Mein mir liebster Freund unter den Schriftstellerkollegen war der Alois Vogel. Wir sind einander in den frühen Siebzigerjahren, gleich nach Gründung des Literaturkreises „Podium“, dessen Mitbegründer und Obmann er dann Jahrzehnte hindurch war und dem auch ich seither angehöre, bei einer Podium-Lesung in der Kleinen Galerie in der Neudeggergasse in Wien, die ich später sechs Jahre lang geleitet habe, begegnet und haben uns so kennengelernt. Es dauerte einige Zeit, bis wir näher miteinander bekannt wurden und sich immer mehr unser Kontakt auch auf privater Ebene intensivierte, bis wir nach und nach Freunde wurden und sich im Lauf der Jahre unsere Freundschaft vertiefte. Wenn ich an ihn denke, sehe ich uns mit dem Alois und seiner lieben Frau Trude in ihrem wunderbaren Garten in Pulkau, entweder zu viert (ich mit Susanne) oder im Kreis mit anderen Freunden. Am schönsten war es an einem lauen Sommerabend, da wir vom späten Nachmittag an bis fast nach Mitternacht unter dem Nußbaum saßen, bei intensivem Gespräch und einer Flasche Wein um die andere, die der Alois aus seinem Keller holte, und die Trude stellte immer wieder was zum Essen dazu. Von Alois und Trude habe ich viele Fotos gemacht, ob bei den von ihm organisierten Podium-Symposien in Pulkau oder im privaten Kreis. Eine der letzten Aufnahmen zeigt ihn mit einem Glas Rotwein vor sich, den Blick aufmerksam und zugleich träumerisch irgendwohin gerichtet. Ich mag dieses Bild, aufgenommen in Pulkau im Sommer 2003, nach der Eröffnung meiner Fotoausstellung über und in Pulkau. Auch in Wien sind wir des öfteren nach den Vorstandssitzungen beim Podium oder PEN oder nach anderen Veranstaltungen ein Stück des Weges miteinander gegangen, haben uns manchmal noch in das Espresso am Stephansplatz gesetzt, auf ein Glas Rotwein. Angerufen habe ich ihn immer knapp vor zwölf Uhr Mittag, wenn ich wußte, daß er nicht mehr unten in seiner Schreibstube, sondern schon oben zum Essen war. Immer hat die Trude abgehoben, dann den Alois gerufen, der in der Nähe war. In der Zwischenzeit habe ich mit der Trude geplaudert. „Wart ich geb ihn Dir gleich!“ hat sie immer gesagt. Die Trude war es auch, die mich angerufen hat und mir mitteilte, daß der Alois in der Nacht gestorben ist. Ich war völlig fassungslos, konnte nichts sagen, eben auch zur Trude nicht. Ich fragte nur banal nach den Umständen seines plötzlichen Todes. Herzinfarkt. Ich dachte an meine drei ebenso verstorbenen Brüder. Dann sind wir zum Begräbnis nach Pulkau hinaufgefahren. Susanne und ich waren ganz hinten in der Kirche. Viele Freunde und Weggefährten waren da. Und wir sind dann hinter dem Sarg zum Grab jenen Weg gegangen, den wir ein paar Mal, wenn wir in Pulkau waren und die Kirche besuchten, auch mit dem Alois gemeinsam gegangen sind. Vor mir liegt mein Nachruf auf ihn, den ich damals geschrieben habe. Und ebenso ein Essay mit dem Titel „Das Maß des Menschlichen – mein Bild von Alois Vogel“, den ich zu seinem achtzigsten Geburtstag verfaßt und in Pulkau bei der Feier vorgetragen habe. Eine Passage aus diesem Essay bringe ich hier, weil sie alles Wesentliche zusammenfaßt, was den Schriftsteller und Freund Alois Vogel betrifft:
„Durch das imaginäre Objektiv meiner Kamera sehe ich ihn, den Alois Vogel: Seine große, aufrechte, schlanke Gestalt; in einem grauen Anzug, mit Strickweste und mit sorgfältig gebundener, farblich und stofflich dazu passender Krawatte. Im Winter darüber ein knielanger, schwarzer Kapuzenmantel. Eine Baskenmütze oder eine Kangol-Kappe auf dem Kopf. Meist braune, elegante Halbschuhe aus feinem Leder, mit Gummisohle. Und eine Aktentasche unter dem Arm; darin allerlei Manuskripte, Zeitschriften; und wahrscheinlich auch ein Buch. Zurückhaltung, elegante Vornehmheit schon in der Erscheinung des Äußeren. Dem entsprechend eine solche im Benehmen, im Umgang, in den Gebärden, im Gespräch. Dazu noch eine gewisse, vorsichtige Bedächtigkeit, das Maßhalten in der Abgemessenheit ruhiger Bewegungen; das Abwägen der Worte beim Aussprechen der Gedanken. Der zielgerichtete Aufbau eines Satzes ebenso wie das harmonische Ausklingen desselben. Das Schweigen danach. Der Blick zum Gegenüber. Der fast schon liturgisch anmutende Griff zum Weinglas und das Trinken daraus. Das wieder immer wieder In-sich-Zurückkehren – für eine kurze Weile oder am Ende des Gespräches; beim Abschied. Die Frage, das Fragen überhaupt. Das Kreisen um eine vielleicht mögliche Antwort. Nichts als Behauptung, nichts als laute, als vorlaute Äußerung; nein. Immer wieder das „Glaubst du nicht, daß …?“ oder das „Es könnte aber vielleicht auch sein“ als Rückfrage und Anfrage im Dialog; oder als Einwand. Nie: „Das ist so – und nicht anders!“ Nein, immer die Sprache des eines trotz Lebenserfahrung und Lebensweisheit noch immer Suchenden, der für sich nicht „die Wahrheit gepachtet hat“; der noch immer neugierig ist auf andere Sichtweisen und Antworten; und diese – auch wenn er anderer Meinung ist – respektiert. Also ein Mensch, der – auch wenn und indem er seinen eigenen Standpunkt hat – andere Sichtweisen, Meinungen, Standpunkte und Haltungen gelten läßt. Das ist mehr, als man mit dem abgegriffenen Wort „Toleranz“ bezeichnen mag. Nur für eines bringt er kein Verständnis auf, was in diesem Fall kein Mangel, sondern Haltung ist: Für Intoleranz und Gewalt. Lebenserfahrung – das bedeutet auch Erfahrung auf der politischen, auf der ideologischen Ebene. Ständestaat, Nazidiktatur, Militarismus überhaupt. Das ist bei Alois Vogel ein Bereich individueller Persönlichkeitserfahrung; auch als Grenzerfahrung im Krieg. Daraus resultiert eine prinzipielle, lebenslange Ablehnung. Diese gilt einer jeden Art von sich selbst absolut setzender Ideologie; weil sie den Menschen versklavt, ihn seiner Freiheit und Würde beraubt. Und die Wahrheit stets mit Füßen tritt. Und so gilt seine Ablehnung auch einer jeden Macht, die nicht demokratisch legitimiert ist oder sich über das Legitime hinwegsetzt. Hohle Pathos-Sprüche, leere Propaganda und deren Urheber miteingeschlossen. Hier definiert sich seine klare Position gegen den Mißbrauch vom Menschen und gegen die Herabwürdigung der Sprache zum bloßen Werkzeug.“
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Schriftstellerbegegnungen 1960-2010 von Peter Paul Wiplinger, Kitab-Verlag, Klagenfurt, 2010