Die Gedichte von Georg Trakl waren als Ereignis so groß und umfassend, dass ich es zunächst kaum verstehen konnte. Zwei Nächte lang schlief ich kaum, um alles über den Heeresapotheker, Morphinisten und Opiumesser aus Salzburg zu lesen.
Lutz Seiler
Trakl ist nicht in Mode; war er nie. Und trotzdem habe ich ihn wie keinen anderen Dichter gelesen, studiert, in mich aufgenommen, mir zu eigen gemacht. Trakl: Der Außenseiter, der mit den dunklen Schatten, der Dichter der Dämmerung am Ende des Tages, am Beginn einer langen, vielleicht nie endenden Nacht. Gedichte mit dem Klang von Cellotönen in den tieferen Lagen. Die Melodie lang anhaltend, bis zur Schmerzgrenze, in ein Dahinter versinkend. Gedichte voll von Geheimnis, Schwere, Düsternis. Manchmal sich aufschwingend zum Himmel in einer sternklaren Nacht. Mir wesensverwandt, dachte ich damals, denke ich noch immer, fühle ich jedenfalls. Trauer und Klage, Wissen und Ahnung. Früh vollendet und doch gescheitert. Aber woran? Die Sprache des Gedichtes wird zum Gesang für Ewigkeiten. Schönheit nahe dem Zerbrechen. Abglanz eines inneren Leuchtens. Dichtung in reinster Form.
Das schreibe ich jetzt spontan und fast unüberlegt hin. Das sind wiedergegebene Notate, die seit langem in mir sind, seit meiner damaligen Lektüre vor mehr als vierzig Jahren. Die beiden Gedichtbände liegen vor mir, brüchig, das Papier sonnengebleicht. Mein vor langer Zeit verstorbener Bruder, der Philosoph und Heidegger-Freund, hat sie mir geschenkt, aus seinem Besitz. „Lies das!“, hatte er damals gesagt. Und „Frohe Weihnacht!“ mir schriftlich auf einer Karte gewünscht, die noch vorne im Buch liegt. Eine braun getönte Karte mit der kunstvollen Fotografie eines Kreuzganges. „Roma – Basilika di S. Paolo“ steht als Legende unter dem Bildrand. Das wäre ein Ort für Trakl gewesen, wenn er jemals dorthin gekommen wäre. Vielleicht wäre dann ein Gedicht entstanden mit einem Raum aus Stille und Ewigkeit. Ich habe das jedenfalls so ähnlich gefühlt in solchen Kreuzgängen, die ich durchschritten habe, im Mai letzten Jahres, als ich in Rom war. Dort habe ich den Gedichtzyklus „Steine im Licht“ verfaßt. Poetische Formulierungen fallen einem in solchen Augenblicken ein, mir jedenfalls, poetische Formulierungen von solcher Art, wie man sie heutzutage in keinem Gedicht mehr verwenden darf. Das sagen KollegInnen und Germanisten. Und trotzdem formulierte ich damals lautlos in mir den Satz: „Den Atem der Ewigkeit spürst du an diesen Orten in solchen Augenblicken“. Aber ich schrieb das so nicht nieder. Ich bin kein Trakl-Epigone, nicht mehr; ich war das lange genug, damals als ich Trakls Gedichte las. Sie überdeckten mich, drangen in mich ein. Sie präparierten mich, machten mich bereit für das Gedichteschreiben; für das, was später zu meinem Leben geworden ist. Heute mit 67 Jahren sehe ich das so im Rückblick.
Stundenlang bin ich damals oft dagesessen und habe Trakl-Gedichte in mich hinein gelesen. Kann man Gedichte so aufnehmen: meditativ, fast ohne Denken, mit reduziertem Bewußtsein; und sie verstehen, verstehen lernen, ihre Spuren, ihre Wahrheit? Kann man so ihre Geheimnisse finden? Kann man auf diese Weise Bilder in sich entstehen lassen und diese betrachten, so wie zum Beispiel das Caravaggio-Gemälde in der Chiesa San Luigi de’ Francesi, und sich ihnen hingeben? Ist das erlaubt, ist das gut so? Oder führt das in die Irre, (zu weit) weg vom Gesagten, weg von dem, was der Dichter meint und ausspricht? Doch immer sind es Bilder, die in mir entstehen, auch aus Worten. Die Worte, das Gesagte sind nur der Text. Der ergibt nur eine Partitur. Erklingen muß aber die Dichtung in mir. Bin ich so ein guter Gedichteleser? Das fragte ich mich damals und erzählte davon im Seminar. Man schüttelte den Kopf darüber. Und der Professor meinte: „Wozu gäbe es denn dann uns Wissenschafter, uns Interpreten? Ja, wozu gibt es die eigentlich, wozu sind sie notwendig, wer braucht sie ? Ich sehe mich, da ich mir mein eigenes Ich-Bild nun vorstelle, als Jüngling, so alt wie Trakl, am Morgen in einem blauen Lehnstuhl sitzen, vor einem weißen Vorhang. Das Morgenlicht fällt sanft durch das Fenster herein, fällt auf den Trakl-Gedichtband, den ich aufgeschlagen in Händen halte. Und ich sehe mich versunken in eines der Gedichte. Und sehe mich versunken in einer anderen Welt.
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Weiterführend →
→ Lesen Sie auch das Porträt Poetik des Humanen über Peter Paul Wiplinger von Arletta Szmorhun.
→ Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.