Zum Phänomen des poetischen Aktes
Auf diese Frage gibt es sicher ebenso viele Antworten wie es Dichter, wie es Gedichte gibt. Denn jeder Dichter hat seine eigene Art und Weise, wie er schreibt und auch wie ein Gedicht von ihm entsteht. Dichten ist ein persönlicher, individueller Denk- und Gestaltungsakt, sollte es jedenfalls sein. Jedes Gedicht hat seine ihm eigene Entstehungsgeschichte, die das Gedicht sowohl in dem, daß als auch in dem wie es entsteht, beeinflußt, bedingt und bestimmt. Jeder Dichter kann auf diese Frage nur die Antwort aus seiner eigenen Wirklichkeit heraus geben. Zusammenfassend kann man dann sicher eine gewisse Kategorisierung vornehmen.
Ein Gedicht entsteht bei mir vor allem einmal aus einer inneren Notwendigkeit heraus. Es muß mich etwas zu einem Gedicht-, ja zum Gedichteschreiben überhaupt – veranlassen. Es gibt so etwas wie einen Beweggrund, der mich das Gedicht, der mich überhaupt Gedichte schreiben läßt. Es gibt eine ganz bestimmte Disposition, eine seelisch-geistige, die notwendig ist, wenn ein Gedicht entstehen soll und entsteht. Es kann mich ein ganz persönliches Erlebnis, ein Gefühl, eine Stimmung (Trauer, Melancholie, das Gefühl der Abgeschiedenheit, des Sich-in-der-Welt-ausgesetzt-Fühlens), aber auch ein aktueller Anlaß, der in mir eine Resonanz, eine Reaktion hervorruft, dazu im wahrsten Sinn des Wortes bewegen, sodaß ich mich hinsetze und ein Gedicht schreibe. Das kann ganz spontan gehen. Meist aber ist diese seelische Disposition schon seit längerer Zeit vorhanden, intensiviert sich – oft durch Zusatzerlebnisse etc.-. bis die Empfindungen einen gewissen Grad der Sättigung erreichen, an dem etwas zum Ausdruck drängt.
Meist verdichten sich diese Empfindungen dann so, daß es zum Einfall eines sprachlichen Schlüsselwortes, einer Formel, eines Codes kommt, in dem sich Dichten und Denken bereits sprachlich ausdrücken und miteinander verbinden, in dem etwas Wesentliches schon wie in einem Brennpunkt zusammengefaßt ist, der zum Hauptbestandteil des jeweiligen Gedichtes wird, der in ihm aufscheint, den Kern ausmacht, den Schwerpunkt bildet. Von diesem Code geht dann alles Übrige aus. Diese Formel wird aufgelöst in sinnliche und sinnhafte Mitteilungen, in Aussagen; etwas Körperhaftes, Strukturiertes entsteht aus diesem Kern: eben das Gedicht.
Dieser Code, wie ich es nenne, kann als Einleitung, als Signal, als erste Sprachäußerung am Anfang stehen, bildet z.B. gleichzeitig den Titel des Gedichtes, oder er kann auch als Resümee am Schluß des Gedichtes stehen. Das Gedicht wird dann sozusagen von seinem Ende her aufgerollt. Im Denken und Dichten wird also zurückgegangen zum Anfang, zum Ursprung, zum Beweggrund. Dann wird das Gedachte, die Mitteilung aufgefächert. Es werden Bindeglieder hergestellt, die dem imaginären Du, das man ja hier miteinbezieht, den Prozeß nachvollziehbar machen. Man will diesem Du ersichtlich machen, wie diese Gedankenstruktur zusammengesetzt ist.
Ein Gedicht ist eine geistige, sprachliche und poetische Struktur, es ist eine Architektur, in der der Einfall- und Gedankenablauf in einer simultan erfaßbaren Erscheinungsform sichtbar gemacht wird. Hierin unterscheidet sich die Lyrik ganz wesentlich von der Prosa oder vom Drama. Alles ist sofort und in einem verfügbar, in kürzester Zeit erfahrbar und auswertbar. Die Rezeption eines Gedichtes hat eine große Ähnlichkeit mit der eines Bildes. Es wird nicht von seinen Einzelteilen her erfahrbar, rezipiert und verstanden, sondern als Ganzes, in einem Augenblick, in einer dem Augenblick gleichkommenden, zeitlichen Dimension. Fällt bei einem Roman z. B. die Kreation und die Rezeption, was das Zeitliche ausmacht, zwar auch wesentlich auseinander, so ist sie jedenfalls bei einem Bild oder einem Gedicht wesentlich kürzer und kongruenter. An einem Bild kann sehr lange gemalt worden sein, aber erschaut kann es in einem Augenblick werden. Von hier ist auch auszugehen bei der Untersuchung des Phänomens der Wirkung.
Gerade durch seine Kürze, durch den Simultancharakter bei der Erfahrung des Gedichtes, durch diese dem Gedicht sehr spezifisch eigene Art der Rezeption entsteht auch seine Wirkung. Ein Gedicht kann gerade durch die komprimierte Art der Mitteilung eine große Wirkung erzielen, es kann betroffen machen. auch weil es mit dem Stilmittel der Phänomens einen hohen Grad von Intensität, Dynamik und Wirkungskraft erreichen kann.
Das Gedicht ist eine Insel im Schweigen. Es kommt aus dem Schweigen, oft aus einem lange ertragenen, und mündet wieder in dieses zurück. Die Entstehung des Gedichtes, auch seine Gestaltung und seine Wirkungskraft, haben sehr viel mit diesem Phänomen zu tun.
Es gibt bei mir bestimmte Tageszeiten, in denen Gedichte entstehen, leichter als sonst, mit besserer Überwindungsmöglichkeit der (sprachlichen) Barrieren? Und dann noch die Jahreszeiten: Frühling, Somer, Herbst und Winter. De Herbst z.B. ist für mich ,,die sanfte Elegie der dunklen Trauer“ (PPW). Da wird für mich alles weicher, die sonst so scharfen Kanten in der Konfrontation – auch jener zwischen Intellekt und Gefühl, zwischen Rationalität und Intuition – runden sich ab. Eine milde Trauer legt sich dann oft über mich und hüllt mich darin ein. Die Farben leuchten als Zeichen des Lebens und des Untergangs. Da trifft etwas zusammen, was kongenial ist. Ein Gefühl der Zugehörigkeit entsteht, ein Gefühl und ein Wissen um die Gleichheit und Gleichnishaftigkeit im Geschick und Schicksal von mir und der Welt. Dichten bedeutet auch diesen Rückzug in sich selbst, diese Einkehr in die eigene Innerlichkeit, das Verstehen aufgrund von Erfühlen und Ahnen.
Wichtig sind auch Tageszeiten, das Ende eines Tages, etwa zwischen 17 und 20 Uhr, im Herbst und Winter. Da geht etwas zu Ende. Das letzte Tageslicht fließt hinaus ins Land. Es öffnet sich der Himmel. Unendlichkeit, Grenzenlosigkeit wird erlebbar und erfahrbar; aber auch die Begrenzung des eigenen Ichs, der eigenen Existenz. Abschiede sind fühlbar nahe.
Musik ist wichtig. In ihr sind für mich viele Erinnerungsmomente gespeichert. Mit dem Auflegen einer bestimmten Schallplatte (Schubert, Mahler, slowenische Volkslieder) sind diese musikalischen Codes abrufbar und finden oft ihr Pendant in einem daraus entstehenden sprachlichen Code eines neuen entstehenden Gedichtes. Ich habe viele Gedichte bei einer ganz bestimmten, bei einer immer gleichen Musik geschrieben. Da dient die Musik als Starthilfe, um mich ins Schreiben gefühlsmäßig hineingleiten zu lassen. Die Musik verbürgt mir so eine Kontinuität in der Stimmung, die für den Schreibakt wichtig ist.
Fast alle Gedichte werden von mir in einem Zug und fast ohne Korrektur geschrieben. Anschließend setzt sogleich die Korrekturarbeit ein, in der es um Sprachkorrektur, um eine Vervollkommnung in der Sprache und im Ausdruck des Gedichtes geht; um Präzisierung und Verdichtung. Die Sprache muß vollkommen dem entsprechen. was ich ausdrücken will. Wobei ich hier nicht eine Begriffssprache meine. sondern eben jene des Gedichtes, die zwar auch bezeichnet, aber doch eher so eingesetzt wird, daß in ihr etwas zum Ausdruck kommt. Die Andeutung, die der Deutung Raum gibt und somit das Gedicht offen sein läßt für Erfahrung und Interpretation, die den Raum des Gedichtes offen hält für einen Eintritt und eine Einbeziehung des Rezipienten, ist ganz wichtig dafür, was ein Gedicht ausmacht. Es geht nicht um eine möglichst direkte Informationsübermittlung, sondern wesentlich für das Gedicht ist die Dimension, in der man sich im Gedicht bewegen kann. Ein Gedicht ist und muß immer mehr sein als das nur mit Worten Gesagte.
Die Erinnerung, das Sich-Erinnern, ist ein weiteres wichtiges Phänomen bei der Entstehung eines Gedichtes. Ein Gedicht steht immer in Bezug zu allen übrigen Gedichten, die man als Autor bereits geschrieben hat. Es steht in einem Ganzheitsbezug zur eigenen Existenz. Dadurch entsteht auch die Dimension eines Gedichtes. Tradition und Kontinuität sind in der Person des Autors begründet.
Ein Gedicht deckt – auch für den Autor – oft bisher verborgene und geheimnisvolle Räume auf. Der Bereich des Verdrängten, des Unterbewußten und Unbewußten wird angesprochen, oft aufgebrochen, erhellt, sichtbar und erlebbar gemacht. Das hat auch auf den Autor einen gewissen Wirkungs- und Rückkoppelungseffekt. Von seinem eigenen Gedicht geht manchmal auf den Autor eine ganz bestimmte, oft gar nicht erwünschte Wirkung aus. Ein Gedicht der Trauer, das aus einer Stimmung heraus entstanden sein mag, kann dieses Gefühl, ab dem Zeitpunkt, da es sprachlich fixiert ist, auch beim Autor selbst verstärkt manifestieren und in einer lang anhaltenden Stimmung verankern. Ja, es ist so, daß ein Gedicht aus diesem Wirkungszusammenhang heraus in einer gewissen Weise sogar den Autor gefährden kann. Es kann ihn in gefährliche Tiefen ziehen. Eine solche Wechselwirkung von Dichtung und Wirklichkeit, von Erfahrung der eigenen Wirklichkeit im eigenen und durch das eigene Gedicht ist sicher gegeben. Immer wieder fällt mir in diesem Zusammenhang bei diesem Phänomen und Problem der Dichter Georg Trakl ein.
Für den Dichter sind seine eigenen Gedichte auch ein Speicher seiner Erinnerung. Sie sind auch ein Depot seiner Träume, seiner Ängste, seiner Hoffnungen, seiner Verzweiflung. Sie sind auch Zeichen(setzung) seines Widerspruches zur vorhandenen Welt. Sie sind oft auch der Entwurf einer Gegenwelt. Sie sind Zeugnis und Dokument eines individuellen Lebens- und Denkprozesses. Sie sprechen von dem, was der Dichter glaubt zu sein. Vieles davon bleibt – auch für ihn – gültig. Manches wird revidiert, wird umgeschrieben, neu gedacht, verändert, deutlicher im Laufe seiner eigenen Geschichte und im Laufe seiner Gedichte.
Gedichte sind für den Dichter das, worin er sich offenbart, und das, worin er sich aufbewahrt. Sie sind immer Zeugnis einer Station, eines Stadiums der Auseinandersetzung – auch mit sich selbst. Gedichte sind stets ein Weg und ein Zeugnis einer neuen Ich- und Welterfahrung. Jedes Gedicht ist ein Zugang – oder zumindest der Versuch eines solchen – zu sich und zur Welt. Ein Versuch, sich selbst und die Welt zu erfahren, zu verstehen, zu deuten, die mögliche oder vorhandene Diskrepanz und den Zwiespalt zwischen Ich und Welt mit dem Gedicht(eschreiben) zu bewältigen. Jedes Gedicht ist ein Zeichen des Lebens und ein Akt des Widerstandes gegen Vergänglichkeit und Tod. Das Gedicht ist ein Versuch, über die eigene Existenzbegrenzung und über die Weltverbundenheit hinaus zu gelangen und so in der Tragik des Seins und seiner Unabänderlichkeit zu bestehen.
Weiterführend →
Über den dezidiert politisch arbeitenden Peter Paul Wiplinger lesen Sie hier eine Würdigung.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.