüstet mit einer Tüte Kreide, in die Essener Innenstadt und beschrieb auf Knien– die Texte langsam mitsprechend- die Fußgängerzone ab der Bahnhofsrolltreppe bis weit hinter die Kaufhauszone mit z. T. auswendigen eigenen wie auch augenblickshaft entwickelten Texten. An diesem Samstagmorgen sollten die Menschen die Texte mit ihren Schritten davontragen. Trotz von einigen Ladenbesitzern herbeigerufener Polizei, hingeworfenen Bettelgroschen und bald sich einstellender Presse (ein winziges Artikelchen „Schriftstellerin geht auf die Straße“, die – so erklärte es sich der Schreiber, aus Publikationsnot das Pflaster zu beschreiben gezwungen sei) und einer Menge Mitleser, Zuhörer und ideologischer Begleiter hielt ich – mit einigen Diskussionspausen – bis in den Abend durch und genoss in der Dämmerung in klirrender Luft und mit steif gefrorenen Gliedern (und geschwollenen Knien) das wunderbare Bild einer mit Literatur in der ganzen Breite vollgeschriebenen Fußgängerzone, über das die Menschen eilig liefen und so an seinem Verschwinden arbeiteten. Ich hatte diese Aktion am selben Morgen erst entschieden und hatte sie sie in der UBahn auf dem Weg dorthin „Schreiben wie gehen“ genannt.
Eine weitere Aktion zu Beginn der 80er Jahre kehrte den Prozess der Literaturproduktion um: Ich stand im Dunkeln auf einer zu einem Boot geformten Folie gefüllt mit blutroter Farbe. Im Hintergrund wechselten in loser Folge große Diaprojektionen von beliebigen Szenen aus Ländern aller Kontinente. „Böse Bilder rächen sich auch später nicht aber spätestens“. Das Gedichtfragment, das auf einer weißen Wand mit schwarzen Anstreicher- Schablonenbuchstaben aufgebracht war, sprang ich mit in der Farbe getauchten Füßen vor den wechselnden Projektionen so lange an, bis es unkenntlich war und an der Wand nur noch ein zerfranster roter Flecken – einer imaginären Landkarte gleich – zu sehen war.
Die ausdrückliche Konzentration eines Menschen auf ein Buch in aller Öffentlichkeit sollte gut hörbar vorlesend, vortragend, vonstatten gehen. Der Vortragende, Vorlesende, minimalistisch gar möglicherweise den Buchinhalt zur Vorlesezeit Vorlebende,(der nicht der Urheber des Textes sein muss) sollte in der Regel sichtbar sein. In den frühen 80er Jahren allerdings initiierte ich einmal mit einer Freundin und einigen Nachbarn in Berlin eine Lesung über die Gegensprechanlage der Wohnung in Neukölln, was den Vorteil hatte, dass die scheppernde, tongestörte und eher monoton gestaltete Rede mit einigen überraschenden aufschreiartigen Höhen nach einigen Minuten zunehmend mehr Vorübergehende stehenbleiben ließ, als für diese mehr private Hörschattenschau beabsichtigt.
In dieser Zeit gab es zwei weitere, bis heute nicht realisierte Visionen: Ein weißgestrichener leerer quadratischer hoher Raum. In der Mitte jeder Wand und an der Decke kleine, sauber eingelassene Lautsprecher, aus denen Texte, Dialoge den Besucher erreichen, unsentimental, kühl, deutlich. Dasselbe Bild mit eingelassenen Mikrophonen, in die ich – die Orte im Raum wechselnd, Texte spreche, auf deren jeweils rückwärtiger Wandseite Menschen zuhörten.
Ein weiteres Bild, das ich noch heute liebe: Zwei in einer Acht einander überschneidende Schienenstränge, mit zwei kleinen Elektroloks, in jeder versteckt ein kleiner Lautsprecher mit dialogischen Texten. Ihre Geschwindigkeitswege müssten so berechnet sein, dass sie immer nur um Haaresbreite zusammenstoßen könnten.
Auch den Gedanken, zu Texten Bewegungs- und Tanzchoreografien zu entwickeln , habe ich nie realisieren können. Ich war durch ein unvergessliches Erlebnis darauf gekommen: In den 70er Jahren hatte ich in meinem alten Essener Waschhaus immer Kinder aus der Gegend um mich, die malten und schrieben.Eines Tages kündigte sich der Hagener Dichter Ernst Meister mit seiner Freundin Irene zu Besuch an.Die Kinder lernten einige seiner Gedichte auswendig (!), trugen sie teils singend, teils dazu tanzend vor.
Mitte der 80er Jahre begann ich dann meine Texte in Rauminstallationen einzubauen. Ja, einzubauen mit ihrer in einen Raum gesprochenen ausgedehnten und materialen Wiedergabequalität auf Band. Eine minimalistisch gebaute schwarz-hochglänzende „Einrichtung“: Ein leicht über dem Boden schwebender quadratischer großer Tisch mit Schriftumrandung „Die Welle wieget unseren Kahn im Rudertakt hinauf“. Ein Goethezitat aus „Stille Wasser“, von Schubert vertont und gesungen von D. Fischer-Diskau. An der Wand ein schwarzlackiertes “Regal“, in das zwei dicke Manuskriptbücher mit getippten Gedichten so eng eingeklemmt und gegeneinander gepresst wurden, dass man sie nicht mehr herausziehen konnte, ohne alles zu zerstören. (Dann aber hätte man die Texte als unbrauchbar erfahren, denn sie Seiten waren zusammengeklebt.) Darüber gehängt das schlicht gerahmte Fragmentgedicht „Das Lügengenie- ein großes Gehör“, das nun beginnt, allmählich zu vergilben. Links davon ein etwas tiefer an der Wand befestigtes hohles schwarzlackiertes „Sideboard“ mit zwei Lautsprechern rechts und links außen gegen die Decke gerichtet. Für die Dauer einer halbstündigen dialogischen Lesung (Endlosband) hört man einiges über die Genese dieser „Einrichtung“. Zwei Personen unterhalten sich – in einem großen Atelierraum mit knarrendem Holzfußboden unterwegs, die Gegenstände aufzustellen, – über Raum, Zeit, über die Installation und Platzierung dieser 3 Gegenstände im Raum, man hört Geschiebe, eilige und langsame Schritte auf Holzdielen, das Buchregal vermutlich fällt mit Lärm und Fluch hinunter beim Transportieren. All das spielt sich „in“ diesem Kasten/Sideboard ab als Ort des Textgeschehens, das Hin-und Herlaufen von Schritten und Stimmen mal rechts, mal links in dem „Kasten“. Am Ende hört man den Sänger mit dem melancholischen Goethelied. Diese Installation einige Wochen ausgestellt in einer Kölner Galerie.
Später spielte ich Bandaufnahmen in meine Lesungen hinein, Texte oder Musik. Diese Inszenierungen (spoken word performances nannte man sie später) hatten einem höheren Erwartungsdruck standzuhalten, als eine konventionelle Lesung. Ich begann, einige Gedichte zu singen wie „Ticken riecht nicht“ und „Tontöpfe“. Dazu musste ich immer topfit in Form sein, um den Gesang in den Raum hinein zu schicken und die Menschen dabei anzusehen. Nur vereinzelt entscheide ich das heute noch spontan während einer Lesung. Eine andere Möglichkeit ist die überraschend falschbetonte (unsachgemäß theatralisch anmutende) Sprechperformance des lyrischen Textes. Ich glaube, Franz Mon hat damals in den 70ern damit in seinen Hörstücken begonnen. Ich realisierte diese Form des Vortrags vor allem bei den beiden Käsegedichten „Kosmisch“ und „Mittelalter“, allerdings nicht beeinflusst von Mon,eher aus Verdruss über die damals nicht selten quälende Langatmigkeit des Vortrags von KollegInnen, die als FremdKörper angestrahlt und blindblickend ins dunkle Publikum, am Pult begleitet von Mikroflüstertests, Wasserglasritualen, Brillenwechselspiel, versteckten und offenen Uhrenritualen und Blätterrascheln eine von Zuhörerpublikum unabhängige selbstbezogen-zähe Sprechübung durchzogen.
Mit dem Wuppertaler Schlagzeuger Dietrich Rauschtenberger und dem Bremer Saxophonisten Michael Sievert schafften wir es immerhin bis in den Kölner Stadtgarten mit unserer „Jazz und Lyrik“- Konzertanz von knapp 45 Minuten. Eines der besten Stücke damals hieß „Wie lieb ich Szenen die in Küchen spielen“. Auf Dauer jedoch gerieten Instrumente und Stimme in eine Lautstärke-Konkurrenz, der ich nicht mehr standzuhalten in der Lage war. „Trafik Jam“ hieß eine der überhaupt ersten CDs, die der Komponist Dirk Reith ebenfalls in den frühen 90er Jahren mit Prosatexten von mir produzierte, gelesen von Schauspielern der Folkwanghochschule. Es waren unprosaische Kurzprosatexte, entstanden in einem Benn’schen Bewusstsein:
Das Material muss kühl gehalten bleiben.
Texte und Musik illustrierten sich nicht gegenseitig, sondern schufen etwas Drittes in elektronischer Produktion und beim Zuhören. Dirk Lemberg, heute ein patenter Tatortmusikkomponist, liess während einer Radiosendung über meine Arbeit einen Schauspieler und eine Schauspielerin abwechselnd zu jener Zeit Fragmentgedichte vorlesen, einer den Textkern, der andere die Ergänzungen, es mutete merkwürdig fremd an, – dennoch habe ich mich davon nicht überzeugen lassen, je eine Lesung mit Fragmentierten selbst zu machen.
Eine Ruhrgebietskirche lud mich vor 2 Jahrzehnten zu einer literarischen Predigt ein. Das bedeutete: Frei sprechen und den Leuten ins Gesicht schauen beim Sprechen. Ich begann inhaltlich mit einem Vorurteil: „Am Anfang war das Wort“ – und dimensionierte das Originalzitat durch den Austausch zweier Vokale neu: „Im Anfang war das Wort“ – geriet über Etymologisches ins Archäologische von Wort und Sprache und hin zu historisch gewordenen Gefahren- und gefährdeten Worten und Begriffen unserer Tage. Zu dieser Zeit hatten wir bereits heftige Zeiten praktizierten Ausländerhasses überall in Deutschland. Die „Predigt“, die sich kosmisch—komisch an der Betrachtung der Sprache abzuarbeiten drohte, sollte uns am Ende mit Hilfe von Sokrates, Johannes vom Kreuz und Konrad Weiß den Spiegel vors Gesicht halten. Dann blickte ich auf mein offen gehaltenes Stichwortblatt und las eine zusammenhängende, scheinintellektuell gesellschaftsbezogene Passage, besonders artikuliert und betont – entgegen bisheriger freier Rede nur wenig blickabschweifend – vom Blatt ab. Und plötzlich –ich hatte kaum geendet – erfüllte ein solidarisches Nicken die fast volle Kirche, und mir begegneten verständnisvolle, verständnisinnige, die bejahenden Blicke eines dankbaren Publikums. Nebeneinander Sitzende nickten sich zu. Ich hatte das erwartet und war dennoch entsetzt und peinlich berührt. Mein Herz raste und mir wurde mulmig. Ja, mündliche Vermittlungen von Ideen, – sie können langweilen, faszinieren, bannen, Affirmationen anpeilen, schleichend überzeugen, oder die menschliche Zuhörerseele gar berechnen und sie unmerklich verletzen. Wer Texte gut kommunizierbar vorträgt, ist in diesem Moment mit ihnen wie mit den Zuhörern identisch, ist ein Teil von ihnen oder gar ihr Verursacher und selbstreferenziell, wie wir heute sagen.
Entspringt nicht jede sprachlich hörbar vermittelte Idee einer unmerklichen Verletzung des Geistes und verursacht sie wiederum? – fragte ich in die hallende Kirche hinein, von dort oben auf der Kanzel hinunter in die Bankreihen. Mir begegneten übergangslos verständnislose, ja, allmählich sich sammelnde feindliche Blicke. Ich hatte mit diesem Satz einen Erkenntnis-Gewinn (damals sagte man „Aha-Erlebnis) infrage gestellt. Die besonders artifiziell vorgetragene Passage vom Stichwortblatt war ein Fragment aus Hitlers „Mein Kampf“, wie ich wenig später eher nebenbei und etwas schuldbewusst mitteilte. Ich endete wie ich begonnen hatte, mit dem heiligen Johannes: Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat ‘s nicht begriffen. Im Anfang war das Wort. Dieses „im“ ist ein raumzeitlicher unbegrenzter Begriff entgegen dem allein zeitlich-finalen Begriff des „am“. Erreichte es sie noch? Ich hatte etwas sehr Fragwürdiges getan. Doch ich bereute es nicht.
Meistens transportiert eine Lesung für den Autor sinnvolle Zusammenhänge oder sein unausgesprochenes Angebot, das Gehörte mit eigenem Sinn zu verbinden. Auch hier war das der Fall gewesen. Hätte ich begonnen, Charlie Chaplins Hitler-Parodie wohl eher schlecht zu reproduzieren, hätte mich jeder lächelnd verstanden. Im kirchlich-verernsteten Kontext jedoch war es eine moralische Zumutung für den damals noch aktiv-agierenden „Gutmenschen“, schriftlich fixierte Gedanken dieser historischen, wenn auch von der Menschheitsgeschichte nie zu leugnenden persona non grata ins ernste, ja ohnehin durch eine literarische Predigt schon angegriffene Kirchen-Kultur-Spiel zu bringen.
„Geborgte Erinnerung“ hieß eine „Lesungs-Ersatz“-Aktion in Greifswald Mitte der 90er, bei der ich einen politisch-historischen Text über die zuvor recherchierte tragische DDR-BRD Entstehungsgeschichte des Greifswalder Fischerbrunnens auf die Ränder der Steinumfriedung schrieb und das gesamte Brunnenensemble durch die sprachlichen Installations-Zusätze „Plane mit – Arbeite mit – Regiere mit“ verfremdete. Mit dieser Aktion ohne gesprochene Worte mischte ich mich aktiv in Geschichtswiedergabe und Geschichtsinterpretation eines anderen, wenn auch vergangenen Staates ein, ohne jedoch „moralisch“ zu (ver-)urteilen – einzig in finaler Schilderung der Fakten, durch deren Zusammenspiel in der Folge einige Menschen schweren seelischen Schaden erfahren hatten. Im Gegensatz zur damaligen Aktion „Schreiben wie gehen“ wurde nach der Aktion (trotz ordnungsgemäßer Voranmeldung) amtlicherseits unverzüglich alles wieder in den ursprünglichen Zustand „zurückversetzt“, die Schrift weggewaschen und die Installationsgegenstände entfernt.
Die Lesungsaktion Ende der 90er im Stralsunder Kulturzentrum „Wie das Künstliche vom Natürlichen unterscheiden?“ basierte wiederum auf dem Wechselbad von gesprochenem, geschriebenem und unkenntlich gemachtem Text. Hierbei spielten – auf einer großen Aktionsbühne sich entfaltend – Realzeit und Dauer eine Rolle, Tonbandaufnahme, Uhrzeiten und Handy (bis heute für mich noch gewöhnungsbedürftig), Vorwärtsschreiben und rückwärts vernichten, Unterbrechung und Kontinuität. Aufschreiben und zugleich reales und über den Recorder gehörtes Sprechen des Textes und das anschließende, mehrfach unterbrochene Unkenntlichmachen des Aufgeschrieben-Gesprochenen verursachten Irritation durch einen schlichtphilosophischen Text, der sich allmählich selbst wieder verschlang.
Mitte der 90er, längst im vorpommerschen Aschersleben ansässig und im Aufbau und der Koordination von ca. 30 Jugendclubs in der Region begriffen, tingelte ich mit einigen meiner Jugendlichen durch Gaststätten und Kneipen, um dort Gedichte der Jugendlichen selbst oder von klassischen Dichtern vorzutragen. Jeder Jugendclub hatte einen anderen Schwerpunkt, einer davon hatte sich dem Schreiben verschrieben. Und so wurde ich eines Tages von der Gleichstellungsbeauftragten des Kreises aufgefordert, doch zum Frauentag endlich einmal eigene Texte vorzustellen. Verordnetermaßen eingeladen waren ca.150 Frauen und Männer aus überwiegend Arbeiter-und Bauernschichten, einige meiner ca. 30 überwiegend ABM- Mitarbeiterinnen und viele Arbeitslose in einen riesigen dunkel-dumpfigen Saal aus noch sozialistischen Zeiten, im sogenannten „Bürohaus“ in Pasewalk. Gedichte, Prosatexte aus der soeben in Wien erschienenen Publikation „Schräge Intention“ vorzutragen war unvorstellbar, – wer in der Regel zu einer Lesung geht, tut dies aus freien Stücken und durch irgendein intellektuelles Interesse angefüttert. Nachdem ich einen Tag zuvor die Aussichtslosigkeit meiner Lage als „Autorin von drüben“ realisiert hatte, sagte ich mir, Du musst über das schreiben, in dem Du steckst und ich schrieb in einem Fluss einen 10-seitigen Text über „Frauen in ABM“. In langen waagerechten Reihen gestaffelt standen die weißgedeckten Tische für die Kaffee- und Kuchenzeremonie eingedeckt, im großen Abstand dazu das Mikro, mein weiß eingedecktes Lesepult, die erwartungsflirrende Unüberblickbarkeit des Ausgeliefertseins an ein total unberechenbares, raunendes, geschirrklapperndes Publikum, die Luft erfüllt von einer Mischung aus (altbeständigen DDR-)Desinfektionsmitteln, feuchtem Holz und Kaffeeduft. Was gibt es dazu zu berichten? Ich hatte genau das Richtige getan als „eine von uns“, und für die Dauer einer halben Stunde Lesezeit gehörte ich als integriertes Aktivelement zur postsozialistischen Gesellschaft – und dieser atmosphärisch sachliche „Einstand“ hielt sich bis heute.
Zur Jahrhundertwende organisierte ich die Polnische Woche in Mecklenburg-Vorpommern, aus der einige haltbare Freundschaften mit polnischen Autoren hervorgingen. Mit dem Dichter Jury Kaczmarek, der schon früh seine Doktorarbeit über Josef Beuys geschrieben hatte und selbst Performances machte, der schon einige meiner Texte ins Polnische übersetzte, zelebrierte ich in Poznan und Kutno in den letzten Jahren zweisprachige Parallellesungen. Für uns als Vortragende wie für die Zuhörer eine merkwürdig kongeniale Erfahrung, bei der zwei Sprachen verschiedener Etymologie zeitweilig so aufeinandertreffen, dass sich für blitzhafte Augenblicke die Erkenntnis der Glossolalie einstellt. Auch hier entsteht wieder etwas „Drittes“, in dem klang- wie inhaltssprachlich Sinn entwickelt und erweitert wird.
Im stummen Kreideschriftzug zahlreicher, unzähliger Namen von verbannten und verbrannten Autoren auf Straßenpflaster, Asphalt und Häuserwände der Universitätsstadt Greifswald, verbergen sich Namen, deren ausdrückliche Nennung nur stellvertretend stehen kann für jene, die niemals mehr genannt werden können. Eine mit Namen verbrannter Autoren beschriftete Stadt, Kreidenamen, unter den Schritten der Bürger davongetragen, das versuchte ich zusammen mit Studenten und dem Literaturhaus zum 75. Jahrestag der verbrannten Bücher unter dem Motto „Greif zur Kreide, Greifswald“ zu vermitteln, was im Grunde nicht ver- mittelbar ist. Denn die Liste der Autoren ist länger, als die der ermittelten Dichter, in deren Namen auf den Straßen der Stadt ein Kosmos verlorener und niemals künftiger Literatur sich unaufhörlich ausdehnt. Die Studenten und viele Bürger, die eine Liste und ein Tütchen mit Kreide erhalten hatten, beteiligten sich an der Aktion und füllten die Wege mit Namen. An den Ecken, vor den Läden, in Einfahrten und auf dem Marktplatz mit einem Büchertisch standen Menschen, rezitierten Texte jener Autoren, deren Namen noch Wochen, ja Monate danach noch ihre in der Stadt zu lesen, ihre Spuren erahnbar waren.
Eine Lesung habe ich in weniger guter Erinnerung, nicht, was die Zuhörer und den guten Willen der Organisatoren angeht, eherdie Umstände betreffend, in die sie eingebunden war. Es war eine sog. „Frühstückslesung“, und an diesem Beispiel kann man festhalten, dass Lesungen, bei denen in jeder Weise konsumiert werden, dem Genre widersprechen bzw. die Lesung und ihr transportierter Inhalt als Unterhaltungsbeiwerk entwerten.
Krefeld, Fabrik Heeder: Meine erste Power-Point Darstellung von Bildtext-Installationen im Lesungskontext, der weitere im Atelierhaus Essen-Steele und bei Literaturfestivals in Tampere/Finnland und Kutno/Polen folgten (mit deutsch-polnischer Parallellesung), stets verbunden mit Bildmaterial, korrespondierend mit den Texten – Fragmente wie Wäsche an Leinen befestigt oder auf serielle aufgestellten Staffeleien präsentiert.Lesungsbegleitend: In einem Raum der Uni Greifswald, im Gelsenkirchener Atelier Glasmeier, in der Neustrelitzer Kachelofenfabrik und später im Koeppenhaus Greifswald die Wände in Bewegung gebracht mit einzelnen roten Holzbuchstaben in angelegten Schwüngen, Reihen, Durchdringungen, Wellen, Wanderungen von Sätzen durch hintereinander liegende Räume, über Gegenstände hinweg, entlang an Scheuerleisten, demonstrativ und groß aufgestellt vor staubigen Archivregalen, verkrochen in Ecken, gestempelte Gedichte zwischen den Gittern von Netzen, Sätze die Wege lenkend und versperrend, später in der Nottbecker Ausstellung (2014 Westfälisches Literaturmuseum)unter der Decke mit dem Kontext „Unsagbar ist der tägliche Wortschatz wertvoll!“
Im Rahmen des internationalen Literaturfestivals Berlin 2013 wählte ich die Rolltreppen auf dem Hauptbahnhof Berlin als bewegliche Fortbewegungsorte für die Lesung meines mit einem kleinen Megaphon verstärkten Prosatextes, der die Sekunde zwischen 2 Schritten beschreibt. „Zwischen den Schritten“. Es war eine zu einer bestimmten Zeit mit vielen anderen Autoren in Berlin vereinbarte Lesung an vielen Orten der Stadt, die für mich eine ähnliche Gewichtung – oder Leichtigkeit – besaß wie meine Aktion „Schreiben wie gehen“ 1979 und zuvor die ersten textlichen Markierungen im alltäglichen urbanen Straßenbild: unspektakulär und selbstverständlich meinen Job ausführend, diesmal nur eine halbe Stunde lang. Meine Berliner Freundin Edel fotografierte hier und da die wenig auffällige Aktion.
Eine weltweite Lesung aus Solidarität mit einem verfolgten Autor zu einer bestimmten Zeit hat etwas virtuell-Verbindendes, wenn auch kaum esoterisch Anmutendes, vor allem, wenn Menschen, die den Autor bisher nicht bewusst wahrgenommen haben, sich an vielen Orten dieser Erde mit ihm zu beschäftigen beginnen, ihn rezitieren, zitieren, Passagen seiner Veröffentlichungen vortragen. Sich geistig über das Wort – irgendwo im atmosphärisch Unstofflichen einer bestimmten gemeinsamen Vereinbarung, Haltung oder in Solidarität zu einer bestimmten Zeit zu treffen, zu begegnen (wie auch in Berlin) – setzt das nicht Energien frei, Ermöglichungen von Kommunikation? Was ich damals im „Bürohaus“ versucht und begonnen hatte, setzte ich mit einer Gruppe von Menschen aus der Kleinstadt Torgelow kürzlich fort, indem ich mich mit ihnen an der weltweiten Solidaritätslesung für Edward Snowden beteiligte. Wir lasen Texte und Statements von ihm und stellten plötzlich fest: da gab es ein unsichtbares Band zwischen uns und den vielen tausend Menschen in der Welt, die unter ähnlichen Absichten zusammengekommen waren. Kann das sein? Hier anzukommen, damit habe ich nicht gerechnet.
Hatte ich nicht mit der Schilderung und frühen Erfahrungen christlicher Assoziationen zum Begriff „Lesung“ begonnen? Nun ende ich überrascht und vorläufig : „… wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Wer oder was damit gemeint ist, war,sein wird, das überlasse ich jedem persönlich.
Die Überschau dieser Lesungsarbeit (arbeitsbegleitend oder als eigenständige Projekte) über 4 Jahrzehnte hinweg sehe ich als eine Vernetzung von Bildern, Texten, Beziehungen. Entfaltungen des Schreibens als Fortbewegungsart. Elemente, die sich zusammen mit meiner künstlerischen und soziokulturellen Vermittlungsarbeit zu einer veränderlichen und komplexen sozialen Plastik zusammenfinden.
Weiterführend →
Lesen Sie auch das Kollegengespräch, das A.J. Weigoni mit Angelika Janz über den Zyklus fern, fern geführt hat. Vertiefend ein Porträt über ihre interdisziplinäre Tätigkeit, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ebenfalls im KUNO-Archiv: Jan Kuhlbrodt mit einer Annäherung an die visuellen Arbeiten von Angelika Janz. Und nicht zuletzt, Michael Gratz über Angelika Janz‘ tEXt bILd
Quellennachweis der Fotos: Edel Exel, Angelika Janz, Uwe Meier-Weitmar.