»Ich liebe diese Sprache«, schreibt mir jemand, »schon um ihrer formalen Schönheit willen: Dasselbe Wohlgefallen, das mich immer wieder zu diesen Bänden treibt, führt mich auch immer wieder an die lateinische Prosa der deutschen Humanisten heran. Wenn ich wenig Genüsse kenne, die sich mit der Kostbarkeit von Huttens lateinischen Dialogen vergleichen ließen, so denke ich dabei weniger an den Inhalt als an die Form. Nur unter den Deutschen ist das Schlagwort möglich, daß der Gehalt über die Form gehe. Die Sprache, an sich und zwecklos, soll und kann Gegenstand und Ausdruck einer Kunst sein. Es handelt sich hier um ein Formgefühl, das den Griechen und Romanen etwas naiv Selbstverständliches ist.« – Gewiß, das ist ganz richtig, man darf das sagen, es deutet in die Richtung hin, wo die Wahrheit liegt, aber man müßte noch ein wenig in die Tiefe gehen, um auf die wirkliche Wahrheit zu kommen. Denn »schön«, das ist eines von den Worten, mit denen die Leute am geläufigsten operieren, und bei denen sie sich am wenigsten denken, und »schöne Sprache« oder »schön geschrieben« ist ein richtiges Verlegenheitswort, das dem in den Mund kommt, dem ein Buch nichts gegeben und ein Stück Prosa nichts gesagt hat. Und doch gibt es keinen schönen und auch keinen bedeutenden Gehalt ohne eine wahrhaft schöne Darstellung, denn der Gehalt kommt erst durch die Darstellung zur Welt, und es kann ein schönes Buch ohne schöne Sprache ebensowenig geben als ein schönes Bild ohne schöne Malerei; und gerade das ist das Kriterium des schöngeschriebenen Buches, daß es uns viel sagt, des häßlich geschriebenen aber, daß es uns wenig oder nichts sagt, wenngleich es uns immerhin irgend etwas übermitteln, oder zu Verstand bringen, oder Tatbestände vor die Augen führen kann. Der Theolog oder der Anthroposoph, trägt er uns das vor, was ihm als höchste Einsicht oder überirdische Ahnung vorschwebt – und welch höherer Gegenstand wäre denkbar als die Zusammenhänge unserer Natur mit dem Göttlichen –, aber trägt er es in einem Kaufmannston, in einer abgenützten Zeitungssprache, oder in einer flauen, stammelnden Bildersprache vor, so ist es nicht da; aber Boccaccio hat seine Erzählungen so hingeschrieben, daß alles daran für ewig da ist, und ihr Gegenstand sind die Begegnungen von Verliebten, Überlistungen von Ehemännern und andere schlechte Streiche; aber in ihrer Unzerstörbarkeit und geistigen, man kann nicht anders sagen als geistigen Anmut stehen diese frivolen Geschichten neben den Dialogen des Platon, deren Gehalt der erhabenste ist. So käme man fast in die Nähe des Gedankens, es gebe keinen an sich hohen und keinen an sich niedrigen Gegenstand, sondern nur Reflexe des unfaßlichen geistig-sinnlichen Weltelementes in den Personen, und diese Reflexe seien von unendlich verschiedenem Rang und Wert, je nach der Beschaffenheit des spiegelnden Geistes. Von den Gegenständen gleitet unser Blick plötzlich zurück auf den Mund, der zu uns redet. Aber auch das Montaignesche »Tel par la bouche que sur le papier« ist eine subtile Wahrheit, die verstanden sein will; denn zwar ganz sicherlich ist das, was den tiefsten Zauber des schön geschriebenen Buches ausmacht, eine Art von versteckter Mündlichkeit, eine Art von Enthüllung der ganzen Person durch die Sprache; aber diese Mündlichkeit setzt einen Zuhörer voraus; somit ist alles Geschriebene ein Zwiegespräch und keine einfache Äußerung. Von dieser Einsicht aus fällt wie durch ein seitlich aufgehendes Fenster eine Menge Licht auf gewisse Vorzüglichkeiten, an denen wir das gut geschriebene Buch, die gut geschriebene Seite Prosa – denn die Prosa und durchaus nicht die Poesie ist es, welche wir hier betrachten – erkennen und die wir an ihr hervorzuheben gewohnt sind. Eine behagliche Vorstellung oder eine bedeutende körnige Kürze, eine reizende oder eine kühne Art zu verknüpfen und überzugehen, wohltuende Maße, eine angenehme Übereinstimmung zwischen dem Gewicht des Dargestellten und dem Gewicht der Darstellung; die Distanz, welche der Autor zu seinem Thema, die, welche er zur Welt, und die besondere, welche er zu seinem Leser zu nehmen weiß, die Beständigkeit des Kontaktes mit diesem Zuhörer, in der man ihn verharren fühlt, das sind lauter Ausdrücke, die auf ein zartes geselliges Verhältnis zu zweien hindeuten, und sie umschreiben einigermaßen jenes geistig-gesellige leuchtende Element, das der prosaischen Äußerung ihren Astralleib gibt, und es ist keins unter ihnen, das sich nicht auf den Stil des »Robinson Crusoe« ebensogut anwenden ließe als auf den Voltaires, auf Lessings Streitschriften ebenso wie auf Sören Kierkegaards Traktate. Auf Kontakt mit einem idealen Zuhörer läuft es bei ihnen allen hinaus. Dieser Zuhörer ist so zu sprechen der Vertreter der Menschheit, und ihn mitzuschaffen und das Gefühl seiner Gegenwart lebendig zu erhalten, ist vielleicht das Feinste und Stärkste, was die schöpferische Kraft des Prosaikers zu leisten hat. Denn dieser Zuhörer muß so zartfühlend, so schnell in der Auffassung, so unbestechlich im Urteil, so fähig zur Aufmerksamkeit, so Kopf und Herz in eins gedacht werden, daß er fast über dem zu stehen scheint, der zu ihm redet, oder es wäre nicht der Mühe wert, für ihn zu schreiben; und doch muß ihm von dem, der ihn geschaffen hat, eine gewisse Unvollkommenheit zugemutet werden, mindestens eine gewisse Unvollkommenheit der Entwicklung, daß er es notwendig habe, auf vieles erst hingeführt zu werden; eine starke Naivität, daß er mit dem, was das Buch bringt, wirklich zu ergötzen sei und dadurch etwas wesentlich Neues erfahren werde. Vielleicht könnte man eine ganze Rangordnung aller Bücher, und ganz besonders der belehrenden, danach aufrichten, wie zart und wie bedeutend das Verhältnis zu dem Zuhörer in ihnen erfüllt sei; und nichts zieht ein Buch und einen Autor schneller herunter, als wenn man ihm ansieht, er habe von diesem seinem unsichtbaren Klienten eine verworrene, unachtsame und respektlose Vorstellung im Kopf gehabt.
Es sind also immer ihrer zwei: einer, der redet oder schreibt, und einer, der zuhört oder liest, und auf den Kontakt zwischen diesen zweien läufts hinaus; aber dieser Kontakt gibt, je bedeutender er ist, in je höherer Sphäre er wirksam wird, um so mehr das Übergewicht dem Gebenden, während der Empfangende in diesen höheren Sphären immer leichter und dünner wird, ohne daß er freilich je aufhören würde, da zu sein.
Wenn Goethe sagt, ihm sei, so oft er eine Seite Kant aufschlage, als trete er in ein helles Zimmer, so ist uns ein lichtvoller, mit der höchsten Quelle allen Lichtes kommunizierender Geist vorgestellt. Aber ebenso wie diese Eigenschaft, ein Licht zu sein, spüren wir bei anderen großen Autoren andere oberste Qualitäten des Geistes: die Stärke, welche von der inneren Ordnung nicht zu trennen ist; die wahre Selbstachtung, welche zusammengeht mit der Ehrfurcht; die seltene Glut der geistigen Leidenschaft. In der Darstellung eines solchen Geistes meinen wir wahrhaft die Welt zu empfangen, und wir empfangen sie auch, und nicht nur in den Gegenständen, die er erwähnt, sondern alles das, was er unerwähnt läßt, ist irgendwie einbezogen. Gerade die Kraft und die Überlegenheit, von dem ungeheuren Wust der Dinge unzählig viele fortzulassen – nicht ihrer zu vergessen, was die Sache eines schwachen und zerstreuten Geistes wäre, sondern sich mit bewußter Gelassenheit über sie hinwegzusetzen; die unerwarteten Anknüpfungen und Verbindungen hinwiederum, in denen plötzlich eine nach allen Seiten gewandte Aufmerksamkeit und Spannkraft sich offenbart; die scheinbare Zerstreutheit sogar endlich und die Willkürlichkeiten, welche zuweilen reizend sein können, all dies gehört zu dem geistigen Gesicht des Schriftstellers, – dem Gesicht, das wir zugleich mit der Spiegelung der Welt empfangen, während wir seine Prosa lesen. Wie ein Seiltänzer geht er vor unseren Augen auf einem dünnen Seil, das von Kirchturm zu Kirchturm gespannt ist; die Schrecknisse des Abgrundes, in den er jeden Augenblick stürzen könnte, scheinen für ihn nicht da, und die plumpe Schwerkraft, die uns alle niederzieht, scheint an seinem Körper machtlos. Mit Entzücken folgen wir seinem Schritt, mit um so höherem, je mehr es scheint, als ginge er auf bloßer Erde. So wie dieser wandelt, genauso läuft die Feder des guten Schriftstellers. Ihr Gang, der uns entzückt und der so einzigartig ist wie eine menschliche Physiognomie, ist die Balance eines Schreitenden, der seinen Weg verfolgt, unbeirrbar durch die Schrecknisse und Anziehungskräfte einer Welt, und eine schöne Sprache ist die Offenbarung eines unter den erstaunlichsten Umständen, unter einer Vielheit von Drohungen, Verführungen und Anfechtungen aller Art bewahrten inneren Gleichgewichtes.
Weiterführend →
Im Alter von achtundzwanzig Jahren verschafft sich Hofmannsthal mit dem Brief des Lord Chandos ein Ventil, seinem Zweifel an der Sprache Raum zu verschaffen. Der Sprache traut er jedenfalls nicht länger zu, den Zusammenhang von Ich und Welt herstellen zu können.
→ Hugo von Hofmannsthal über Gedichte.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.
→ Lesen Sie auch KUNOs Hommage an die Gattung