Wenn meine Leseerfahrungen mich nicht ganz täuschen, sind es von den großen Verlagen im deutschsprachigen Raum in der heutigen Zeit kaum mehr als drei, die zuverlässig Jahr um Jahr eine stattliche Anzahl von Gedichtbüchern herausbringen und nicht nur zwei oder drei. Einer dieser Verlage ist der in München niedergelassene Carl Hanser Verlag, der mit seinem Editionsprinzip, nicht in erster Linie nur zeitgenössische deutsche Lyrik zu veröffentlichen, sondern auch internationale, einen sehr guten Weg beschreitet – dabei offenbar nicht davon abzubringen, daß das Beste gerade gut genug ist. Die allermeisten Namen in der Riege der bei Hanser verlegten Lyrikerinnen und Lyriker sind große – und das zurecht. In den letzten Wochen habe ich in konzentrierter Form eine Reihe von nach 2000 erschienenen Lyriktiteln gelesen, die meinen seit Jahren anhaltenden Eindruck bestätigen, daß ich als Leser bei Hanser gut aufgehoben bin. [Nebenbei bemerkt, wird bei Hanser auch das Werk W.G. Sebalds (1944-2001) betreut, der für mich einer der herausragenden deutschen Prosaschriftsteller der 1990er Jahre ist und der mit Austerlitz ein Buch geschrieben hat, das ich in eine Jahrhundertbestenliste aufnehmen würde.] An Hans Benders Jahrzehntanthologien der 70er und 80er Jahre – In diesem Lande leben wir und Was sind das für Zeiten −, die hier erschienen sind, möchte ich als erstes erinnern, sind dies doch zwei Lyrikdokumentationen, auf die der Leser schlecht verzichten kann, der sich aus der Retrospektive einen Eindruck verschaffen will von Jahrzehnten, in denen ganz andere Gedichte geschrieben wurden als heute. Sodann möchte ich exemplarisch noch einmal auf einige Titel hinweisen, die das ausgesuchte Lyrikprogramm im Hanser Verlag belegen: Seamus Heaneys Die Hagebuttenlaterne (1990), Johannes Kühns Mit den Raben am Tisch (2000) und Christoph Meckels Hundert Gedichte (1988). Lassen Sie mich nun in alphabetischer Reihenfolge für jeden Tag der Woche Lyrikbände vorstellen, die es auf ihre je spezifische Weise in sich haben.
Montag. Mehrere Male in den Monaten vor Erscheinen des Buches machte Gerd Sonntag mich aufmerksam auf die bevorstehende Veröffentlichung von Lars Gustafssons Auszug aus Xanadu im Herbst 2003. Er schien den Augenblick nicht erwarten zu können, in dem er das Buch in die Hand nehmen und zum erstenmal darin lesen konnte. Ich gebe gern zu, daß es mir ebenfalls immer wieder so geht. Zwar hat auch der Moment, in dem ich das Buch nach der genußvollen Lektüre ins Regal stelle, etwas gleichsam Sakrales, aber das erste Blättern in einem Gedichtbuch und die Kenntnisnahme des ersten Gedichts steht dem kaum nach. Hans Magnus Enzensberger und Verena Reichel haben die Gedichte dieses 104seitigen Buches übertragen, die ich – von fünf bis sieben weniger starken Ausnahmen abgesehen – mit Anteilnahme und Begeisterung lese. Wunderbar diese Verschmelzungen der verschiedensten Lebensschichten, Gedichte wie Bäume, deren natürliche Strukturen mich immer wieder in ihren Bann ziehen.
Sie gönnen sich einen blauen Montag? Dann ist ja noch ein zweiter Lyrikband drin. Ich empfehle: Harald Hartungs Langsame Träume (2002). Daß Harald Hartung, Herausgeber der wunderbaren Anthologie Luftfracht und des wichtigen Sammelbands Jahrhundertgedächtnis, auch selber Dichter ist, gerät bisweilen in Vergessenheit. Schicksal der Herausgeber? Zeit also, den Dichter Harald Hartung in besondere Erinnerung zu rufen, was dem Hanser Verlag mit dem Band Langsame Träume (Gedichte aus den Jahren 1995-2001) in feiner Weise gelingt. „Die Lust, Gedichte zu lesen, ist uns einfach abhanden gekommen. Vielleicht haben wir sie satt mit ihren Tiraden, ihrem Grimm, ihrem Ekel, ihrer Emphase, ihrem ewigen Narzißmus“, schreibt Andreas Thalmayr (alias Hans Magnus Enzensberger) 1985 in Das Wasserzeichen der Poesie. Nichts davon in Harald Hartungs langsamen Träumen, Gedichten, die mit ihren eindrücklichen, persönlichen (auch auf die Kindheit gerichteten) lyrischen Besinnungen wieder einmal richtig Breitenwirkung erzielen könnten, wenn die Kritiker, die Verlagsvertreter, die Buchhändler, die Professoren und Deutschlehrer, wenn … Na ja, Sie wissen schon.
Dienstag. Ungefähr ohne Tod im Schatten der Bäume (2003) heißt ein Band mit von Lutz Seiler ausgewählten Gedichten Christoph Meckels, einem Dichter, den ich seit Jahrzehnten auf den vorderen Rängen der Lyrikbundesliga erlebe. Welche poetische Kraft aus diesen Gedichten strahlt! Die Magie dieser Verse! Der Mensch, der in dieser Lyrik sichtbar wird! Christoph Meckel ist ein herausragendes Beispiel eines vitalen Dichters, der über Jahrzehnte unbeirrbar seinen Weg gegangen ist. Die Verse der Rede vom Gedicht werden auch in hundert Jahren noch mit Begeisterung gelesen werden.
Mittwoch. Endlich lerne ich australische Lyrik kennen – wenn auch in Übersetzung. Wen habe ich schon alles über Les Murray schwärmen hören? Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen (1996) versammelt Gedichte aus den seit 1965 bis 1993 erschienenen Gedichtbänden, von denen ich mir demnächst unbedingt den einen oder anderen besorgen will. Eigentlich lese ich englische oder amerikanische Lyrik vorzugsweise im Original, aber es darf auch einmal – als Appetitanreger gleichsam – eine Übersetzung sein, die mich an einen Autor heranführt. Gleich das erste Gedicht, „Holzfäller am Mittag“, nimmt mich gefangen. Sicherlich ist Les Murray auch ein Kandidat für den Nobelpreis, wesentlicher aber ist, daß ich hier Gedichte lese von einem, der mit seinen Versen tief in sein Herkommen, seine Existenz, seine Heimat, seine Mitmenschen eintaucht und diese auch für Leser verlebendigt, die seine Gedichte viele tausend Kilometer entfernt lesen müssen.
Donnerstag. Der Schweizer Armin Senser legt nach Großes Erwache von 1999 (von dem ich, was ich vergessen hatte, sogar ein signiertes Exemplar habe) 2003 einen weiteren Gedichtband vor: Jahrhundert der Ruhe – ein weiterer bedeutsam klingender (verführerischer) Titel, der auf subtile Weise ja bereits die Unruhe andeutet, die Senser durch seine Gedichte während der Lektüre und danach auslöst, was bei mir auch mit dem Unverständnis für Sensers (zu?) lange Verse mit immer wieder kuriosen Reimversuchen („Publikum – Panoptikum“ oder „Sprache – Sache“) zu tun hat. Senser kann sich glücklich schätzen, unter all diesen großen Dichtern im Hanser-Programm Unterschlupf gefunden zu haben. Ich kann mich auch nach der Lektüre des zweiten Buches nicht für die forcierten Gedichte Sensers erwärmen – auch wenn einige der Gedichte Titel tragen, die mich für ihn einnehmen sollten: „Robert Frost“ oder „Gottfried Benn“. Die beiden Gedichte „Wortlaut“ und „Die Themse in Bermondsey“ finde ich allerdings mustergültig – sie gehören übrigens zu den wenigen kurzen Gedichten in Jahrhundert der Ruhe.
Freitag. Charles Simic ist noch so einer von den „Großen“ und „Wichtigen“, von dem ich bislang immer nur Gedichte in Zeitschriften und Anthologien gelesen habe. Phantastisch, welche verrückten Geschichten Simic in Grübelei im Rinnstein (2000) bereithält. Diese Gedichte b-e-g-e-i-s-t-e-r-n. Nun ja, Sie werden jetzt wahrscheinlich nur mal mitleidig lächeln, Ihr zerlesenes Exemplar von Grübelei im Rinnstein in Händen haltend. Sorry.
Wer freitags nachmittags noch arbeitet, dem ist nicht zu helfen: Ab 14 Uhr ist Lyriktime angesagt, und zwar nonstop ins Wochenende hinein. Da kriege ich den Hals nicht voll und ziehe mir nach dem Hochkaräter Simic bis spät in die Nacht noch Ashbery rein. Wann beginnen Menschen, die sich doch seit Jahrzehnten bereits mit Lyrik – meistens erfolgreich – auseinandersetzen, wie etwa Joachim Sartorius, Herausgeber des 2002 erschienenen zweisprachigen Bandes Mädchen auf der Flucht von John Ashbery mit ausgewählten Gedichten aus allen Schaffensperioden dieses nach 2000 wohl größten amerikanischen Dichters, zu begreifen, daß die Künste – Musik, bildende Kunst, Literatur – universalen und auch zeitlosen Charakter haben, daß es völlig gleichgültig ist, aus welchem Land ein Dichter kommt, in welchem Jahrzehnt seine Werke entstanden sind? Nein, in einer Nachricht über Poesie in der Süddeutschen Zeitung vom November 2002 schreibt Sartorius bei der Vorstellung eines Gedichts von Ulrich Johannes Beil: „Beil erregte Aufsehen, weil er eine lässige, an nordamerikanischen Dichtern wie John Ashbery geschulte Diktion mit hoher Reflexivität verband und damit völlig neue stilistische Tendenzen in die etwas matte deutschsprachige Lyrik einführte.“ Eine gefährliche Aussage, die nach nirgendwohin abgesichert ist und recht plakativ eine hochkomplexe und spritzlebendige deutschsprachige Lyriklandschaft abkanzelt, zu der Sartorius als Lyriker, Essayist und Herausgeber selbst gehört. Der Amerikaner John Ashbery ist weltweit vielleicht der vitalste lebende Lyriker mit den intensivsten Versen. Der Nobelpreis wartet auf ihn. In den nächsten Jahren wird er ihn erhalten, das werden wir sehen. Freuen wir uns also mit dem amerikanischen Dichter und lassen wir die deutschsprachige Lyrik als Gesamtgestalt aus dem Spiel. Warum muß im Feuilleton vieles oft so undifferenziert dargestellt werden – selbst wenn es um eine so empfindsame Gestalt wie die Poesie geht? [Selbst so kluge Köpfe wie Joachim Sartorius, dem wir neben seinen Einzeltiteln weitere wunderbare Lyrikbücher zu verdanken haben, so den Atlas der neuen Poesie (1996) oder die von ihm herausgegebenen Gedichte von William Carlos Williams (2002), lassen sich dazu hinreißen, ungute Gedanken dieser Art unter die im Hinblick auf Lyrik mehr oder weniger unbeleckten Leserinnen und Leser zu bringen.] Ist es eine typisch deutsche Eigenschaft, immer wieder die eigenen Errungenschaften mit Füßen zu treten, sich selber zu degradieren? Der deutsche Lyriker Joseph Buhl geht seit einigen Jahren der Frage der Interdependenzen internationaler Lyrik nach, ob sie nun in Europa, Südamerika, Nordamerika oder wo auch immer entstanden ist. Das ist ein interessanter Ansatz, den das Feuilleton aufgreifen sollte. Wenden wir uns dem Buch zu. Hier beweist Joachim Sartorius einmal mehr seine überragenden Fähigkeiten im Hinblick auf die Herausgabe internationaler und vor allen Dingen nordamerikanischer Lyrik. Ihm ist mit Mädchen auf der Flucht ein Band gelungen, der einschließlich des rasanten Nachworts einen brillanten Einblick in die Lyrik John Ashberys vermittelt. Immer wieder werde ich gefragt, was ich von John Ashbery halte. Ich weiß nicht, wie ich angemessen antworten könnte, zitiere statt dessen die Titel der beiden Ashbery-Bände Selected Poems (Penguins, London 1994) und The Morning of Starting Out. The First Five Books of Poetry (Ecco, Hopewell, New Jersey 1998), in denen ich mich seit Jahren immer wieder voller Bewunderung und Staunen festlese. Ashbery ist eine lebenslange Herausforderung, der ich mich immer wieder gern stelle. Oft ist es ein einziges Gedicht, das ich womöglich gar im Stehen lese und das so den Tag rettet. Wer in der Lyrik mitreden will, der muß Ashbery kennen. Ohne Wenn und Aber. Übrigens: So sehr ich als Lyriker die Resonanz deutscher Sprache zu schätzen weiß – Klang und Musikalität der englischen Sprache sind einfach unschlagbar. Mir kommen Original und Übersetzung fast wie einander fremde Texte vor. „Translation is what gets lost in poetry“, meinte einst Robert Frost, und so sehr ich ihm widersprechen möchte, er hat im Kern recht mit seiner überspitzten Aussage. Vergleichen Sie selbst:
THIS ROOM
The room I entered was a dream of this room.
Surely all those feet on the sofa were mine.
The oval portrait
of a dog was me at an early age.
Something shimmers, something is hushed up.
We had macaroni for lunch every day
except Sunday, when a small quail was induced
to be served to us. Why do I tell you these things?
You are not even here.
DIESES ZIMMER
Das Zimmer, in das ich trat, war ein Traum von diesem Zimmer.
Gewiß waren all die Füße auf dem Sofa meine.
Das ovale Porträt
eines Hundes war ich, als ich noch klein war.
Etwas schimmert. Etwas wird vertuscht.
Jeden Mittag aßen wir Makkaroni
außer am Sonntag, wenn eine kleine Wachtel überredet wurde,
uns aufgetragen zu werden. Warum erzähl ich dir das alles?
Du bist nicht einmal da.
Von Wolf Wondratschek habe ich vor einigen Jahren die Originalausgaben der Bände gelesen, aus denen nun Orpheus in der Sonne (2003) kompiliert wurde. Gut, daß junge Lyrikleser mit diesem Sammelband einen Dichter kennenlernen können, der einst mit seiner kernigen, natürlichen Lyrikstimme für Furore und Riesenauflagen in der deutschen Lyrik sorgte. Was waren das für Zeiten. Warum geht das heute nicht mehr? Da ich die meisten Gedichte aus diesem Band schon kenne, darf ich mich noch einem weiteren Lyrikband zuwenden, der – Herr Wondratschek möge mir verzeihen von noch etwas größerem Kaliber ist.
I’m going to try speaking some reckless words,
and I want you to try to listen recklessly.
ALLEN GINSBERG (1926-1997)
Es kommt gar nicht so selten vor, daß in deutschen Landen von Gedichtbänden auch relativ bekannter Autoren nur wenige hundert Exemplare verkauft werden. Ich vernehme diesen Jammergesang seit Jahren und kann ihn nicht mehr hören. 1956 erschien in den USA Allen Ginsbergs erster Gedichtband mit dem zornigen, verzweifelten, in einer ekstatischen Fußnote ausklingenden Titelgedicht „Howl“. 1996 ging dieses Buch in die 52. Auflage: insgesamt 785.000 Exemplare in 40 Jahren. Und das ohne die in zahlreichen Ländern publizierten Übersetzungen! Ob Sie nun wissen oder nicht, daß Allen Ginsberg zusammen mit Jack Kerouac und William S. Burroughs (um nur die bekanntesten zu nennen) mittels ihrer gewaltigen, vollkommen unorthodoxen, so noch nicht gehörten literarischen Stimmen die amerikanische Szene aufmischten und längst schon als Beat Generation unsterblich geworden sind (ob Hip-Hop, Rap oder Social Beat, sie alle beziehen sich bis heute auf die Beatniks), spielt überhaupt keine Rolle. Wichtig ist, zu erfahren, daß der Hanser Verlag, der 1961 die legendäre Anthologie Lyrik der Beat Generation herausbrachte, 1999 gleichsam als Hommage ein Gedichtbuch mit dem schlichten Titel Gedichte dieses hartnäckigen Individualisten Allen Ginsberg, der u.a. gegen Vietnamkrieg und Establishment protestierte, herausgebracht hat, über das seine Fans und solche, die es werden wollen, Freude on the rocks empfinden werden. Ich jedenfalls empfinde so, obwohl ich die Mehrzahl der Gedichte bereits aus den amerikanischen Ausgaben kenne. „Wir sind blind und leben unser blindes Leben in Blindheit zu Ende. Dichter sind verdammt, aber sie sind nicht blind – sie sehen mit den Augen der Engel. Dieser Dichter sieht durch all das Grauenhafte, das er durchmacht, und er betrachtet es von allen Seiten in den sehr intimen Mitteilungen seines Gedichts. Er geht keiner Erfahrung aus dem Weg, sondern durchlebt sie bis zum Äußersten (…) Nehmen Sie die Säume Ihrer Gewänder hoch, meine Damen, wir gehen durch die Hölle.“ Soweit William Carlos Williams, Ginsbergs großes dichterisches Vorbild (neben Walt Whitman, Arthur Rimbaud, Guillaume Apollinaire), in seinem Vorwort, das eine Gedichtsammlung einleitet, die Herausgeber Uwe Wittstock „aus allen Schaffensperioden des riesigen Gesamtwerks“ zusammengestellt hat. Es ist ein Buch geworden, dem die Verehrung und Wertschätzung eines geliebten Dichters in jeder Beziehung anzusehen und abzulesen ist. Auf dem Buchdeckel sehen Sie den rauchenden Allen Ginsberg auf dem ölbefleckten Bürgersteig einer Seitenstraße von Berkeley im Jahre 1956. Gleich im ersten Gedicht geht es scharf zur Sache, und die Leser werden in eine Traumwelt entführt, in der der rauhe Ton Ginsbergs deutlich macht, wo es langgeht:
Ich kam in das Cocktailparty
Zimmer und stieß auf drei oder vier Schwule
Die sich auf Schwulenart unterhielten.
(…)
Ich aß ein reines Fleischsandwich, ein
Riesiges Sandwich aus Menschenfleisch,
das, wie ich beim Kauen bemerkte,
auch ein schmutziges Arschloch enthielt. (…)
Daß der Antibürger Ginsberg sich mit solchen Versen nicht nur Freunde gemacht hat, leuchtet ein, aber die extrem hohen Auflagen seiner Bücher beweisen, wie dankbar ihm viele, viele Leser stets für seine harten, aber wahrhaftigen (und, ob Sie es glauben oder nicht: liebevollen) Gedichte gewesen sind. Es sind immer aufsehenerregende, fulminante, jazzige, wilde Gedichte, die die extreme Power eines Dichters dokumentieren, dem es ein Leben lang darum ging, all das in Lyrik zu verwandeln, was er an groteskem, unglaublichem, wahnsinnigem Leben erlebte. Und das Feuer jedes einzelnen (sich oft über viele Seiten hinziehenden, in langen Versen geschriebenen) Gedichts lodert derart heftig, daß dieser 107 Seiten starke Band eine Ausstrahlung hat, die Sie wahrscheinlich nicht mehr vergessen werden. Hier begegnen Sie Allen Ginsberg, „dem Buddhisten und dem Juden, dem Visionär und dem Zeitkritiker, dem Patrioten und dem Bürgerschreck, dem Prediger und dem Propagandisten der freien Liebe, dem enfant terrible und dem Umweltschützer, dem Drogenesser und dem gay activist, dem Pazifisten und dem PR-Manager seiner selbst“ (aus dem Nachwort von Uwe Wittstock). Hervorzuheben ist abschließend die Qualität der Übersetzung – die ja grundsätzlich problematisch ist, da die Welt der einen Sprache nie die der anderen sein kann: Die Gedichte sind von Profis wie Heiner Bastian, Michael Kellner, Bernd Samland, Jürgen Schmidt, Peter Waterhouse und Carl Weissner kongenial nachempfunden worden, also in der herben Ginsbergschen Tonart belassen und nicht in irgendeiner, den deutschen Leser möglicherweise schonen wollenden Lesart verfälscht (wie es beispielsweise leider mit Shakespeare und Salinger geschehen ist). Prinzipiell wäre eine zweisprachige Edition natürlich die noch bessere Alternative gewesen. Sei’s drum: Der leidenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen erstmals in dieser Auswahl in Deutschland erschienenen Gedichten Allen Ginsbergs steht zunächst nichts mehr im Wege.
Sonntag. Mit Adam Zagajewskis Die Wiesen von Burgund (2003), von Karl Dedecius übersetzten und ausgewählten Gedichten, betrete ich ebenfalls lyrisches Neuland. Wie viele Überraschungen hält der polnische Dichter für mich deutschen Leser parat! Immer wieder denke ich: diese Fülle, diese Ideen, diese Vielfalt! Plötzlich stoße ich auf ein W.G. Sebald gewidmetes Gedicht. Wer hätte das gedacht? Damit schließt sich für mich ein Kreis auf wunderbare Weise.
DAS
Das, was so lastet
und abwärts treibt,
das, was weh tut wie Schmerz
und brennt wie die Wange,
das kann ein Stein sein
oder ein Anker.
* * *
Weiterführend → Ein Essay über den Lyrikvermittler Theo Breuer.
→ Poesie zählt für KUNO zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugt der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung. Um den Widerstand gegen die gepolsterte Gegenwartslyrik ein wenig anzufachen schickte Wolfgang Schlott dieses post-dadaistische Manifest. Warum Lyrik wieder in die Zeitungen gehört begründete Walther Stonet, diese Forderung hat nichts an Aktualität verloren. Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik. KUNO schätzt den minutiösen Selbstinszenierungsprozess des lyrischen Dichter-Ichs von Ulrich Bergmann in der Reihe Keine Bojen auf hoher See, nur Sterne … und Schwerkraft. Gedanken über das lyrische Schreiben. Lesen Sie ein Porträt über die interdisziplinäre Tätigkeit von Angelika Janz, sowie einen Essay der Fragmenttexterin. Ein Porträt von Sophie Reyer findet sich hier, ein Essay fasst das transmediale Projekt „Wortspielhalle“ zusammen. Auf KUNO lesen Sie u.a. Rezensionsessays von Holger Benkel über André Schinkel, Ralph Pordzik, Friederike Mayröcker, Werner Weimar-Mazur, Peter Engstler, Birgitt Lieberwirth, Linda Vilhjálmsdóttir, und A.J. Weigoni. Lesenswert auch die Gratulation von Axel Kutsch durch Markus Peters zum 75. Geburtstag. Nicht zu vergessen eine Empfehlung der kristallklaren Lyrik von Ines Hagemeyer. Diese Betrachtungen versammeln sich in der Tradition von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins, dem Bottroper Literaturrocker „Biby“ Wintjes und Hadayatullah Hübsch, dem Urvater des Social-Beat, im KUNO-Online-Archiv. Wir empfehlen für Neulinge als Einstieg in das weite Feld der nonkonformistischen Literatur diesem Hinweis zu folgen.