Rhetorische Decodierung des lyrischen Ichs
In der Studioarbeit geht es Tom Täger und A.J. Weigoni um ein Stimmenhörenschreiben. Bei seinen Rede- und Suchgedichten konzentriert sich Weigoni beim Rezitieren auf die nackte Stimme. Es ist ein Textkonzert, die Partitur ist Sprache. Tom Täger stellt sie auch bei dieser Aufnahme im Tonstudio an der Ruhr ganz in den Vordergrund. Gleichzeitig löst sich die Sprache in den Gedichten in ihre Einzelheiten auf. Dieser Sprechsteller hat beim Schreiben das Hören im Blick und beim und Sprechen das Auge im Ohr. Er läßt die Distanz zwischen Sprache und Gedanken schrumpfen, dass die sich daraus ergebende Transparenz des Verfahrens es erlaubt, dass sich die Unterschiede zwischen Gattungen aufheben. Heiner Müller hat sinngemäss gesagt, Autoren müssen dem Hörere mit ihren Texten Widerstand entgegensetzen, es sei ihre Pflicht zu überfordern. Der Widerstand, den die Materialität eines Textes leistet, bietet sich eben auch als Material für Sprecher. Dort, wo etwas präzise gebaut ist, zwingt es, gegen den Schlendrian eine klare Haltung einzunehmen, die dazugehörige Form ist zu erfinden. Man kann dieses Kompositum als Polyphonie hören, eine Art Wortkonzert, ein auf- und abschwellender Klagegesang über den Verlust des Individuums. Es geht um Stimmen und ihr Spiel, ein Aus-Sprechen, das die Kulturgeschichte von Klang und Ton gleichsam mitatmet.
Wir schwimmen im Meer der Radiowellen
schrieb Marshall McLuhan 1968 in „Die magischen Kanäle“, aber wir bemerken sie ebenso wenig wie ein Fisch das Wasser, solange er nicht an Land gezogen wird und Luft schnappt. Es ist eine Tücke aller technischen Medien, dass sie sich selbst zum Verschwinden bringen, indem sie hinter den Tönen oder Bildern, die sie transportieren, in der Regel unhörbar, unsichtbar bleiben. Weil Klang und Stimme uns direkt und emotional ansprechen, spielen sie Künstlern in die Hände, die ihr Publikum in Performances und Produktionen einbeziehen. Weigoni geriert sich nicht nur als poeta doctus und poeta faber, er verbindet Klang und Inhalt zu einer Poesie, die weit über Text und Kontext hinausgeht. Bei diesem Poeten ist Sprechen ein schöpferischer Akt, bei dem durch das Aussprechen Welt und Wirklichkeit erst entstehen. Es geht diesem Lyriker darum, mit wenigen Worten alles zu sagen. Es geht auch darum, Gefühle zu kommunizieren, ohne daß Worte verständlich werden. Es ist seine Methode, die Stimme als Instrument einzusetzen, nicht als Nebelhorn. Er fügt zusammen, setzt Wörter in den Fluss, um sie danach wieder raubeinig zu trennen. Weigoni schlägt zwar nicht auf die Luft ein, aber mit ihrer Sprache formt sie die Luft zu Klängen und rhythmischen Figuren, die den Leser aus seinen vertrauten Denkmustern holen. Sine Denkschärfe in den Schmauchspuren hat das Ziel die Logik einer poetologischen Reflexion zu sein welche die Wirklichkeit im Ausgesprochenen entdeckt. Es geht um Beweglichkeit und Bewegung. Denkbewegung und Handeln. Die artIQlierten Denkspiele sind, um es mit Georg Heyms Worten zu sagen „Neopathetisches Cabaret für Abenteurer des Geistes“.
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Gedichte, Hörbuch von A.J. Weigoni, Edition Das Labor, Mülheim 2005
Weiterführend →
Lesen Sie auch die Würdigungen von Jens Pacholsky: Hörbücher sind die herausgestreckte Zunge des Medienzeitalters, Holger Benkel: rettungsversuche der literatur im digitalen raum, Christine Kappe, Ein Substilat, Sebastian Schmidts Der lyrische Mittwoch. Eine Übersetzung von Ichzerlegung eines Wesensfallenstellers durch Lilian Gergely finden Sie im Literaturmagazin Transnational No.3 – last but not least: VerDichtung – Über das Verfertigen von Poesie, ein Essay von A.J. Weigoni in dem er dichtungstheoretisch die poetologischen Grundsätze seines Schaffens beschreibt.
Hörbproben →
Probehören kann man Auszüge der Schmauchspuren, von An der Neige und des Monodrams Señora Nada in der Reihe MetaPhon. Zuletzt bei KUNO, eine Polemik von A.J. Weigoni über den Sinn einer Lesung.