In der zweiten Septemberwoche wurde ich infiziert. Vom Sprachvirus. Wieder mal. Diesmal nicht durch Ploog und Monte (bezieht sich auf das Büchlein „SPRACHE IST EIN VIRUS“ von Jürgen Ploog und Axel Monte, herausgekommen in Po Em Press Pentling 2003), sondern durch Flenters und Würdens großes Urban-Electronic-Poetry-Projekt. Laufen tut das schon seit über zwei Jahren, ich kannte es bisher nur aus der Ferne – durch Tom de Toys, dessen Beitrag SKANDAL ich 2003 übersetzt hatte. Zu dieser Zeit hatte ich noch am Bodensee gelebt, das Projekt war also nur in Form von E-Mails zu mir gekommen und als solche auch wieder verschwunden, aufgelöst im Netzäther, nach Kanada zu den Headtractive-Machern. Im April 2005 dann waren die UEP-Buchstaben wieder zu mir zurückkristallisiert, durch Kersten Flenter und Frank Bröker, die mir erzählten, was sie so machten: „UEP, CD und DVD ist draußen, Premiere in Hannover“. Oha, dachte ich, kiek an, das lebt ja noch!
Das lebt noch, ja. Und wie. Am 15. September waren die Urban Electronic Poets, zumindest ein Teil davon, in der Kulturbrauerei in Berlin im Rahmen der PopKomm zu sehen; am 14. in der Z-Bar im Wedding; und da ich mit Kersten Flenter selbst einen (allerdings inhaltlich völlig anders verorteten) Auftritt in Berlin hatte, kam UEP hier endlich wirklich und livehaftig zu mir, denn Kersten brachte mir die CD/DVD mit und erzählte einiges, und ich sah mir beide UEP-Sessions an. Und war fasziniert.
Es handelt sich bei UEP um eine kongeniale Verknüpfung von kritischer Spoken-Word-Lyrik, Musik und Bild. Aus der literarischen Subversive bekannte Größen wie de Toys, Flenter, Bröker, Enno Stahl, Ron Schmidt und Stan Lafleur lesen eindringlich ihre Texte und werden dabei sowohl von Musik als auch von Bildern auf der Videoleinwand unterstützt – live ist das ein unglaublich intensives Konsensorium, der in Kanada gedrehte UEP-Film ist zeit-(und ton-)los gut, die Bilder erinnerten mich an Aki Kaurismäki. Leider kann ich hier nicht weiter darauf eingehen, da mein DVD-Player nicht funzt. Schade; dafür hab ich aber das Booklet mit allen Texten drin, übrigens sowohl auf deutsch als auch auf englisch und französisch, was die Internationalität des Projekts unterstreichen soll (hier fand ich auch meine Tom-D-Transliteration SCANDAL wieder), und auch an der sehr schick gemachten Homepage kann ich mich immer wieder erfreuen (verantwortlich hierfür ist die designguerilla.de).
UEP ist Hardcore, verehrte Damen und Herren. Erwarten Sie kein leicht verdauliches, „nettes“, „lustiges“, „kreatives“ Poetry-Slam-Geschlurpse, wie man es heutzutage auf so vielen Lesebühnen findet. UEP ist kein „Trend“, nein – UEP tritt dem Trend in die Eier, zersetzt den Trend, löst ihn auf in seine Bestandteile, chemisch, elektronisch, poetisch! UEP enthält jenen hochexplosiven, feuerspeienden Kern, der von Zeit zu Zeit immer mal wieder eine literarische Revolution auslöst, wobei der Kern immer derselbe bleibt, ob wir die Revolution nun mit Rimbaud, Artaud, Beckett, Burroughs, Fauser oder den „Jungen Wilden“ des Social Beat Anfang der 1990er Jahre in Verbindung bringen. „Revolution heißt, einer tritt vor die Kulissen und schreit Scheiße, und dann stürzen die ganzen Kulissen zusammen“, sagte Rimbaud einst, und genau das leistet auch UEP: die Kulissen, die seit der Social-Beat-Revolution eifrig wiederaufgebaut, zurechtgezupft und gestylt wurden auf Deibelkommraus, wobei aber leider der Inhalt in den ganzen fünfzehn Jahren vernachlässigt worden war, werden hier, von Leuten, die sich größtenteils damals schon als Vorhangfetzer und Maskenentbildner betätigt hatten (man denke nur an Frank Brökers „härter“-Zine aus Münster, an Flenters Donner-Performances auf diversen SB-Festivals oder an Stahls Zitat „die Literatur der Neunzigerjahre muß kurz und knallhart sein, wie ein Videoclip, verstehste? Also mach et kurz, Otze!“) heruntergerissen und in Brand gesteckt.
Es ploogt da auf der UEP-CD, es burroughst, es collmert auch und es fausert. Max Würden, der Hauptverantwortliche der musikalischen Seite von UEP, hat das hervorragend umgesetzt: elektronische Beats, Hammerschläge im Steinbruch der Sprache, jeder der 14 Wortsisyphosse (und –sisyphosinnen) kriegt einen anderen Grundtenor und Grundrhythmus, doch der teils mechanisch kalte, teils gänsehauterregend heiße Ur-Beat zieht sich durch die ganze Scheibe; auch die anderen Komponisten (Sascha Freihals, Your Ten Mofo, Jörn Heinrich u.a.) halten sich an diesen unterirdischen, mal regelmäßig, mal weniger, mal schneller, mal langsamer pochenden Asphaltpuls, aus dem ich die ganzen Donnerköpfe vergangener Zeiten herausgewittern höre.
Diese Asphaltliteraten, hetzten damals gewisse Nazidichter gegen Berliner Bohèmeintellektuelle, zersetzen all unsere Werte! Ja! Ja! Genau! Und genau darum geht es auch! Wir sind Maulwürfe, zersetzen ist unser Job! „Gegenwartsbewältigung“ nennt es Ursula Keiper, „das Wort ist ein Virus im Automatismus der Städte„, sagt Flenter, was eine Weiterentwicklung ist von Burroughs‘ Motto „Language Is A Virus„: die Sprache ist ein Fremdkörper, der uns krank machen kann und auch krank macht, wenn wir es nicht gelernt haben, ihn selbstreflexiv zur aktiven Impfung einzusetzen. Und der Mensch ist ein lebendes Teilchen und kein automatischer Phrasendreschflegel, was besonders in der urbanen „modernen“ Kommunikationsgesellschaft ein wesentlicher Katharsisgedanke ist, will man nicht draufgehen. Dirk Hülstrunks kurzes Nie geschieht etwas bringt diese tote Laberflaschenzone, zu der die Kommunikationsgesellschaft verdümpelt ist, schön auf den Punkt: außer dem Wort „sagen“, dem Lieblingsfüllwort der Artikulationsunfähigen „irgendwas“ und diversen Pronomina enthält das Gedicht nichts weiter, und am Ende wird aus „irgendwas“ „nichts“. War „irgendwas“ je mehr als „nichts“? Got it. „Verdorrte Gespräche“ (Roma Mukherjee) sind das, was sich aus toten Konformkommunikationshülsen konstituiert, mehr nicht; der Weg hinaus führt durchs „Jenseits aller Töne“ (Alexander Pfeiffer).
Die Stadt ist natürlich wesentliches Thema: Hochhäuser, Asphalt, Hundekacke, Klingelschilder, Straßen. 1968 hieß es noch: unterm Pflaster liegt der Strand. 1993 brüllten die Social-Beat-Fraktionäre raus, was war, nämlich: kein Strand, nirgends, nur Pflaster, Pflaster, Drogen, Suff, Pflaster, wir brauchen uns nichts vorzumachen! Und 2005 sagt Carsten Bäumer: „Manchmal denke ich dann aber, daß es nicht der Rede wert ist, was so abgeht in der Stadt.“ Und Kersten Flenter ergänzt: „Es ist Zeit, die Verhältnisse wieder an den Träumen zu messen.“ Was haben wir für Visionen? Was können wir leisten? Wo können wir diese Stadt, diese Straßen und die Menschen darin hinführen, und womit? Mit der üblichen „urbanen“ Kommunikation geht es nirgendwo mehr hin; wir müssen entweder die Worte aufknacken oder die Fresse halten. Und dann handeln statt labern! Flenter spricht nicht davon, sich die Verhältnisse schönzuträumen, sondern von konkreter Utopie: seien wir realistisch, wagen wir das Unmögliche! Machen wir uns an die Humanisierung der Kommunikation und damit an die Humanisierung der Verhältnisse! Es gibt hinter den ganzen maroden Häusern immer noch genug Lebenslust, und die muß am Schwanz gepackt werden! Damit wird Marodistan von innen saniert. Dann hat Kolchosmose eine Chance zu funktionieren.
„Wo liegt der Schlüssel zum wirklich Wesentlichen“ (Bröker)? Genau da. In der „Lust, am Leben festzuhalten“ und sich vom Automatismus der Städte nicht verpflastersteinern zu lassen.
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Seit Ende April 2005 ist sie in einschlägigen Musikläden erhältlich: die „uep“-CD+DVD Das Wort ist ein Virus in der Automatik der Städte (Label: Schaltkreis)
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Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier. Ein Blick zurück: 1991 legen A. J. Weigoni und Frank Michaelis in Zusammenarbeit mit den Schauspielern Marion Haberstroh und Kai Mönnich die zum Schlagwort gewordenen Literaturclips beim Dortmunder Label Constrictor vor. Diese Titelgebung ist reinste Camouflage, gleichzeitig markieren die zwischen 1991 entstandenen LiteraturClips und den bis 1995 entstandenen Top 100 den Höhepunkt und die wahre Sprengung der sogenannten Pop-Literatur.
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Zu den Gründungsmythen der alten BRD gehört die Nonkonformistische Literatur, lesen Sie dazu auch ein Porträt von V.O. Stomps, dem Klassiker des Andersseins. Kaum jemand hat die Lückenhaftigkeit des Underground so konzequent erzählt wie Ní Gudix und ihre Kritik an der literarischen Alternative ist berechtigt. Ein Porträt von Ní Gudix findet sich hier (und als Leseprobe ihren Hausaffentango). Lesen Sie auch die Erinnerungen an den Bottroper Literaturrocker von Werner Streletz und den Nachruf von Bruno Runzheimer. Zum 100. Geburtstag von Charles Bukowski, eine Doppelbesprechung von Hartmuth Malornys Ruhrgebietsroman Die schwarze Ledertasche. 1989 erscheint Helge Schneiders allererste Schallplatte Seine größten Erfolge, produziert von Helge Schneider und Tom Täger im Tonstudio/Ruhr. Lesen Sie auch das Porträt der einzigartigen Proletendiva aus dem Ruhrgebeat auf KUNO. In einem Kollegengespräch mit Barbara Ester dekonstruiert A.J. Weigoni die Ruhrgebietsromantik. Mit Kersten Flenter und Michael Schönauer gehörte Tom de Toys zum Dreigestirn des deutschen Poetry Slam. Einen Nachruf von Theo Breuer auf den Urvater des Social-Beat finden Sie hier – Sowie selbstverständlich his Masters voice. Und Dr. Stahls kaltgenaue Analyse. – Constanze Schmidt beschreibt den Weg von Proust zu Pulp. Ebenso eindrücklich empfohlen sei Heiner Links Vorwort zum Band Trash-Piloten. Inzwischen hat sich Trash andere Kunstformen erobert, dazu die Aufmerksamkeit einer geneigten Kulturkritik. In der Reihe Gossenhefte zeigt sich, was passiert, wenn sich literarischer Bodensatz und die Reflexionsmöglichkeiten von populärkulturellen Tugenden nahe genug kommen, der Essay Perlen des Trash stellt diese Reihe ausführlich vor. Die KUNO-Redaktion bat A.J. Weigoni um einen Text mit Bezug auf die Mainzer Minpressenmesse (MMPM) und er kramte eine Realsatire aus dem Jahr 1993 heraus, die er für den Mainzer Verleger Jens Neumann geschrieben hat. Jürgen Kipp über die Aufgaben des Mainzer Minipressen-Archives. Ein würdiger Abschluß gelingt Boris Kerenski mit Stimmen aus dem popliterarischen Untergrund.