Lesen Sie!
Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst.
Paul Celan
Immer wieder überwältigen mich Poesieattacken. Ich bestelle wie besessen Lyrikbücher per E-Mail, ersteigere längst vergriffene Bände bei ebay und rase am nächsten Tag ins Antiquariat bzw. zur Buchhandlung, um vermeintliche Lücken zu schließen. „Lieber Poesie- als Panikattacken“, meint meine Frau schulterzuckend – und rollt die Augen. „Auf einer meiner ersten Expeditionen im Internet-Dschungel bin ich unversehens auf Sie gestoßen. Da ist er also versteckt, der Lyroholic aus Sistig!“, schreibt die Pulheimer Poetin Christa Wißkirchen mir − öffentlich! − ins Gästebuch der Homepage. (Ja, lachen Sie ruhig, aber bitte nur ein bißchen.)
Weshalb schreibe ich das zu Beginn? Damit Sie keinen systematischen Überblick, sondern einen persönlichen und ganz und gar subjektiven Streifzug durch die Welt der Lyrik erwarten. [Einen solchen erhalten Sie – und zwar von den Anfängen bis in die Gegenwart – in einem vollkommen anders gearteten Buch über Lyrik, das ein wesentlicher Bestandteil einer erkenntnisorientierten Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Lyrik ist: Franz- Josef Holznagel, Hans-Georg Kemper, Hermann Korte, Matthias Meyer, Ralf Schnell und Bernhard Sorg vermitteln in ihrer Geschichte der deutschen Lyrik (760 Seiten, Hardcover, Lesebändchen; Reclam, Stuttgart 2004) die breitgefächerte Poesie im deutschen Sprachraum von den Anfängen im Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts.] Wenn eine Poesieattacke mich packt und sich ein neuer Gedichtbücherberg aufzutürmen beginnt, bemühe ich mich notgedrungen, aber von unstillbarem Lyrikhunger besessen, diesen lesend und schreibend abzutragen. Weder lechze ich nach tiefschürfenden Theorien, noch lauere ich auf einschlägige Entwicklungen – ich lasse mich ganz einfach von jeder Art dionysischer Dichtung, leidenschaftlicher Lyrik, pointierter Poesie ködern und stelle dabei gern das einzelne Gedicht, das einzelne Buch, den einzelnen Autor in den Mittelpunkt meines Interesses. Aus dem Hinterland. Lyrik nach 2000 versteht sich als Nachfolger von Ohne Punkt & Komma. Lyrik in den 90er Jahren (Wolkenstein, Köln 1999). Auf den folgenden Seiten stelle ich, unmittelbar an dieses Buch anschließend, in erster Linie Autoren, Bücher, Verlage und Zeitschriften vor, die seit 1999 in der deutschsprachigen Lyrikwelt (und darüber hinaus) meine Aufmerksamkeit erregt haben. Dabei spielt weder der Jahrhunderttausendwechsel eine Rolle, noch, ob es sich um eine junge, „aufstrebende“ Autorin handelt oder einen Schriftsteller, der zwar schon längst tot, dessen Stimme aber weiterhin berauschend ist. Ob Erstauflage oder Neuauflage ist von viel weniger Interesse als Begeisterung und Wißbegier. Gleiches gilt für Entstehungsort bzw. Nationalität der Autoren: Dichtung kennt keine Grenzen, und woher sie kommt, ist unerheblich, aber ankommen muß sie − und wie! Vermeintliche Schwerpunkte sind − von drei Ausnahmen abgesehen − in Wahrheit keine: Ob ich ein Buch „nur“ bibliographiere, mit einem Gedichtbeispiel vorstelle oder (ausführlich) kommentiere, das hängt zum einen vom jeweiligen Kapitel, nicht selten aber auch von den Begleiterscheinungen, Umständen und Zufällen im Zusammenhang mit dem gelesenen Buch ab. Am liebsten hätte ich über jeden Autor, jedes Buch, jedes Gedicht, jeden Verlag und jede Zeitschrift wenigstens zehn Zeilen verloren, um zu dokumentieren, daß ich daran glaube, daß jede Stimme, die sich auf wahrhaftige Art und Weise mit Poesie befaßt, ihre Rolle spielt in einem Mikrokosmos, der mich Tag für Tag neu fasziniert:
Die Dichtung wird von allen gemacht! (Lautréamont)
Sie finden in diesem Buch – mit freundlicher Unterstützung von Inhaltsverzeichnis und Register – ein aus unzähligen Teilchen und Teilen zusammengesetztes Mosaik [Ein solches erwartet Sie − und zwar buchstäblich und farbenprächtig − in Herta Müllers Gedichtband Die blassen Herren mit den Mokkatassen (Hanser, München und Wien 2005): Gedichte Wort für Wort mit der Schere geschnitten. Herta Müllers Collagenpoesie ist wahrhaft einmalig, originell und schön, und die mehrdeutig angelegten Botschaften stimmen mich nachdenklich. Die blassen Herren mit den Mokkatassen ist ein außergewöhnliches Teilchen im deutschsprachigen Lyrikmosaik nach 2000, dessen surreales Gefunkel Herrn Schwitters beim Kaffeetrinken vielleicht vor Neid erblassen lassen würde.] von der Welt der Lyrik nach 2000, wie ich sie aus der Abgelegenheit eines an der Peripherie gelegenen mittelgebirgischen Dorfes sehe. [Raoul Schrotts poetische, poetologische und oft weit darüber hinaus gehende Erkenntnisse, Kreationen und Visionen haben im Gegensatz dazu eine kosmopolitische Bandbreite von globalem Ausmaß. Ich lese die Bücher dieses naturgemäß kontrovers diskutierten Dichters mit größtem Interesse. Es ist gerade die total eigenwillige und hemmungslos selbstbewußte Art und Weise, mit der Schrott mir in Die Erfindung der Poesie (Eichborn, Frankfurt am Main 1997) die Poesie entlegenster Orte und fernster Zeiten nahebringt, die ich neben seinen bildstarken Gedichten so schätze. In Handbuch der Wolkenputzerei. Gesammelte Essays (Hanser, München und Wien 2005) schreibt der hochgebildete Autor in bekannt anregender, pointierter Art über alles, was im Zusammenhang steht mit seiner poetisch-polyglotten Existenz. Ich hebe − pars pro toto − den Essay über Hans Carl Artmann „Der König ist tot! − Es lebe der König!“ hervor. Dieser Text beispielsweise schließt eine Lücke, die Aus dem Hinterland hinterläßt. Handbuch der Wolkenputzerei ist das phantastische Buch eines irren Typs, der es liebt, Wirklichkeiten neu zu erfinden, der sich metaphorisch Masken aufsetzt und rasant die Rollen wechselt. Lesen!] Ich habe die seit 1999 verstreut erschienenen Artikel und Aufsätze gesammelt und (zum Teil stark) überarbeitet sowie aus aktuellen Anlässen hervorheben möchte ich Thomas Klings Tod am 1. April 2005, Rolf Dieter Brinkmanns 30. Todestag am 23. April 2005 sowie Axel Kutschs 60. Geburtstag am 16. Mai 2005 – zahlreiche neue geschrieben und zu diesem Buch kombiniert, das ich am liebsten als eine Art textsortenignorierendes Langgedicht gelesen wissen möchte – quer und kreuz oder sukzessive. Aber das ist ja nun allein Ihre Sache.
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Weiterführend → Einen Essay über das Tun von Theo Breuer lesen Sie hier.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.