Der Purzelbaum

 

Ein Purzelbaum trat vor mich hin

und sagte: „Du nur siehst mich

und weißt, was für ein Baum ich bin:

Ich schieße nicht, man schießt mich.

 

Und trag ich Frucht? Ich glaube kaum;

auch bin ich nicht verwurzelt.

Ich bin nur noch ein Purzeltraum,

sobald ich hingepurzelt.“

 

Jenun, so sprach ich, bester Schatz,

du bist doch klug und siehst uns: –

nun, auch für uns besteht der Satz:

Wir schießen nicht, es schießt uns.

 

Auch Wurzeln treibt man nicht so bald,

und Früchte nun erst recht nicht.

Geh heim in deinen Purzelwald,

und lästre dein Geschlecht nicht.

 

 

***

Galgenlieder, von Christian Morgenstern. Erschienen im Verlag Bruno Cassirer. Berlin 1905

„In jedem Menschen ist ein Kind verborgen, das heißt Bildnertrieb und will als liebstes Spiel- und Ernst-Zeug nicht das bis auf den letzten Rest nachgearbeitete Miniatür-Schiff, sondern die Walnußschale mit der Vogelfeder als Segelmast und dem Kieselstein als Kapitän. Das will auch in der Kunst mit-spielen, mit-schaffen dürfen und nicht so sehr bloß bewundernder Zuschauer sein. Denn dieses ‚Kind im Menschen‘ ist der unsterbliche Schöpfer in ihm […].“

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.