Die Wächter der Stadt

 

Wenn man früh morgens aus dem Fenster schaut, dann kann es passieren, dass einem ganz plötzlich Dinge bewusst werden, die einfach auf der der Hand liegen. Herr Nipp hatte etwas länger als geplant geschlafen. Von Verschlafen konnte hier nicht die Rede sein. Sein Wecker hatte ihn geweckt, nicht wie sonst hatte er den Wecker ausgeschaltet, bevor dieser akustisch etwas anrichten konnte. Da er noch etwas Zeit hatte, blieb unser Protagonist noch etwas liegen, sinnierte über die vergangenen anstrengenden Tage des Wochenendes. Auf dem Dachflächenfenster hatten sich Tröpfchen gebildet, die ein schönes Muster entwickelten. Immer wieder konnte man darin neue Formzusammenhänge entdecken. Als sich eine der Wasseransammlungen plötzlich löste, andere mitriss und eine Spur der Verwüstung in den Ornamenten hinterließ, stand auch Herr Nipp auf. Man muss nicht sagen, welche morgendlichen Tätigkeiten ein Mann mittleren Alters zu erledigen hat, immerhin kann man vom Frühstück berichten. Zwei Scheiben Graubrot, dem man mal wieder irgendeinen neuen werbeträchtigen Namen und Titel verpasst hatte. Das allerdings blieb, was es war. Graubrot. Erinnerung an früher, an die gemeinsamen Frühstücksstunden in der großen Familie. Immer hatte es damals eine feste Sitzordnung gegeben. Die Mutter hatte zunächst der Tür zur Küche gesessen, der Vater ihr gegenüber, die vier Kinder nahmen die restlichen vier Plätze des Tisches ein. Graubrot, das war die Erinnerung an den Lieblingsspruch der Mutter, wenn man meckerte, dass irgendjemand den Brottopf nicht verschlossen hatte, das Brot zu alt war, die Scheiben an den Rändern vor Trockenheit aufgeworfen waren, geprägt durch ihre Nachkriegsjahre: „Altes Brot ist nicht hart, kein Brot, das ist hart.“ Herr Nipp öffnete die Avocado, verteilte das grünliche Fleisch und bestreute es mit Salz und Pfeffer. Mit einer dieser Früchte, verteilt auf zwei Schnitten, konnte man den Morgen ganz gut überstehen. Ohne das stete Hungergefühl, welches ihn sonst zuweilen heimsuchte. Nach dem Essen, das durch zwei Gläser Orangensaft und eine Tasse Kaffee abgerundet wurde, gab er die übriggebliebenen Schalen und den mächtigen Kern, der sicherlich die nächsten drei Jahre nicht verrotten würde, in das Behältnis für den Komposter. Wie immer aus Pappe, damit man alles direkt wegwerfen konnte. Wurde dann mit Laub abgedeckt und nicht mehr daran gedacht. Im nächsten Jahr würde man dann frischen Kompostboden als Dünger ernten. Als all dies durch den Kopf ging, schaute er aus dem Küchenfenster und sah, dass er beobachtet wurde. Aufmerksam und wissend. Auf allen höheren Bäumen saßen jeweils in der Spitze Krähen und Elstern. Die Wächter.

 

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421