Wie durch ein Wunder bekam das unverheiratete Intellektuellen-Paar Sylvie S. und Nicolas D. doch noch ein Kind. Die emotional fast überforderten Eltern taten alles, um die Fantasie ihres Sprösslings anzuregen. So zeichneten sie ihrem Sohn Albert im Alter von drei Jahren eine Karte, nach welchem der Knabe seine Mahlzeit in der grossen Loftwohnung suchen durfte. Albert gelang an seine Spielsachen nur, wenn er körperlich dazu in der Lage war. Die Regale hingen wohl überlegt an den Decken. Es war schliesslich keine Frage, dass nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist heranreifen konnte. Seit Alberts Geburt unterhielt sich Sylvie mit Nicolas nur noch in gebrochenem Spanisch. Zu ihrem Sohn selber sprach der Vater englisch und die Mutter französisch. Damit wollten sie nicht nur Alberts Horizonte öffnen, aber auch die kulturelle Vielfalt der Welt subtil und wortmalerisch durch die angewendete Sprache aufzeigen. Man überliess es dem kleinen Talent selber zu entscheiden, ob er nun Geige, Klavier oder Flöte spielen wollte und liess den Jungen mit einem Lehrer gleich alle drei Instrumente ausprobieren. Wenn Sylvie und Nicolas ausgingen, war es Alberts Kindermädchen untersagt, mit ihm auf den Spielplatz zu gehen, wo die Infektionsgefahr gerade für kleine Kinder zu gross war. Spaziergänge hatten allgemein in Museumsgebäuden stattzufinden. Kindermärchen waren selbstverständlich zu profan und tabu. Dafür gab es Vorträge, die Nicolas von seinen akademischen Freunden umsonst bekam. Albert schlief so sehr schnell ein, auch wenn Sylvie grundsätzlich mindestens drei Stunden lang las. Denn die unbewusste Seite von Alberts noch apfelgrossem Gehirn folgte den Vorträgen selbst dann noch, wenn der Sprössling träumte, war die Mutter überzeugt. Und als mathematische Formel verkleidet, durfte Albert sogar an den Kinderumzug mitgehen.
***
Weiterführend →
Die Werkstatt des kreativen Denkens betrachtet Holger Benkel in einem Rezensionessay. Lesen Sie auch das Porträt der Autorin und das Kollegengespräch zwischen Sebastian Schmidt und Joanna Lisiak. KUNO verleiht der Autorin für das Projekt Gedankenstriche den Twitteraturpreis 2016. Über die Literaturgattung Twitteratur finden Sie hier einen Essay.