Vorbemerkung der Redaktion: Für das Projekt Kollegengespräche hat A.J. Weigoni einen Austausch zwischen Schriftstellern angeregt. Auf KUNO ist diese Reihe wieder aufgelebt, daher bringen wir gern den Austausch zwischen Arletta Szmorhun und Peter Paul Wiplinger.
Szmorhun: In vielen Gedichten unterziehen Sie die in Österreich herrschenden Verhältnisse einer scharfen Kritik. Zur Verdeutlichung möchte ich ein paar Verse anführen: „Auf Schritt und Tritt begegnet mir überall in Österreich der Alltagsfaschismus“, „versteckt und offen Antisemitismus“, „so viel Verlogenheit, so viel Dummheit in diesem Österreich.“ Recht kühne Worte, zu den Günstlingen des Staatsapparats gehören Sie wohl nicht?
Peter Paul Wiplinger: Diese „scharfe Kritik“ ist notwendig, weil es diese zu kritisierenden herrschenden, ja be-herrschenden „Zustände“ in Österreich gab und gibt. Was man so indifferent als „Zustände“ bezeichnet, das ist jedoch mit verursachenden und handelnden oder nicht-handelnden Personen und Institutionen, mit der Politik, mit der Gesellschaft, mit dem Staat, mit dem ganzen Öffentlichen Leben verbunden. Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gibt es in Österreich – so wie auch in Polen und anderen Ländern; das ist eine unleugbare und leicht feststellbare Tatsache. Antisemitismus gibt es sogar dort, wo es gar keine Juden gibt. Laut einer demoskopischen Umfrage (vor einiger Zeit) wollen mehr als 30 % der österreichischen Bevölkerung nicht neben Juden wohnen. Da kann wohl von einem Miteinander gar nicht die Rede sein. Übrigens wurde die Frage der Restitution für arisiertes jüdisches Eigentum mehr als 50 Jahre lang verschleppt. Die den Holocaust überlebenden, weil rechtzeitig emigrierten jüdischen Österreicher wurden nach 1945 weder von der Regierung, noch von sonst jemandem eingeladen, wieder in ihr Heimatland Österreich zurückzukehren. Der Landeshauptmann von Kärnten und FPÖ-Parteivorsitzende, Dr. Jörg Haider, sprach öffentlich von einer „ordentlichen Beschäftigungspolitik im Dritten Reich“ und sprach vor ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS von dieser NS-Verbrecherorganisation (Nürnberger-Tribunal) als einer vorbildhaften Wertegemeinschaft. Und dies ohne daß ein Sturm der Entrüstung durch unser Land gegangen wäre. Auch in einem späteren Wahlkampf gab es von ihm eindeutig antisemitische Aussagen, eine von den Zuhörern beklatschte Verhöhnung des Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde.
Darf sich ein Schriftsteller in Staat und Gesellschaft ohne Einschränkungen einmischen oder gibt es Grenzen, die er nicht überschreiten sollte? Oder etwas gelinder gesagt: Ist ein Schriftsteller ausschließlich der Literatur verpflichtet oder gehen seine Verpflichtungen weit über die Grenzen der Literatur hinaus?
Der Schriftsteller, so wie jeder Staatsbürger und somit auch er, darf sich nicht nur, sondern sollte und muß sich einmischen in das politische Leben, in die „res publica“, in den Staat; vorallem wenn dieser in Fragen der Menschenrechte gegen die von ihm selbst unterzeichnete Menschenrechtskonvention durch Gesetze, Verordnungen oder in der Anwendungspraxis verstoßt. Beispiel: Asylpolitik. Natürlich gibt es dabei Grenzen, nämlich die der Beachtung der Gesetze, der Verfassung und der Grundprinzipien der Rechtsstaatlichkeit. – Nein, der Schriftsteller ist nicht nur ausschließlich der Literatur verpflichtet, weil er ja so etwas wie eine Öffentliche Person ist und somit Vorbildcharakter, Vorbildwirkung und auch eine daraus resultierende Verantwortung besitzt, der er sich bewußt sein sollte, sein muß. Darüber hinaus ist er befähigt, Gedankenprozesse auszudrücken und Bilder von der Wirklichkeit zu zeichnen, inklusive ihrer Interpretation. Der Schriftsteller/ die Schriftstellerin hat die Aufgabe, jeder Form von Propaganda, vorallem der die Wirklichkeit oft verzerrenden oder sie verleugnender politischen Propaganda, also der Staatspropaganda, entgegenzutreten. Diese Aufgabe haben auch immer wieder Intelleketuelle und SchriftstellerInnen erfüllt; wie zum Beispiel Vaclav Havel und Árpád Göncz, beide später Staatspräsidenten ihrer Länder Tschechien und Ungarn. Leider gibt es auch die weit verbreitete modernistische „l’art pour l’art“-Ansicht und Auffassung, daß der Schriftsteller, die Schriftstellerin nur ihrem eigenen Werk verpflichtet und ihm gegenüber verantwortlich ist. Ich teile diese Auffassung nicht, weil ich den Schriftsteller nicht darauf reduzieren kann und will, da er für mich auch ein politisch denkender und handelnder Mensch zu sein hat.
In Ihrem Beitrag Literatur und Widerstand. Vom verlorenen Engagement des Schriftstellers weisen Sie auf das neue Outfit der Literatur hin – Literatur als Staatsspektakel der Politik. Heißt das, dass die Schreibenden unter dem Druck der Verhältnisse handeln, dass sie zu politischen Kommentatoren werden?
In meinem appellativen Text „Literatur und Widerstand. Vom verlorenen Engagement des Schriftstellers“ gehe ich auf die (vorhin) geschilderte Problematik näher ein. Ich spreche aber darin nicht von „Literatur als Staatsspektakel der Politik“. Das ist es nicht. Sondern es geht um den – von mir beklagten und angeprangerten – Rückzug des Schriftstellers/ der Schriftstellerin aus dem politischen, d.h. aus dem öffentlich-gesellschaftlichen Bereich; und auch aus dem des Staates, der Staatsmacht, der Politik. Dies nicht aufgrund einer Verweigerung(shaltung), sondern eher im Zusammenhang mit Desinteresse und Ignoranz und einer für mich fast narzistischen Hinwendung zu seiner eigenen Person und zur Darstellungsschau seiner selbst als mediales Eventereignis. Natürlich gibt es diesen Anpassungsdruck aufgrund einer politischen und/oder doch vielmehr marktorientierten Erwartungshaltung und damit verbunden ein entsprechendes Anpassungsstreben und eine gewisse Anpassung, und manche Schriftsteller/Innen werden auch zu politischen Kommentatoren; und dies sowohl auf der einen Seite wie auf der anderen, auf jener des politischen Establishments, als auch jener der Gegner(schaft). Doch der „Freie Markt“, die Zwangslogik der „Freien Marktwirtschaft“ (Quantität statt Qualität, Rentabilität und Profit) sind für Verlage und Autoren sowie für das Buchgeschäft überhaupt viel zwingender. Und die Entwicklung geht in diese Richtung, in Europa (EU) und in der globalisierten Welt.
Wie würden Sie die Aufgabe eines Schriftstellers definieren? Was heißt für Sie ‚Engagement’? Gibt es eine ‚engagierte’ Literatur? Ist es ein nur politischer Begriff?
Die Aufgabe des Schriftstellers/der Schriftstellerin ist in erster Linie die, Literatur, und zwar möglichst gute Literatur, zu machen. Diese Literatur kann deskriptiven, also erzählerischen Charakter haben, also Wirklichkeit darstellen und beschreiben. Darüber hinaus aber kann sie auch Wirklichkeit hinterfragen, Zusammenhänge aufzeigen, Wirklichkeit interpretieren, einordnen in die fragmentarische Ganzheit von Ich und Welt, von Individuum und Gesellschaft, von Privatheit und Öffentlichkeit. Sie kann die Sicht und den Willen des Autors/der Autorin zum Ausdruck bringen, sie kann Grenzen und Begrenzungen aufzeigen, aber auch aufheben, zum Beispiel jene von Raum und Zeit. Sie kann das Bild einer authentischen Person oder eines Ereignisse wiedergeben, sie kann aber auch paradigmatisch den Menschen und das Menschsein ansprechen, die Schicksalhaftigkeit und das Exemplarische der menschlichen Existenz überhaupt darstellen. Darüber hinaus kann auch die eigene Position des Autors in seinem Werk artikuliert werden in der Sicht- und Darstellung(sweise) von Personen und Ereignissen, vom eigenen Ich und der Welt. Innerhalb und außerhalb des Werkes gibt es die Möglichkeit für ein Engagement, d.h. die Parteiergreifung für dieses oder jenes; oder eben für einen ethischen Standpunkt, für Menschenrechte zum Beispiel, für Demokratie, gegen Machtmißbrauch, gegen die Ausbeutung der Dritten Welt, für Aufklärung und Toleranz, gegen den Krieg. „Engagement“ ist kein politischer Begriff, sondern eine Haltung und Praxis, nämlich jene des Nicht-Wegsehens, der Nicht-Gleichgültigkeit, der Nicht-Teilnamslosigkeit am Schicksal, an den Zuständen von Mensch, Gesellschaft, Staat und Welt. Ebenso impliziert Engagement den Willen zur positiven Veränderung und den Mitgestaltungsanspruch auf der Basis eines Mitgestaltungsrechtes. Denn dies ist praktizierte Demokratie, ein menschliches und gesellschaftliches Grundrecht. Abgeleitet dieses Handlungsrecht aus dem der Meinungsfreiheit, aus dem Kanon der „Bürgerlichen Freiheiten“, auf die jeder Staatsbürger laut Verfassung ein Recht hat. Engagement ist Handeln, ist ein Recht und ein innerer Auftrag zugleich.
Sie gelten als Schriftsteller, der mit seinem Wort die Welt verbessern will. Seit Jahrhunderten versucht die Literatur diese Welt, die Menschen besser zu machen. Glauben Sie, dass es Ihnen eben gelingt, das Unmögliche möglich zu machen, d.h. dem Menschen von heute seinen Zustand des Ausgesetztseins zu vergegenwärtigen?
Nein, es wäre zu naiv zu glauben, daß man mit dem Wort, mit dem literarischen Wort „die Welt verbessern“ kann; und das glaube auch ich nicht, auch wenn manche Menschen von mir glauben, daß ich das glaube. Nein, man kann mit dem Wort „die Welt“ nicht verbessern, aber man kann manches in ihr – meist nur Details – verbessern, vielleicht zum Guten wenden. Zum Beispiel bei und in einem Akt der Versöhnung, beim Sichbemühen um Frieden, beim vorher nötigen Eingeständnis der eigenen Fehler oder der eigenen Schuld, beim Bekenntnis der Wahrheit, bei der Bitte um Vergebung. Umgekehrt allerdings kann die Welt und das menschliche Leben sehr leicht und sehr schnell und unwiderruflich durch ein Wort – nicht durch Literatur! – zum Schlechteren gewendet werden. Beispiel: Adolf Hitlers und seiner Helfershelfer (Goebbels) Hetzpropaganda, Stalins Ermächtigungen für Todesurteile und die Verbannung in die Gulags für Millionen von Menschen. Und so weiter. Nein, die Literatur kann das Unmögliche – die Welt zu verbessern – nicht möglich machen. Aber sie kann aufrufen zur Wachsamkeit gegenüber dem Mißbrauch der Macht, sie kann mahnen zur Toleranz, zur Vernunft und sich gegen Fanatismus und Unterdrückung (der Meinungsfreiheit/ der Lebensfreiheit) stellen. Sie kann Widerstand leisten. Dummheit kann sie aber nicht beseitigen, Verdummung nicht aufhalten. Sie kann aber Möglichkeiten schaffen für eine andere, eine rationalere anstatt einer blind-emotionalen Weltsicht. Das kann sie anbieten und das tut sie auch. Vielleicht kann sie den einzelnen oder einzelne Menschen bessern im Sinne einer Sensibilisierung und Aufklärung. Das ist mit ein Auftrag und ein Ziel von Literatur, kann das jedenfalls – auch wenn es kein Gebot ist – sein. – „Dem Menschen von heute seinen Zustand des Ausgesetztseins zu vergegenwärtigen“ ist nichts Unmögliches, das schafften und schaffen viele AutorInnen in Vergangenheit (Existentialismus/Camus/Sartre) und Gegenwart. Mir selber wird dieses „Ausgesetztsein“ (Verlorensein) in und mit und an meinen Gedichten klar und es wird auch an vielen Stellen in meinen Gedichten angesprochen und artikuliert. Gleichzeitig aber wird aber dann auch von mir das „Prinzip Hoffnung“ (Ernst Bloch) hochgehalten, sozusagen als Leuchtturm im Dunkel des eigenen Lebens und der menschlichen Existenz überhaupt.
Ihre Gedichte sind oft als ausgebliebene Bewältigung der braun beschmierten Vergangenheit zu deuten. Sie lassen die Wunden dieser Vergangenheit nicht heilen, sie lassen sie schmerzen und bluten. In Ihrem Beitrag 50 Jahre danach schreiben Sie : „Es ist ein Teil meines Lebens. Ich bin dadurch geprägt und etwas ist davon noch immer in mir.“ Können Sie sich an diese Vergangenheit erinnern, Sie waren damals ein Kind?
Ich widerspreche ganz entschieden der im ersten Satz von Punkt 6 ausgesprochenen Behauptung und ihrer Formulierung („ausgebliebene Bewältigung“) und rücke diese Aussage bzw. Fragestellung in die richtige Position. Nämlich: Es gibt keine „Bewältigung“ der „braun beschmierten Vergangenheit“ (NS-Herrschaft und ihre Verbrechen sowie den verbrecherischen Krieg) durch Literatur, durch Gedichte, auch und schon gar nicht durch meine. Ich habe auch gar keinen Versuch zu einer literarischen Bewältigung dahingehend unternommen. Nein, diese meine Gedichte (und Fotografien), wie sie im Fotogedichtband „Farbenlehre“ aufscheinen, sind das Zeugnis meiner Konfrontation mit der NS-Herrschaft und dem Holocaust, konkret mit dem ehemaligen KZ-Mauthausen. Und es ist das Ergebnis einer individuellen Trauerarbeit. Zu den „Wunden dieser Vergangenheit“: Das sind die Wunden der Opfer, der Holocaust-Überlebenden! Ihnen wünsche ich – bei aller Skepsis, ob dies überhaupt jemals in einem solchen Leben möglich ist – eine Heilung ihrer Wunden, vielleicht in Form der Vernarbung. Etwas anderes aber ist es, immer wieder an diese durch den NS-Terror zugefügten Lebenswunden und an die Opfer zu erinnern und dazu beizutragen, daß dieser grauenhaften Abschnitt in der Menschheitsgeschichte und die Schuld der Täter und Mittäter nicht mit Verdrängen und Vergessen(wollen) zugedeckt wird. – Zu meiner Erinnerung an diese Zeit: Die gibt es und sie ist noch immer sehr lebendig in mir und in Erinnerungsbildern abrufbar. Noch immer höre ich das „Heil Hitler!“-Geschrei der Volksschüler vor unserem Haus, die von der Lehrerin oder dem Direktor in einer langen Zweierreihe bis zur Ecke von Kirchengasse und Marktplatz geführt wurden und auf den „Heil Hitler!“-Gruß der LehrerInnen gemeinsam mit ihrem „Heil Hitler!“-Schrei antworteten. Noch immer höre ich die Lautsprecherdurchsagen über den Platz hallen. Noch immer sehe ich Männer in Uniformen und die Hakenkreuzfahnen an den Häusern. Und ich erinnere mich an den Augenblick, als meine beiden älteren Brüder in den Krieg mußten und sich von den Eltern und der Familie verabschiedeten. Und noch immer spüre ich die Angst, die in uns und rund um uns verbreitet war. Das ist die andere Medaille der „fröhlichen Kindheit“!
Ist die Kindheit für einen Schriftsteller immer etwas Unauslöschliches, etwas so tief Prägendes, dass er sich davon nicht loslösen kann?
Die Kindheit ist – so hoffe und glaube ich – doch für jeden Menschen etwas Unauslöschliches, etwas Unauslöschbares, weil sie wie nichts sonst im Leben später und für das ganze spätere Leben etwas Prägendes ist. Ob SchriftstellerInnen hier einen besonderen Status einnehmen, kann ich nicht beurteilen, aber es ist sicher, daß die Erinnerung ein besonderes und ein großes Reservoir für das literarische Sicherinnern darstellt. Das belegt die sogenannte „Erinnerungsliteratur“ vieler Autorinnen und Autoren durch alle Zeiten hindurch. Und man muß sich von der Erinnerung an seine eigene Kindheit auch nicht loslösen, von manchen negativen oder einengenden Prägungen jedoch schon, um eine entwickelte, eigenständige Persönlichkeit zu werden.
Wann haben Sie Ihre große Leidenschaft zur Literatur entdeckt?
Ich habe keine „große Leidenschaft zur Literatur“. Ich habe eine große Leidenschaft für das Leben! Für meines und für jede Art von Lebewesen überhaupt. Und mich interessiert der Mensch: in seinen Möglichkeiten, in seiner Begrenzung, in seiner Dimension, in seinem Ausgeliefertsein, in seiner Freude, in seinem Schmerz, in seiner Verzweiflung, in seiner Hoffnung, in seiner Liebe, in seinem Lieben; in seiner Abgründigkeit, in seiner unvorstellbaren Grausamkeit, in seinem Streben nach dem Guten, in seiner Aufopferung, in seinem Leiden, in seinem Sterben, in seinem Tod. Das ist es, was mich interessiert, worin ich Einblick haben möchte und Einblick nehme, um Mensch und Leben zu verstehen, verstehen zu können; und damit auch die Frage beantworten zu können bzw. einer Antwort näherzukommen auf die Frage, wer ich bin. Nein, Leidenschaft zur/für Literatur habe ich nicht, aber sie ist für mich wichtig als Widerspiegelung des ewigen Themenkreises vom Menschsein, von der menschlichen Existenz, im philosophisch-ontologischen Sinn, aber auch in der empirisch-existenziellen Erfahrung, auch der des eigenen Ichs. Und deshalb habe ich doch eine Leidenschaft, nicht die für die fertige Literatur, für das literarische Produkt, sondern für das Schreiben dieser – meiner – Literatur. Da gibt es eine große Leidenschaft, auch ein Mich-Ausliefern an diesen Sog von Frage und Antwort, da gibt es auch eine Rangordnung, die darin besteht, alles in meinem Leben dieser Zielsetzung unterzuordnen. Da gibt es die Lust am Schreiben, aber auch die Disziplin der täglichen Arbeit. Denn Schriftstellersein ist ein Beruf. Und Künstlersein bedeutet Verpflichtung.
Ihre Produktivität als Dichter und Kunstfotograf ist beachtlich, woher nehmen Sie Energie zum Schreiben, brauchen Sie einen Auslöser um schaffen zu können? Sind Dichten und Fotografieren verwandte Künste? Wo wären eventuelle Affinitäten zu suchen?
Ja, wenn ich zurückblicke, vorallem auf die letzten Jahre, so ist tatsächlich sehr viel entstanden, vorallem in meiner Literatur und ihrer Anordnung in Büchern. Zum Beispiel die „Werkausgabe“ meiner Gedichte aus dem gesamten Schaffenszeitraum von 1960-2002. Das sind 5 Bände mit ca. 920 Seiten Lyrik! Daneben sind noch andere Bücher in fremdsprachigen Übersetzungen erschienen. Das war ein Jahrzehnt Arbeit. Natürlich frage ich mich, ob das überhaupt einen Sinn gehabt hat oder einen Sinn hat, vorallem weil ich weiß, daß niemand diese Bücher, diese Gedichte wirklich braucht, jedenfalls nicht für sein und zu seinem Leben. Diese Literatur ist überflüssig, ein Luxusgut. Nur für mich war es notwendig, diese Literatur zu machen und mich mit ihr später zu konfrontieren, sie noch einmal durchzudenken, aufzuarbeiten, zu korrigieren, ihr eine endgültige Fassung, eine Endfassung, zu geben, sie abzuschließen, als eine erfüllte Lebensaufgabe, die man hinter sich hat und hinter sich läßt. Ich möchte mich so auch von meinen Gedichten verabschieden. Ich brauche sie nicht mehr. Ich will sie und sie sollen mich in die vielleicht noch ein wenig verbliebene Freiheit meines Lebens entlassen. Ich habe viel Energie, Arbeit, Zeit, ja Substanz meines Ichs in diese Gedichte investiert, für sie aufgewendet. Sie haben mich auch viel gekostet, ich habe einen Preis in meinem Leben für sie bezahlt. Deshalb ist auch mein Verhältnis zu ihnen, zu meiner Literatur, zu meinem Schreiben ein kritisches, ein Spannungsverhältnis. Immer wieder vermeine ich, daß das ganze Schreiben in meinem Leben und sein Ergebnis nichts anderes war als vergeudetes Leben. Deshalb bin ich manchmal „böse“ auf meine Gedichte und auf meine Literatur. Ich trage das ihnen nach, daß sie mir so viel genommen haben, weiß aber zugleich auch, daß sie mir sehr viel, eigentlich alles gegeben haben. Ohne meine Gedichte wäre ich nichts, ohne sie hätte ich zwar ein Leben, aber keine Identität. Woher ich die Kraft dazu genommen habe? Aus meiner entwickelten Lebenshaltung und Lebenskultur des Widerstandes, des „Trotzdem!“. Das literarische Schaffen — vorallem in der Lyrik – ist bei aller Spontaninspiration doch ein sehr hartes, auch ein einsames „Geschäft“, das mich immer wieder auf mich selbst zurückwirft, mich infragestellt, mich gefährdet und mir zugleich Halt gibt, mir meine Abgründe aufzeigt und zugleich (vielleicht vermeintliche) Sicherheit schenkt. Mit dem Fotografieren ist es ganz etwas anderes. Das ist reine Freude am Augenblick – in der konkreten Bedeutung dieses Wortes „Augenblick“. Ich sehe und schaue sehr gerne und ich denke oft in Bildern. Bilder haben keine lineare Folgestruktur, sondern alles ist gleichzeitig da, simultan, in einem Augenblick. Aneinandergereihte Bilder in der Beobachtung ergeben eine Bilderszenerie wie in einem Film. Zum Beispiel bei Autofahrten, Spaziergängen, Städteerkundungen, Museumsbesuchen; aber auch im intimen Erlebnis der Liebe, der Liebesbegegnung. Ich erinnere mich immer in Bildern. Worte, das Gesagte vergesse ich sehr leicht und schnell und fast immer. Das Sehen und Schauen und dieses mit Hilfe der Fotografie festhalten, das ist für mich wie das Öffnen eines Fensters zur Welt, das ermöglicht mir intensive Anteilnahme, das bringt die Welt von draußen auch zu mir nach innen. Ich liebe es zu fotografieren, ich mag gelungene Bilder, wenn das fotografische Abbild so geworden ist wie die Wirklichkeit oder noch besser, eindringlicher, bedeutungsvoller, eben Kunst.
Hinter Ihren knappen Worten spürt man oft Zorn, Hass und Schmerz, könnten Sie ohne diese Gefühle schreiben? Kurt Adel z.B. nennt Ihr Buch Gitter „den außerordentlich eindrucksvollen Gedichtband eines gequälten Menschen“. Was quält Sie eigentlich? [Kurt Adel: Die Literatur Österreichs an der Jahrtausendwende. Frankfurt am Main 2003, S. 46]
Ja, meine Gedichte sind emotionsgeladen. Die Erregung, die leidenschaftliche, ungebremste Emotion, das starke Gefühl sind die Triebfedern in meinen Gedichten, daß sie entstehen und daß sie so werden, wie sie sind. In den politischen Gedichten, in jenen, in denen ich mich über empörende Gesinnungen, Verhaltensweisen, Handlungen oder Handlungsdefizite, über Gesellschaftskonventionen und Gesellschaftslügen, über politische Propaganda, über menschenverachtende Staatsmacht und Machtmißbrauch, über die Lethargie des indifferenten Zeitgenossen bei dessen gleichzeitig auf der Lauer liegender Aggressivität gegen alles, was schwächer ist als er selbst, aufrege, da kommt mir der Zorn hoch und er schlägt manchmal auch in Haß um, in dem Sinne, daß mir solche „Zustände“, sprich Menschen und deren Praktiken, verhaßt sind. Der Schmerz aber ist dort, wo etwas tief nach innen geht, nicht so sehr im Sinne von persönlicher Verletzung und Verletztbarkeit, vielmehr dann und dort, wo die Unabänderlichbarkeit menschlichen Schicksals ins Leben eingreift und den Menschen an den Rand seiner eigenen Existenz(fähigkeit) drängt: im (oft sinnlosen) Leiden, im Sterben und im Tod; beim Verlust geliebter Menschen, in der Familie oder auch sonst; beim Zusammenbruch einer aufgebauten Liebes- und Lebensbeziehung, in der ausweglosen Einsamkeit. Und dies nicht nur beim eigenen Betroffensein, sondern in Momenten tiefen Mitgefühls. Schmerz und Trauer, Verzweiflung und Hoffnunslosigkeit sind immer wieder an solchen Schnittpunkten im Leben spürbar, man ist solchen Empfindungen ausgeliefert und man ist gefährdet, muß aber lernen, damit zu leben und dabei nicht unterzugehen. Das Gedichteschreiben ist für mich dabei eine große und wichtige Hilfe und ein Schutz. Was aber am meisten mich quält ist die Einsamkeit. Diese ist unauslöschbar und brennt von Zeit zu Zeit wie ein verzehrendes Feuer im Innern; und da hilft dann auch kein Gedichteschreiben mehr, im Gegenteil: diese machen mir die eigene Einsamkeit, dieses Im-Leben-Verlorensein, die Ausweglosigkeit, diese unstillbare Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit, nach Lebensfülle und Lebenserfüllung, nach dem Ganzen und Vollkommenen, nach Unbegrenztheit, nach der Zeitlosigkeit ohne Ende durch den Tod, erst nur noch viel schmerzhafter, weil klarer und in Worten ausgedrückt, bewußt. Zugleich aber decken die Wörter, deckt das Gedicht aber den Schmerz auch zu. Gedichteschreiben bringt zuerst eine Intensivierung des Gefühls, dann aber Linderung. So, als wäre das Gedichteschreiben ein Begräbnisakt, als wäre damit etwas beendet.
Versuchen Sie manchmal Dinge, die Ihnen im Leben zustoßen, und die Sie sich nicht erklären können, mithilfe der Poesie zu erklären?
Nein. Das Leben hat seine eigene „Logik“ oder „Irrationalität“. Und die Poesie hat nicht die Aufgabe, Erklärungen (für unauflösbare Lebensrätsel) zu finden und zu formulieren. Das Leben ist das eine, die Poesie etwas anderes. Wenn ich mir im Leben dieses oder jenes, die Entscheidung eines Menschen zum Beispiel (gegen mich) nicht erklären kann, dann brauche ich Information, dann muß ich nachfragen. In diesem Rahmen kann ich zu Erklärungen kommen. Aber insgesamt ist das Leben, ist die menschliche Existenz, das Wie und Warum eines Lebens und im Leben nicht erklärbar. Es würde auch nicht viel helfen, im Sinne von mit dem Leben gut zurechtkommen, bei der Lebensbewältigung. Die Gefahren und die Gefährdung sind einfach gegeben, genauso wie der rettungslose Untergang. Es gibt keinen Ausweg aus dem Dilemma.
Es ist selbstverständlich, dass Schriftsteller Splitter aus ihrer Erfahrungswelt aufgreifen, die dann als poetisch verfremdete Sprachbilder in ihren Hervorbringungen wieder auftauchen. Ist Ihre Poesie vor allem als Reaktion auf die Auswüchse der äußeren Wirklichkeit oder vielmehr als eine Auseinandersetzung mit Ihrer Innenwelt zu deuten?
Selbstverständlich spielt die Erfahrungswelt für den Schriftsteller, für den Dichter, so auch für mich eine große Rolle. Diese Erfahrungswelt, sowohl Umwelt als auch Ich-Welt mit all ihren Konditionen und Relationen, ist ja das Reservoir aus dem man schöpft. Dies gilt auch und im besonderen für mich und meine Literatur. Sie ist kein frei (schwebendes) Konstrukt, sie hat immer mit (erlebter) Wirklichkeit zu tun, ist Reaktion auf sie, immer aber mehr als bloße Reaktion. Und es geht hier nicht um „Splitter“, sondern um ein Ganzes, um eine ganzheitliche Beziehung zwischen Mensch und Welt mit all ihren Kanten und Ecken, Risken, Unerklärbarkeiten, Verletzungen, Verwundungen, Fragen und Antwortlosigkeiten. Nichts davon taucht als „verfremdete Sprachbilder“ auf, jedenfalls nicht bei mir. Immer wird Wirklichkeit angesprochen, ausgesprochen, wiedergegeben, nicht verfremdet aber oft chiffriert, so daß der Akt der Rezeption auch ein solcher der Dechiffrierung sein muß, um Inhalt und Aussage zu verstehen, verstehen zu können. Beides zugleich kennzeichnet die Dimension meiner Lyrik: Innen- und Außenwelt. Und immer sind beide miteinander in Berührung, auch in Konfrontation, in Unvereinbarkeit, im Widerspruch. An diesen Schnittpunkten (Buchtitel eines Gedichtbandes!) geschieht Ereignishaftes und Bedeutungsvolles, sowohl im Leben wie im Gedicht. Hier entscheidet sich manches, immer Wesentliches, Folgenhaftes. An Schnittpunkten aber gibt es auch Begegnungen und Trennungen, Sich-Finden und Einander-Verlorengehen, vorallem in der Liebesbeziehung. Schnittpunkte sind auch Schmerzpunkte, Punktierungen, die das Leben am Menschen vornimmt. Zurück bleiben Spuren (Titel eines Gedichtbandes!), Spuren von Eingriffen, Narben von Verwundungen; Lebenstätowierungen.
Übertragen Sie Ihre Erfahrungen mit der Außenwelt eins zu eins in Ihre Lyrik oder werden sie vorerst entsprechend bearbeitet? Wo und wann setzt bei Ihnen der künstlerische Prozess ein?
Eine „Eins-zu-Eins“-Übertragung von Leben auf Lyrik gibt es nicht, sie wäre Abklatsch (des Lebens), nichts Künstlerisches, nur ein Abdruck, der weder mit Wirklichkeit noch mit Kunst/Literatur etwas zu tun hat. Immer geht es beim intellektuellen Denkprozeß und beim künstlerischen Gestaltungsprozeß und Zuordnung und Einordnung, um Analyse und Interpretation und dann um Neuordnung und Neugestaltung zu einem anderen, neuen Ganzen: dem literarischen Kunstwerk. Das hat man als Dichter zu leisten, den Unterschied herauszuarbeiten, der zwischen dem bloß Dahin- und Dahergesagten, dem Gerede, und dem Gedicht besteht. Dabei kann der „künstlerische Prozeß“ in einem einzigen Augenblick und durch einen einzigen aufflackernden Gedankenbruchteil, durch ein den dichterischen Prozeß auslösendes Wort oder eine kurze Wortfolge, meist dann die erste Zeile in einem Gedicht, ausgelöst werden; so ist es jedenfalls bei mir. Darauf geht der von mir verfaßte und in der Zeitschrift „Die Unke“ (Klagenfurt, 1994) publizierte Text „Wie entsteht (m)ein Gedicht?- Zum Phämomen des poetischen Aktes“ umfassender und genauer ein.
Einen wichtigen Platz nimmt in Ihrer Poesie die Kunst des Sich-Erinnerns ein. Im Gedicht Ein Bild in mir schreiben Sie: „Im kleinen Handgepäck meiner Erinnerungen ist alles vollkommen.“ Sind in diesem Sinne Erinnerungen für Sie eine Art Zufluchtsort von dieser unvollkommenen Realität?
Ihre Formulierung bzw. Bezeichnung „die Kunst des Sich-Erinnerns“ für diesen Erinnerungsakt gefällt mir sehr gut. Ob man in diesem Zusammenhang wirklich das Wort „Kunst“ verwenden kann, weiß ich nicht; aber warum auch nicht! Jeder, glaube ich, versteht, was hier damit gemeint ist, welche Bedeutung bei dieser Formulierung mitschwingt. Ich erkläre mein Mich-Erinnern wie folgt. Das eine ist der willentlich vorgenommene und von mir selbst gestaltete Erinnerungsakt, bei dem ich die in mir gespeicherten Erinnerungsbilder wie in einem Film, heute Bilddatei im Computer, abrufe und sie mir vor Augen führe. Das andere aber sind Erinnerungen, die ohne daß ich sie herbeirufe oder sogar ohne daß ich es will sich von selber immer wieder bei mir melden, aus meinem Gedächtnis in den Raum meiner inneren Schau eindringen, dort aufflackern, von mir vielleicht verdrängt und ausgelöscht werden. Hier handelt es sich meistens um Erinnerungen an unangenehme Ereignisse, an belastende Vorfälle, um etwas, das ich vielleicht verdrängen und vergessen will. Beide Erinnerungsarten gibt es und sie nehmen eine wichtige Stellung in meiner Sicht und Vergegenwärtigung der Vergangenheit ein. Die Erinnerung und das Sich-Erinnern-Können schaffen ja erst jene Zeitdimension, in der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbunden werden können. Das nochmalige und wiederholbare Sich-vor-Augen-Führen von Personen, Ereignissen, Bildern, aber auch Gefühlen und Gedanken ermöglicht im Rückblick die Vergegenwärtigung und somit auch einen damit verbundenen analytischen Denkakt, der in eine kritische Sicht und Beurteilung, inklusive einer möglichen Korrektur dabei, mündet. Das ist eine großartige menschliche, nur dem Menschen eigene Fähigkeit. Auf der Fähigkeit zur Reflexion gründet sich so viel, was mit dem Menschen und dem Menschsein zu tun hat: Wissenschaft, Kultur, Philosophie, Kunst. Ob die Erinnerung für mich ein Zufluchtsort ist, kann ich (noch) nicht sagen. Wir alle kennen das Sprichwort: „Die Erinnerung ist der einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“. Mir ist dieser Satz seit jeher geläufig, obwohl ich mich nicht mehr erinnern kann, von wem er stammt. Und hier sehen wir schon, daß es im Zusammenhang mit der Erinnerung auch das Vergessen gibt. Und auch dieses ist wichtig: Das Vergessen-Können. In der Erinnerung idealisiert man oft Vergangenes, es kommt zu einer Verfälschung, einer Beschönigung der Wirklichkeit. Wenn ich mich erinnere, dann will ich der Realität gegenwärtiger Ereignisse und Zustände – auch in meinem Leben – nicht ausweichen, aber manchmal mich aus ihr herausnehmen und „mich in meine Erinnerung zurückziehen als Heimat“ (Wiplinger-Gedicht). Dann wird die Erinnerung so etwas wie ein Zufluchtsort.
Fast alle Gedichte, die Sie als Liebesgedichte betiteln, sind von Ende, Abschied und Erinnerung. Wieso „versinken die Tage der Liebe im Leid?“ Ist die Liebe tatsächlich zum Scheitern verurteilt?
Die Liebesgedichte bilden einen eigenen großen Gedichte-Lebens-Raum in meinem literarischen Schaffen. Nicht alles daraus gebe ich preis, denn (manche) Liebesgedichte sind etwas sehr Privates, ja sogar Intimes, weil sie Liebesbeziehungen widerspiegeln, manchmal ziemlich konkret. Es stimmt, in sehr vielen Liebesgedichten von mir ist von Trennung und Abschied die Rede, wird das Scheitern als ein an der Liebe und ihrem Anspruch und ihren oft den Liebenden aufgezwungenen Konditionen schicksalhaftes Scheiternmüssen sichtbar, wird es an- und ausgesprochen. Hier geht es aber um nichts Philosophisches, sondern um tatsächliche Lebensereignisse und Lebenserfahrung. „So war es, so ist es und anders wird es nicht und nie sein – das sind der Befund und der Merksatz aufgrund von Erfahrung und Erkenntnis. Bei mir steht am Ende immer das Scheitern von Beziehungen, manchmal ist es geradezu vorprogrammiert, weil Konditionen nicht zusammenpassen. Trotzdem lasse ich mich auf die Liebe und auf das Lieben mit meiner ganzen Leidenschaft und Persönlichkeit ein, auch wenn ich das Scheitern und das Ende voraussehe und um den Schmerz der Trennung aus Erfahrung weiß. Ich bin ein Liebender und ich liebe die Liebe und das Lieben. In ihr ist menschliche Beziehung am intensivsten erfahrbar. Wenn ich liebe und darin Erfüllung finde – wenn auch nur zeitweise und begrenzt, sozusagen „auf Abruf“ – dann verändern sich für mich die Welt und mein Leben(sgefühl). Und ich gebe mich dieser Veränderung ohne Rücksicht und ohne Rückhalt hin. Das bedeutet aber ein Sichausliefern und damit den ersten Schritt in Richtung Katastrophe. Am Ende steht dann immer die Einsamkeit.
Wenn Sie gestatten, möchte ich Sie auch nach der Rolle der Frauen in Ihrem Leben fragen.
Ich liebe die Frauen, alle in ihrer Verschiedenheit, in ihrer Besonderheit, wenn sie Persönlichkeit haben. Das klingt sehr nach Casanova-Plattitude. Ich meine es aber ganz anders. Frauen sind mir viel näher in ihrer Eigenart und Wesensart als Männer. Gleichzeitig sind sie mir fremder. Und genau das fasziniert mich. Die Faszination, aber auch die Verunsicherung beruht auf diesem Spannungsverhältnis von Vertrautheit und Fremdheit. Ich liebe die Nähe zu Frauen, die mich „ansprechen“, brauche aber auch die Distanz – vielleicht als Schutz – vorallem in Beziehungen. Ich gerate, wenn ich mich verliebe, sehr leicht und schnell in einen Sog, der mich in einer gefährlichen Strudel hineinzieht. Auch die Gefahr der Idealisierung besteht; und somit eine Verfälschung, Verzerrung der Wirklichkeit, der konkreten Gegebenheit einer Beziehung. In solchen Beziehungen bin ich immer gefährdet und bin immer ich der Gefährdete. Frauen sind viel kontrollierter, jedenfalls heutzutage; und die jüngere Erfolgsgeneration der Frauen. Trennungen fallen mir schwer, jedenfalls schwerer als vielen anderen. Ich hänge sehr stark und sehr lange am Gemeinsamen, das zwei Menschen – egal in welcher Art von gelebter Beziehung – verbindet. Vernunft hilft mir überhaupt nicht. Ich lebe nicht nach der Vernunft. Ich bin ein Romantiker, auch in der Liebe, was bedeutet, daß die Idee, die mich begeistert oder nach der ich suche, für mich stärker und bestimmender ist als die Wirklichkeit. Es gab und gibt lange Beziehungen in meinem Leben, aber auch kurz aufflackernde intensive Liebesbegegnungen. Und es gibt eine seit mehr als zwei Jahrzehnten noch immer bestehende Lebensgemeinschaft mit einer Lebenspartnerin. Immer aber steht die Liebe und steht jede Liebesbeziehung in einer unauflösbaren Problem-Konflikt-Konstellation, nämlich im Verhältnis von persönlicher Freiheit und kulturell-gesellschaftlicher Prägung und Konvention. In jeder länger andauernden Liebesbeziehung gibt es die Lüge. Die Wahrheit, die schonungslose Wahrheit würde unweigerlich zum Zerbrechen, zur Auflösung der Beziehung führen. Ich hätte gern und lieber offene Beziehungen als diese Liebesbeziehungsgefängnisse, in denen die persönliche Freiheit respektiert und eine Hinwendung nach außen aufgrund und auf der Basis eines Regelkodex zulassen wird. Ich weiß aber, daß dies in „Normalbeziehungen“ in unserer Kultur nicht möglich ist. Man nimmt lieber die Scheinheiligkeit, die Verlogenheit, die Lüge in Kauf. Und nennt dies dann Moral und Lebensordnung. Daß es nicht wirklich funktioniert, zeigen die Scheidungsstatistiken und die (noch) bestehenden schlechten Ehen und miserablen Beziehungen. Mit all dem will und wollte ich nie etwas zu tun haben. Aber auch davon kann man sich selber nicht ausnehmen.
In vielen Gedichten kommt Ihre ungeheuere Sensibilität zum Ausdruck. Dies bezieht sich u.a. auf die Welt Ihrer intimsten Erlebnisse. Ich nehme an, dass es schriftliche Fixierungen von derartigen Erlebnissen gibt, Gedichte, die Sie nur für sich behalten möchten, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind, oder bin ich im Irrtum?
Diese Frage wurde im vorigen Punkt schon von mir angesprochen und beantwortet. Es gibt aus der Situation heraus geschriebene Gedichte, die weniger nach literarischen Zielsetzungen ausgerichtet sind und nicht so sehr literarischen Kriterien entsprechen, deren Zweck die intime Mitteilung oder die Aufzeichnung ist. Zu diesem Bereich gehören auch Briefe. Ich schrieb und schreibe Liebesbriefe, ich glaube, daß (romantische) Frauen dies mögen. Ein SMS wäre da zu formelhaft.
Man hält Sie für einen Dichter ohne Lächeln, ohne Lebensfreude, der sich als Moralist und Lehrer ausgeben wolle, der Suchenden den vermissten Weg weisen könne. Ist Ihnen nie passiert, sich in dieser komplizierten Welt verloren zu haben? Wollen Sie anderen Orientierungsmöglichkeiten verschaffen?
Wer ist dieses „Man“?! Und woher nimmt irgend jemand diese vermeintliche aber anmaßende Berechtigung auf eine solche, völlig absurde Persönlichkeitsreduktion meines Ichs?! Ein undefinierbares „Man“ gibt es nicht, das ist Pseudopersonalisierung einer Konstruktion und somit Manipulation! Nein, ich bin kein Griesgram, ich bin kein Lebensverneiner, ich bin ein vitaler Mensch, der auch gerne von Zeit zu Zeit in der (richtigen) Gesellschaft ist. Sicher, ich lache nicht viel und ich sollte fröhlicher sein, aber der Ernst ist eben meine Grundstimmung. Ich mag keine blöden Späße und keine Pseudolustigkeit. Vielleicht bin ich in den Augen anderer oder in Wirklichkeit ein Moralist (je nachdem, was man darunter versteht), weil ich immerzu Werte und Prinzipien einmahne, da ich von der Notwendigkeit ihrer Beachtung und Einhaltung überzeugt bin; auch weil ich nicht in einer „unmoralischen Welt“ leben will und leben möchte, wo allen alles egal ist und wo man Werte und Wertvorstellungen nicht mehr respektiert und somit auch jene Menschen nicht, die danach leben, und wo man auf Prinzipien pfeift (um es so und nicht drastischer zu sagen). Hier geht es aber nicht um (verlogene) Moral, sondern um ethische Grundwerte. Ebenso bin ich kein Lehrer, kein Wegweiser, will auch gar kein solcher sein. Hier endet die Aufgabe des Schriftstellers und der Literatur. Eines aber bin ich sicher: Ein Kämpfer, der leidenschaftlich für Wahrheit und Gerechtigkeit eintritt und der Vernunft, Respekt und Toleranz einmahnt, wo immer er muß und wo immer er kann. Das ist aber kein besonderer und schon gar kein aus dem Schriftstellerdasein abgeleiteter Auftrag. Dazu und dem ist jeder Mensch verpflichtet sein, wenn man will, daß die Welt verbessert wird.
Wie kam es dazu, dass in der Lyrik eines österreichischen Dichters so viele polnische Themen erscheinen?
„Auschwitz“ und das „Warschauer Ghetto“ sind zwar Topoi auf der Landkarte von Polen bzw. dem ehemaligen Stadtplan von Warschau, doch das sind keine „polnischen Themen“. Das sind Menschheitsthemen! Verschiedene Gedichte aber sind während meiner beiden Polen-Reisen/-Aufenthalte entstanden: 1999 Internationaler P.E.N.-Kongreß in Warschau mit Besuch des ehemaligen KZ Auschwitz-Birkenau und 2003 eine Lesereise (mit Fotoausstellung) nach Oppeln/Opole, Bresslau/Wroclav und Przemysl mit Kurzaufenthalt in Krakau/Kraków.
Wie würden Sie den Begriff ‚Heimat’, ‚Heimatverständnis’, ‚Heimatbewusstsein’ deuten. Ich habe einige Verse aus Ihren Gedichten herausgesucht, vielleicht kommen wir dadurch näher an die Frage. „Heimkehren, das wäre gut für mich, aber ich weiß nicht wohin?“; „Fremd bin ich dort, wo ich wohne.“ Wo fühlen Sie sich denn nicht fremd, wo sind Sie eigentlich beheimatet?
Den Begriff „Heimat“ definiere ich für mich als mein Gefühl von Zugehörigkeit, Übereinstimmung, Vertrautheit, Herkunft, das Land meiner Kindheit. Aber nicht nur angestammte Heimat gibt es, sondern auch neu gefundene, entdeckte und solche, die sich im Laufe des Lebens für mich (als solche heraus-) gebildet haben. Es gibt Heimaten für mich, eine Mehrzahl von ihnen, nicht nur eine einzige ausschließliche. Das ist ein Mythos. Und jeder Nationalismus, der als Begleiterscheinung einen mir unverständlichen, fragwürdigen, verdächtigen und mir zuwideren Patriotismus hat, operiert mit dem Heimatbegriff, der manchmal sogar in eine Blut- und Bodenmystik umschlägt, oder in eine lächerliche Kitschwelt. Im Nationalsozialismus verband sich beides: Aggressiver Blut- und Bodenmythos samt Rassismus (Holocaust) und kindisch-kitschige Begriffs- und Bedeutungswelt von „Scholle und Heimat“. Bei dem Begriff „Heimat“ muß man sehr vorsichtig sein, denn Begriffsdefinitionen von diesem Wort sind oft geprägt von üblen Gesinnungen und Haltungen, Wort und Wert werden da sehr oft und sehr leicht und nicht immer sogleich als solches erkennbar manipuliert und instrumentalisiert. Dieses Wort ist sehr leicht einer Ideologisierung ausgesetzt. Und es dient sehr oft zur Verschleierung ganz anderer Vorstellungen und Absichten und wird so weiterhin mißbraucht. In meinen Gedichten flammt immer wieder da oder dort diese Sehnsucht nach Heimat auf, wird der Wunsch nach (letzter) Heimkehr ausgedrückt. Dem gegenüber steht aber immer das bedrückende Selbsterlebnis, die Ich-Erfahrung, ein Fremder zu sein, ein Fremdling inmitten meiner Umwelt. Eine Heimkehr gibt es für mich nicht, nur den Weg ins Niemandsland (Buchtitel). Dahinter stehen reale Lebensereignisse und Lebenszusammenhänge, wie der Verlust meines Elternhauses durch Abriß und Platzmachen für einen neuen Supermarkt. Und auch mein ruheloses Herumziehen von einem Ort zu einem anderen; die vielen Wohnungswechsel, die gescheiterten oder zerbrochenen, weil von Anfang an brüchigen Beziehungen. Wo und was ist Heimat für mich. Antwort: Mein Gedicht, meine Sprache, mein Wort; und der Ort, an dem ich schreibe. Heimat aber ist für mich auch „meine“ Musik. Oder, wenn es ihn von Zeit zu Zeit gibt, der von mir geliebte Mensch, aber dann auch nur für einen und in einem Augenblick und im Bewußtsein des jederzeit möglichen Verlustes und des Grundwisssens, daß nichts von Dauer ist. Heimat ist für mich die Autobahn, ist das Reisen, ist die Wiederbegegnung mit von mir geliebten Städten (London, Sarajevo) und Landschaften. Heimat ist für mich dann und dort, wenn ich das Gefühl habe, angekommen zu sein. „Irgendwo ankommen / müßte man, sage ich; / irgendwo“ (P.P.W.-Gedicht „Stranden im Licht“, Oulu/Kosto in Finnland, 1998 ). Aber das ereignet sich (fast) nie, bleibt nur ein Wunschtraum, bleibt nur brennende Sehnsucht. Denn Heimat ist nirgendwo. Oder „heimat ist anderswo / wo weiß ich nicht“ (P.P.W.-Gedicht „Schnittpunkte“, Wien, 27.6.1990).
In Ihren Gedichten wird das Individuum schonungslos mit der nicht selten grausamen Wirklichkeit konfrontiert, immer wieder weisen Sie auf diverse Gefahren hin, denen wir ausgeliefert seinen. Kann die Literatur dieses Grausame und die daraus resultierende Weltangst des modernen Menschen abbauen?
Dieses Individuum, das schonungslos mit der oft grausamen Wirklichkeit konfrontiert wird, bin in erster Linie ich selbst. Ich setze aber dieses Ich paradigmatisch ein und versuche, das personale Ich zu einem literarischen Ich zu gestalten, um ein Gedicht als Ergebnis zu haben und nicht Tagebucheintragungen; wenngleich in den Gedichten gemachte Angaben, Befunde, Analysen und Resultate in der Gesamtheit aller meiner Gedichte ein „Logbuch“ (E. Schawerda) meiner Seele, des „cor inquietum“ (E. Schawerda) ergeben, indem sie sowohl alle Facetten meiner Persönlichkeit als auch mein Verhältnis zur Welt und zur eigenen Existenz aufzeigen und widerspiegeln. Immer wieder gab es Stimmen, die mich einen „Pessimisten“ nannten, aber das bin ich nicht. Ich bin ein Realist, der nichts beschönigt, sondern nur auf die Menschheitsgeschichte und den Zustand der Welt verweist. Das allein genügt. Was berechtigt denn angesichts des 11. Septembers 2001 oder angesichts des Irakkrieges – als Beispiel dafür wie eine Weltmacht und ein US-Präsident mit seinen Kumpanen mit Konflikten umgehen – oder auch der russisch(-sowjetische) Staats-Militär-Terror in Tschetschenien, der jahrzehntelange Israel-Palästinenser-Konflikt und seine Eskalierung (Besuch Sharons auf dem Tempelberg in Jerusalem!) oder die fast ungebremste Ausbreitung von Aids in Afrika zum Glauben an eine bessere Zukunft, an eine Verbesserung(smöglichkeit) der Welt, durch wen auch immer. Das ist eine Illusion, sträfliche Naivität. Zuerst muß hier ein Umdenken stattfinden, müssen Staatsmacht- und Weltmachtstrukturen geändert werden, muß hier eine weltweite Demokratisierung einsetzen; und die erreicht man nicht mit Raketen und Bomben. Zuerst muß diese arrogante Überheblichkeit des Westens gebrochen werden und der Fundamentalismus in allen Religionen durch Aufklärung „bekämpft“ und aufgehoben werden. Ein Quantensprung geistig ins 21. Jahrhundert ist notwendig und zwar global. Und die Freiheit des Individuums allen Religionen und Religionsgemeinschaften und auch gegenüber den Staatsmächten muß anerkannt und durchgesetzt werden. Der Mensch muß befreit werden von seiner Unterdrückung, auf allen Ebenen und auf der ganzen Welt. Aber wie und durch wen? Ich weiß, das alles ist Utopie. Aber man muß an sie als etwas real Mögliches glauben, eine andere Alternative gibt es nicht.- Nein, die Literatur kann dazu keinen wesentlichen Beitrag leisten, doch die SchriftstellerInnen, die Intellektuellen überhaupt können und müssen sich international verbünden und eine Kampagne der Aufklärung und der Vernunft initiieren und durchführen, wenn schon „die Anderen“ ihre Kreuzzüge gegen „die Achse des Bösen“ wie eine Strafsanktion durchführen. Vielleicht kann man dazu beitragen, daß solche Menschen nicht mehr an die Macht, an die fast uneingeschränkte (Welt)Macht kommen. Das gälte es zu verhindern. Sicher kann die Literatur, kann überhaupt die Kunst, einen Beitrag leisten zur Sensibilisierung sowohl im ästhetischen Bereich, als auch durch einen bewußt zu machenden ethischen Wertekanon im gesamten Lebensbereich. Die Wirklichkeit kann Literatur, kann Kunst nicht verändern, aber sie kann sie durchleuchten, ihre Konditionen, Koordinaten und Komponenten aufzeigen und benennen, sie in Frage stellen, Gegenentwürfe zum Vorhandenen entwerfen. Sie kann über die Deskription von Wirklichkeit hinausgehen und vorzeigen, wie etwas sein könnte und aufzeigen, wie dies oder jenes geändert werden müßte, damit die Welt nicht mehr so ist, wie sie (augenblicklich) ist. Das ist meine Vorstellung, vielleicht eine Wunschvorstellung, der man sicher auch widersprechen kann und widerspricht. Nur, ich möchte daran glauben, daß es möglich ist, die Welt zu verändern, zu verbessern. Und ich möchte diese Aufgabe nicht an die Politik und schon gar nicht an die Militärs und auch nicht an die Staatsmacht delegieren. Denn da funktioniert es sicherlich nicht. Das sehen wir ja seit Jahrhunderten.
Die Einsamkeit ist das immer wiederkehrende Motiv in Ihrer Dichtung. Ist hier die Einsamkeit eines Schriftstellers in seinem Kampf gegen die Ungerechtigkeit in der Welt gemeint oder ist das einfach die Einsamkeit eines Menschen?
Zum Thema Einsamkeit habe ich schon vorher einiges gesagt, was wesentlich und aufschlußreich ist sowohl für meine Dichtung, als auch für meine Person. Beides ist nicht voneinander zu trennen, eines ist im anderen, macht eine Ganzheit aus. Natürlich ist das Schreiben – vorallem das Schreiben von Gedichten – ein einsames Geschäft. Es ist ein Monolog mit sich selber, ein Rufen aus dem Niemandsland in die Antwortlosigkeit hinein. Es kommt nichts zurück. Dies über Jahrzehnte praktiziert macht einsam, verstärkt die schon in einem selbst festgelegte Einsamkeit, die aus dem eigenen Wesen und Charakter, aus dem Leben und den Lebensbedingungen resultiert. Und jeder Kampf, in dem man allein ist, allein gelassen wird, sich alleingelassen fühlt, macht einsamer, vorallem dann, wenn man ihn verliert. Und man verliert fast alle diese Kämpfe. Man steht immer auf verlorenem Posten. Man ist prädestiniert für das Verlieren, als hätte einen das Schicksal dafür ausgesucht, auserwählt. Künstler sind oft Verlierer, aber nur im Leben, in der Kunst gewinnen sie. Boxer, überhaupt Sportler, Wirtschaftsmänner und Politiker sind Gewinnertypen. Und man feiert ihr Gewinnen. Wenn ein Fußballstar bei einem internationalen Spiel ein Tor schießt, dann machen zig-tausende Fans „die Welle“, jubeln, schreien und klatschen, als hätten sie die Welt gerettet. Wenn ein Dichter ein Gedicht liest, das gut und wahr ist und auch jemanden berührt, dann ist Stille. Und das ist auch gut so. Das sind die beiden Welten, jene draußen und die andere innen. Außen- und Innenwelt. So ist es eben. Aber die Stille, vorallem die lastende Stille, zum Beispiel im Alleinsein, kann einen sehr einsam machen, kann einem die eigene Einsamkeit sehr schmerzhaft bewußt machen; vorallem auch in der Liebe, beim oder nach dem Verlust des – vielleicht über alles – geliebten Menschen, durch Trennung, durch den Tod. Da landet man dann in auswegloser, mitunter in – im wahrsten Sinn des Wortes – tödlicher Einsamkeit, in Verzweiflung, rettungslos.
In Ihren lyrischen Gebilden erscheinen zahlreiche europäische bzw. österreichische Erinnerungsorte: Auschwitz, Oberwart, Mauthausen, die Wiener Mazzesinsel, Pristina, Sarajevo und viele andere. Die einschlägigen Assoziationen sind durchaus negativ- Holocaust, Genozid, ethnische Säuberungen, erzwungene Völkerwanderungen und Vertreibungen. Wäre es nicht angebracht auch solche Orte in die Erinnerung zu bringen, bei denen positive Konnotationen aufkommen könnten?
Orte der Erinnerung – wie Auschwitz, Mauthausen, die ehemalige „Mazzesinsel“ im 2. Wiener Bezirk, der jüdische Friedhof von Oberwart, Innsbruck, Breslau oder anderswo, Sarajevo, Mostar, usw. – sind nicht, wie Sie es formulieren, mit „einschlägigen Assoziationen negativ“ belastet, sondern sie sind als Orte des Grauens (Genozid) eben in ihrer Geschichte (Holocaust) so wie sie sind. Sie sollen in der immer wiederkehrenden notwendigen Erinnerung und im sich Vergegenwärtigen des Geschehenen zu Orten des Gedenkens und des Bedenkens und zu solchen werden, an denen auch Trauerarbeit stattfindet. Das ist etwas anderes als mit diesen Orten verbundene negative Assoziationen. Hier muß man sehr sensibel und differenzierend sich mit seinen Gedanken einem solchen „Thema“ nähern. Dem gegenüber stehen selbstverständlich in vielen meiner Gedichte und in meinem Gesamtwerk sozusagen „positive Orte“, solche von positiven Erlebnissen und Ereignissen. Es gibt also bei mir auch die positiven Konnotationen zur Welt des Grauens. Man muß sie nur aufspüren und wahrnehmen. Solche Orte tragen oft keine Namen. Es sind Plätze in der Natur, an einem See, an der Küste des Meeres. Es sind Orte der Liebe und des Liebens. Es sind Orte in fernen Ländern, an denen mich Augenblicksglücksgefühle von tiefer Lebensintensität erfüllten. Es sind Orte der Stille und Orte des Friedens. Es sind Orte, denen man nahekommt, an denen man verweilt, die man wieder verläßt. Und dies alles in einer schönen Harmonie. Es sind Orte, an die man sich und an alles, was mit ihnen verbunden war, gerne erinnert, und oft in Dankbarkeit. Das sind die Orte des Lebens, des Friedens, der Freude, des Glücks. Die anderen sind Orte der Gewalt, des Leidens, des Schmerzes, der Verzweiflung, des Todes, der Trauer, der Angst.
Sie reisen viel, Sie lesen oft vor österreichischem oder auch ausländischem Publikum. Was bedeutet für Sie der unmittelbare Kontakt mit den literarischen Interessierten? Ist die Institution der Autorenlesung nicht längst überholt?
Reisen, vorallem in bisher mir fremde und neue Länder und Städte, sind für mich sehr attraktiv und wichtig. Erstens erlösen sie mich für einige Zeit von meinem täglichen Aufenthalt in meinem Schreib- und Alltagsgefängnis, unterbrechen die Monotonie der Arbeit und des Lebens, und zweitens bedeutet Reisen für mich immer einen Erlebnis- und Erfahrungszuwachs, also Lernen. Die Welt ist so groß, und ich kenne nur einen atomar winzigen Bruchteil von ihr und den Menschen. Immer hatte ich schon und habe ich noch immer Sehnsucht nach dem Unbekannten, auch nach der weiten Ferne, auch als einem Erlebnis der (eigenen) Freiheit. In meiner Jugend bin ich ja per Auto-Stop einfach losgefahren, nur mit einem Rucksack und mit wenig Geld: nach Italien, nach Paris, nach Jugoslawien, Griechenland, in die Türkei. Reisen war schon immer für mich wichtig. Schön finde ich es auch, an Orte wiederzukehren, die mir etwas bedeuten, mit denen mich bereits Erinnerungen verbinden. Es gibt Orte (Bled) und Städte (Sarajevo), wo ich mich zuhause fühle. Viele Reisen sind mit Literatur, mit Lesungen, Schriftstellertreffen, (P.E.N.-) Konferenzen u.a. verbunden. Nur so sind viele Reisen und Aufenthalte überhaupt für mich möglich. Die Begegnungen sowohl mit Publikum, als auch mit KollegInnen mag ich sehr und das bedeutet mir viel. Ich finde auch leicht und schnell Kontakt, ich gehe auf die Menschen zu, spreche sie an. Sie spüren, daß ich neugierig auf sie bin, mich ihnen zuwenden möchte und dann auch zuwende. Auch das Fotografieren ist da ein Instrumentarium der Kommunikation. Ich machte und mache viele Personenporträts bei solchen Treffen, sende die Fotos dann den KollegInnen. Ich habe auch schon Ausstellungen von solchen Porträts gemacht (Monasterevin/Irland). Um die Fotos schicken zu können, tauscht man Adressen aus, man schreibt sich manchmal, bleibt in Kontakt. So entsteht ein Netz von Beziehungen. Ich mag gerne Begegnungen, Gespräche, auch wenn ich schlecht Englisch spreche. Vielleicht spüren die anderen, daß ich Menschen, so sie nicht falsch, eitel, machtgierig oder intrigant sind, überhaupt gerne mag. Bei mir weiß jeder auch bald, woran er mit mir ist. Denn ich verberge nichts, ich bin ein offener Mensch. Ich bin so wie ich bin und zeige das auch. Jeder ist bei mir willkommen, wenn er mich nicht mißbraucht.
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Weiterführend → Lesen Sie auch die Essays Über den Zustand der Liebe in lyrischen Texten und Poetik des Humanen über Peter Paul Wiplinger.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.