Lyrik im Tropen Verlag

 

Unter den vielen Titeln, die der 1996 in Köln gegründete und mittlerweile in Berlin ansässige Tropen Verlag herausgebracht hat, gibt es nur wenige Lyriktitel.

Auflagenzahlen von 1500 bis 2000, die für Lyrik heutzutage eher selten sind, lassen mich dennoch aufhorchen. Verlagsleiter Michael Zöllner erläutert am Telefon kurz die tropische Verlagsstrategie, die Sie am besten durch das professionelle Verlagsprogramm kennenlernen. Klicken sie doch einmal www.tropenverlag.de an und lassen sich überraschen von Vielfalt und Qualität der angebotenen Titel. Der Tropen Verlag wendet sich mit seinen unterschiedlichen Reihen an die verschiedensten Alters- und Interessengruppen und erreicht damit offenbar recht große Leserkreise. Die mir vorliegenden Gedichtbücher – hier kurz in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt – bestechen durch ihre ansehnliche Aufmachung und originelle Lyrik, die aus den unterschiedlichsten internationalen Nischen kommt, wobei wir es – sympathischerweise – mit Namen verschiedenster poetischer Größenordnungen zu tun haben.

 

JIM CARROLL, KLEINE NEW YORKER ODEN (1996)

1973 erschien die Originalausgabe des zweisprachig edierten Gedichtbuchs Kleine New Yorker Oden unter dem Titel Living at the Movies als Erstling des damals gerade mal 22jährigen Jim Carroll, der in den meisten Gedichten zeigt, wie man sprachlich Sinnlichkeit einfängt:

 

Marc,
ich beginne die Klänge zu sehen,
die ich nicht einmal zu hören
erwartete.

TANJA DÜCKERS, LUFTPOST (2001)

 

Tanja Dückers (*1968) hat 2000 mit dem Gedicht „Networks“ den Quantensprung in die große Anthologie Der Neue Conrady geschafft. In Luftpost. Gedichte Berlin – Barcelona treffe ich auf sinnlich-konkrete Überraschungen,die beispielsweise aus der dicken Luft in „Unruhige Tage“ aufblitzen:

 

Unruhig der Tag der bleiche
Märzmittag in Berlin
mit Kohlenstaub
Fingern zurück an den PC
Bildschirmschoner tropisch

Am Abend vermischen sich
Buletten- und Börekgerüche
fluten Feuerwehrsirenen
in das Heulen der Autokolonnen einer Hochzeit
weiße Wimpel und weiße schnelle Schritte
ein Geschiedener hat sich im 3. Stock erhängt

Am Morgen
das Rasseln der Straßenbahn
gelber Wurm durch meine Schläfen
stimmloses Stöhnen der Nachbarn
beharrlich kitzeln
die Ecken meiner
ungelesenen Zeitschrift
meine nackte Brust.

ROBERTO JUARROZ, POESIE UND WIRKLICHKEIT (1997)

 

Es gibt Aufsätze bzw. Bücher zur Poesie, Poetik, und Poetologie, die wir getrost als zeitlos bezeichnen dürfen. Zu diesen gehört der von Juana und Tobias Burghardt aus dem Spanischen übersetzte Band Poesie und Wirklichkeit mit Gedanken und Gedichten des großen Argentiniers Roberto Juarroz (1925-1995), den ich gern von vorn bis hinten abschreiben würde:

 

Deshalb erlaubt das Gedicht letzten Endes keine Erklärungen oder gleichzeitigen Diskurse. Novalis unterstrich: „Kritik der Poesie ist ein Unding.“ So schrieb ich einmal folgenden Satz: „Die einzige Form, eine Schöpfung aufzunehmen, ist ihre Neuschöpfung. Vielleicht sich mit ihr zu erschaffen.“ Und ich denke darüber hinaus, daß die einzige Form, die Wirklichkeit wiederzuerkennen, wahrzunehmen, aufzunehmen, Wirklichkeit zu sein, darin besteht, sie und sich zu erschaffen, sich mit ihr wiederzuerschaffen. Die Poesie und die Wirklichkeit erscheinen somit als die intimste Wesensverwandtschaft, die es im Menschsein gibt. Vor fast zwanzig Jahren schrieb ich: „Ich lebe die Poesie wie eine Explosion des Seins unterhalb der Sprache.“

MICHAEL MADSEN, SHOOTING (1999)

 

Dennis Hopper mag Michael Madsen, den wir hierzulande in erster Linie als Schauspieler kennen, lieber als Jack Kerouac, er sei schäbiger, packender und habe den Slang der Straße. Shooting (übersetzt von Michael Zöllner wie die meisten amerikanischen und englischen Titel des Verlags) ist ebenfalls zweisprachig ediert und ein starker, eindringlicher, schöner Lyrikband.

ROBERTO PAZZI, DIE SCHWERE DER KÖRPER (2001)

Der Elan der Gedichte Roberto Pazzis, der deutschen Lesern vornehmlich durch seine Romane bekannt ist, packt mich. Ein solcher Ton fehlt in der deutschen Lyrik. Die zweisprachige Ausgabe Schwere der Körper, übertragen von Tobias Eisermann, präsentiert mit gesammelten Gedichten der Jahre 1966-1998 einen prächtigen Einblick in eine große lyrische Seele.

ANTONIO PORCHIA, VOCES COMPLETAS / GESAMMELTE STIMMEN (2005)

Ich habe mich so sehr damit abgefunden,
manche Dinge nicht zu haben,
daß ich mich nicht mehr damit abfinden
könnte, sie zu haben.

 

„Ich glaube, daß sich Porchia (1886-1968) in der grundlegenden Linie befindet, in der sich der Gedanke und das Bild, die Poesie und die Philosophie verbinden, deren künstliche Trennung vielleicht eine unserer größten Belastungen darstellt“, betont Roberto Juarroz. Im deutschen Sprachraum hat beispielsweise Rolf Dieter Brinkmann permanent darum gerungen, diese Trennung zu überwinden. Und Jorge Luis Borges schrieb: „Die Aphorismen dieser Sammlung gehen viel weiter als der geschriebene Text; sie sind kein Ende, sondern ein Anfang.“ Lassen Sie sich diese von Juana und Tobias Burghardt – Kennern südamerikanischer Lyrik – übertragene Weltliteratur nicht entgehen: spannungsvoll und bewußtseinserweiternd vom Anfang bis zum Ende, das ja der Anfang ist: „Und würde deine Seele von ihren Übeln genesen, stürbe sie.“ Phantastisch. Wenn ich nur ein einziges Buch auf die Insel mitnehmen dürfte, Antonio Porchias titanisches Werk Voces completas / Gesammelte Stimmen könnte es sein.

 

 

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Weiterführend Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen der Kultur

Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses  post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale ProjektWortspielhallezusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph PordzikFriederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.