Blicke mir nicht in die Lieder

 

Blicke mir nicht in die Lieder!

Meine Augen schlag‘ ich nieder,

Wie ertappt auf boeser Tat.

Selber darf ich nicht getrauen,

Ihrem Wachsen zuzuschauen.

Deine Neugier ist Verrat!

Bienen, wenn sie Zellen bauen,

Lassen auch nicht zu sich schauen,

Schauen selbst auch nicht zu.

Wenn die reichen Honigwaben

Sie zu Tag gefoerdert haben,

Dann vor allen nasche du!

 

 

 

 

***

Friedrich Rückert, Stahlstich von seinem „lieben Freund und Kupferstecher“ Carl Barth nach einer Vorzeichnung aus dem Jahr 1843

Gustav Mahlers Vertonung der Rückert-Lieder gehört zu seinen persönlichsten und charakteristischsten Vokalwerken. Wie Mathias Hansen beschreibt, war die Aussage des Gedichts, der Welt abhandengekommen zu sein, für Mahler selbst zur bitter gefühlten Wirklichkeit geworden. Er habe die Verse als eigenes Bekenntnis verstanden und entsprechend vertont. Die innige Grundstimmung des Liedes wird aus einem einzigen Motiv heraus erzeugt. Die mit c – d – f – a beginnende Tonfolge wird im ersten Motiv des Adagiettos (c – d – e – e – f) leicht variiert: Der große Sekundschritt der ersten Violinen im zweiten Takt leitet dort über den sehnsüchtigen Vorhalt unmittelbar zum Grundton F der Tonika F-Dur. Dieser Kern kann als ein „Urmotiv“ in Mahlers Musik bezeichnet werden, verbindet einige seiner Werke über analoge Themen bis zu vollständigen Sätzen und färbt zudem den Tonfall der Musik unabhängig von weiteren Elementen des Klanges, Tempos oder der Dynamik

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.