„Von mir ist gerade ein kleiner bibliophiler Druck erschienen, den ich Ihnen gerne schicke. Er wird Ihnen gefallen – und vielleicht ist er ja sogar eine kleine Notiz im nächsten Faltblatt wert. Das wäre mir sehr angenehm – auch für den Verlag, der Sie ja sicher auch interessiert und von dem Sie bestimmt noch nie etwas gehört haben“, schreibt Peter Salomon in einem Brief vom 2.12.2002. Wie gut der Mann mich kennt: Natürlich gefällt mir dieses Büchlein 7 Gedichte, das äußerlich so beschrieben ist: zwölf Seiten, Bleisatz in der Palatino-Antiqua und Buchdruck von Harald Weller, Berlin, gedruckt auf Hahnemühle Natural Line gerippt, im November 2002. Zweifarbiger Umschlag und Titel, Fadenheftung, Auflage 111 numerierte Exemplare, Format 22 x 17 cm. Wie ich zur Lyrik Peter Salomons stehe, können Sie an anderer Stelle in diesem Buch nachlesen. Mein positiver Eindruck wird hier jedenfalls nachdrücklich bestätigt:
DIE BUSTOURISTEN
Im Tal am Wasserfall die kleine Mühle.
Im Gartenrestaurant fröhliche Bustouristen.
Fehlten sie
Wie schön würde das Wasser rauschen
Im Tal der kleinen Mühle.
Bereits am nächsten Tag nehme ich telefonisch Kontakt auf zu Peter Ludewig in München, und ich habe Glück: Er ist daheim – und er hat auch ein wenig Zeit. In einem 15minütigen Monolog breitet er sein verlegerisches Konzept aus. Ich spüre schnell: Ich höre hier die Stimme eines Besessenen, der seine große Leidenschaft für Literatur umsetzt, indem er aufspürt, liest, übersetzt und verlegt: schmale Büchlein mit Prosa und Lyrik von Literaten mit im weitesten Sinne avantgardistischer Grundhaltung. Nach der ersten Büchersendung von Peter Salomon aus Konstanz mit sieben Gedichten erreicht mich nun die zweite Büchersendung – von Peter Ludewig aus München – mit sieben Büchern aus seinem Verlagsprogramm bzw. Vertrieb: Konstantin Biebl, Die erste Palme, Konstantin Biebl, Böhmisches Paradies, František Halas, J. Čapek, Tone Avenstroup, über eine zeit gestreckt die nicht meine ist, Lothar Trolle, Nach dem Besuch eines Toten und Vladimir Reisel, Die unwirkliche Stadt. Meine beiden Favoriten: Böhmisches Paradies (1998) und Die unwirkliche Stadt (1999), zwei im Ton ganz unterschiedliche Gedichtbände. Papier und Umschlag des Biebl-Bändchens schöpfte Gangolf Ulbricht aus Berlin, genauso wie den Umschlag von Die unwirkliche Stadt, das auf Johannot-Bütten gedruckt wurde. Beide Bände verschönt jeweils ein Kupfertiefdruck von Savod Progreß (Berlin). Erstmals auf deutsch erscheinen in Böhmisches Paradies (bereichert durch eine Radierung von Jörg Lehmann) die auf 16 Seiten verteilten, von Jörg Schieke und Peter Ludewig nach Interlinearversionen von Karl-Heinz Jähn übersetzten Gedichte des tschechischen Dichters Konstantin Biebl (1898-1951), dessen lyrischer Ton mir aus der Reclam-Anthologie Die Sonnenuhr (Reclam, Leipzig 1986) in bester Erinnerung geblieben ist. Es ist dies ein zauberhafter lyrischer Ton, den ich keinesfalls näher beschreiben will, sondern immer wieder nur lesen, lesen, lesen. Ich habe den starken Eindruck, daß die Übertragungen den Originalen Biebls recht nahe kommen, denn ein lyrisches Schwingen setzt beim Lesen ein, das ich mir bei einer schlechten Übersetzung nur schwer vorstellen kann:
KENNEN SIE FRAU VON WAVEREN?
Die Dame die das Kaffeehaus betritt
Und niemanden auch nur ansieht
Und von niemandem jemals gegrüßt wird
Nicht von Xena Longenová
Nicht von Herrn Riccoboni oder
aaaaaJindřich Hořejší
Entweder sind alle gestorben oder
aaaaagerade nicht da
Und wären sie da so wüßten sie auch
aaaaanicht viel mehr
Als Frau von Waveren die einen
aaaaaGedichtband liest
Auf einer Terrasse in Batavia
Düster wie der Umschlag ist die Stimmung in dem 28seitigen, von Peter Ludewig aus dem Slowakischen übertragenen Langgedicht Die unwirkliche Stadt von Vladimir Reisel (*1919), das 1943 als zweiter Gedichtband des traumhafte, übernatürliche und phantastische Verse montierenden Dichters erschien. Zunächst betrachte ich die eindringliche Radierung von Andreas Zahlaus (*1950), die dem rot unterlegten Innentitel gegenüber gestellt ist. Dann drifte ich ab in die Gassen und Straßen der „unwirklichen Stadt“, kongenial nachempfunden durch die frei rhythmisierten kurzen und langen Verse, die das Mäandern des Ichs bildhaft vor Augen führen. Das Poem, das mit einem Doppelvers einsetzt, der am Ende der jeweiligen Gedichtabschnitte bis zum Ende hin leitmotivisch gleichsam auftaucht, zeigt vom ersten bis zum letzten Vers die Einsamkeit des Daseins, die auch durch Begegnungen nicht zu bannen ist. Letztlich bleibt die Reise (das Gedicht beginnt und endet mit einer Zugfahrt in die unwirkliche Stadt, für die wohl Prag Pate gestanden hat) flüchtig, nichtig, dringt nicht in die Tiefe ein:
Und es war dennoch gespenstische nostalgie
Nachthin lang durch wüste verwaiste orte zu gehen.
Auch die Liebe bleibt natürlich unwirklich eingebildet utopisch: „Hier im riesigen nächtlichen park ohne ende / Gehe auch ich“ Alles bloß scheinbare Annäherung, vergebliche Suche – wenn überhaupt. Auch die Texte auf den handgeschöpften Blättern von Lothar Trolles Nach dem Besuch eines Toten (1997) beweisen die sensible Hand des Verlegers Peter Ludewig, der seine Leidenschaft in schmale, aber sehr schöne und wertvolle Gedichtbände verwandelt.
LOTHAR TROLLE
DIE JAHRESZEITEN IN MEINEM ZIMMER
Der Schnee des Januar
links rechts oben das Weiß der Wände der Decke
Die Kälte des Februar und des März:
das Gekritzel auf den zerknüllten Zetteln neben dem Stuhl
Das Grün des April:
das Gekritzel auf den Zetteln über meinem Schreibtisch
Das Blütenweiß des Mai:
der Stapel weißes Papier neben der Schreibmaschine
Die Gerüche des Juni und des Juli:
der halbfertige Satz vor mir auf dem Blatt Papier
Das Gelb des August:
die Manuskripte im Koffer in der Zimmerecke
Das Braun der frischgepflügten Äcker des September:
die Farbe der Scheuerleisten
Das Rot des Oktober:
das Flackern des Feuers aus dem Riß in der Ofentür
Der Rauch auf den Kartoffelfeldern des November:
das Pausenzeichen im Radio
Die Nebel des Dezember:
das zerknüllte Papier in dem Papierkorb neben dem Schreibtisch
* * *
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.