Everything distracted me, but most of all myself.
Patti Smith
Obzwar ein geborener Rockstar begann die Karriere von Patti Smith als Rezitatorin, die ihre eigenen Gedichte vortrug. Was an dieser Poetin fasziniert ist ihre frei assoziierende Lyrik, die sie halb atemlos, halb synkopisch über primitive Rockakkorde legt, dies gibt ihren Songs einen aufbegehrenden und nervösen Reiz. In den besten Momenten entsteht eine Magie der Worte. Das Album ist neben Constantin Brâncuși auch Arthur Rimbaud gewidmet. Damit ist Frau Schmitz nicht die einzige, die der an einer Überdosis dieses enfant terrible litt.
Ich umarmte ihn als Landsmann … als Verwandten, ja als heimlichen Geliebten.
Smith über Rimbaud
Auf kaum einem anderen Album dieser Zeit ahnt man bereits den Übergang, der bevorsteht und bald das Etikett Punk tragen wird. Radio Ethiopia liefert eine Version von Heavy Metal ohne die deprimierende Vorhersehbarkeit, seine Riff-Power lässt das künftige erahnen. Sie stand an einer Wegkreuzung zur Metal-Queen. Hören wir als Beispiel Ask the Angels, einer Lektion in Sachen Einfachheit und Spannung im Rock’n‘Roll. Die scharfen E-Gitarren-Akkorde, die das Lied eröffnen, wechseln zwischen F# und D und deuten auf den Grundton A hin, weigern sich aber, dorthin zu gehen. Schlagzeug und Bass setzen ein, um etwas Raum zu füllen, und Smith ist direkt dahinter mit einem schrecklich sexy Gurren bei dem Wort „mo–ooove“, das einem auf der Stelle sagt, dass sie das Gefühl hat. Dann startet sie einen energiegeladenen Gesang, während der Zuhörer sich nach der Auflösung sehnt, die schließlich kommt, wenn die Akkorde im Refrain zum Grundton wechseln. Smith lässt nie nach und motiviert die Band, dieses Stück weiter voranzutreiben. Lenny Kaye bringt in seinen Soli ein paar gute Licks ein, Jay Dee Daugherty liefert einen geradlinigen Beat und Ivan Kral besiegelt seinen Ruf als einer der besten Bassisten des Jahrzehnts. Während es in „Wild! Wild! Wild!“ zwischenzeitliche Höhepunkte gibt, Nach den „Wild“-Refrains beschleunigt der Track mit Smiths Schlüsselzeile: „And rock and roll is what I’m born to be.“ Von da an lässt uns die Band in exquisiter Spannung zurück, indem sie mehrere Takte lang auf dem V-Akkord des Refrains bleibt, wo Patti Smith zweifelsfrei beweist, dass sie eine verdammt gute Rock’n’Roll-Sängerin sein kann. Wenn sie es will.
And rock and roll is what I’m born to be
„Ain’t It Strange“ widerlegt diese Bezeichnung sofort, sein sumpfiges, Doors-artiges Heulen und Stampfen baut sich auf und verebbt zu einem wirbelnden Höhepunkt, der ebenso plötzlich in ein keuchendes Flüstern abfällt, das die letzten Glutreste des Songs zu nichts verbrennt. Es ein schweres Rock-Klagelied, geprägt von Jay Dees dröhnenden Drums und Lenny Kayes cleverem Gitarrenspiel, das den Song eröffnet und in den Strophen als Kontrapunkt dient, bis hin zu größerer Verzerrung und Intensität. Smiths Gesang ist irgendwo zwischen Gemurmel und lautem Gerede, wie ein Speed Freak, der verzweifelt versucht, den Klang seiner eigenen Stimme zu hören, um sich davon zu überzeugen, dass es sie in einer seltsamen, seltsamen Welt gibt. Die im Text dargestellten Szenen setzen das Dichotomie artige Muster von Ask the Angels fort; hier sind die beiden polaren Gegensätze das Crackhaus und der Ort der Anbetung. Die Stimmung des Songs ist das, was ihn funktionieren lässt. Der Kontrast zwischen Smiths schwebendem Gesang und dem rituellen Dschungelbeat erzeugt ein Gefühl der Benommenheit, als würde sich der Song auf die unsicheren Schritte zubewegen, die man unternimmt, wenn man high, wie der Moderator in der Rockpalastnacht ist oder stunzbesoffen wie das Publikum in der Essener Grugahalle.
Wir sind jetzt breit.
Alan Bangs in der Rockpalastnacht vom 21.-22.4.1979
Poppies enthält gegen Ende des Songs ein paar Zeilen über den Akt der Ausscheidung von Abfall, die vermutlich als Einleitung für den nächsten Track Pissing in a River dienen. Das Bild ist eine starke Metapher für verlorene Liebe und die verschwendete Energie, die darauf verwendet wird, eine zum Scheitern verurteilte Beziehung zu retten:
My bowels are empty, excreting your soul
What more can I give you? Baby, I don’t know
What more can I give you to make this thing grow?
Don’t turn your back now, I’m talking to you
Dieses beinahe antikommerzielle Experimentieren ist ein distanziertes Stück Heroin-Poesie, das sieben Minuten lang auf einem Blues-Rock-Riff dahintreibt, bis es auf schrille Weise der schwebenden Pop-Piano-Ballade Pissing in a River übergeht, die trotz ihres vulgären Titels vielleicht das zugänglichste Lied auf dem Album ist. Ivan Krals Prozessionsmusik baut sich langsam von einer klaviergetriebenen Klage zu einem kompromisslosen Power-Arrangement auf, das die wachsende Empörung in Pattis Gesang widerspiegelt, die sich wiederum in der ansteigenden Fluss-Bildsprache des Gedichts widerspiegelt. Die Verweise auf das klassische Torch-Lied Cry Me a River deuten auf einen Wunsch nach Rache oder zumindest nach gleichberechtigtem Leiden seitens der Ex hin. Obwohl ich die Darbietung schätze, fällt es mir schwer, mich mit der „Schau, was ich für dich getan habe“-Orientierung zu identifizieren, was ein wirklich sinnloses Argument gegenüber jemandem ist, der sich entschieden hat, die Beziehung nicht fortzusetzen. Obwohl sie einige Anzeichen von Selbstreflexion zeigt („Soll ich einen so verschlungenen Weg einschlagen? / Soll ich besiegt und beschenkt kriechen?“), kommt Smith nie zu der Erkenntnis, dass eine Beziehung wertlos ist, wenn nicht beide Parteien sie wählen, und wirkt wie das arme Opfer, eine ziemlich konventionelle und selbstzerstörerische Haltung für eine Frau.
Das immer wiederkehrende Thema der totalen Hingabe
Pumping (My Heart) ist ein weiterer kompromissloser Rocksong, der seinem immer wiederkehrenden Thema „totaler Hingabe“ gerecht wird. Smith beweist einmal mehr, dass sie eine großartige Rock’n’Roll-Sängerin sein kann. Sie ist bei diesem Stück in Hochstimmung, biegt die Blue Notes wie ein Profi und verleiht der gesamten Darbietung ein köstlich sexy Grinsen. Die Band ist so eng wie ein Blues, sie mischt kreischende Gitarre, pumpenden Bass und „Mach-dich-fertig“-Drumming, was Patti viele Gründe gegeben haben muss, „den Hurrikan zu befreien“ und richtig abzuliefern. Diese süße Phrase – „den Hurrikan zu befreien“ – beschreibt genau das, was ich fühle, wenn ich ein oder zwei Tage lang keinen bekommen habe und kurz vor dem Explodieren stehe. Smith schafft es auch meisterhaft, die Dynamik von Sex und Gewalt zu verknüpfen, diesmal auf eine positivere und weniger destruktive Weise als in Ask the Angels.
So I’m free to move in the resurrection
And my heart starts pumping and my fists start pumping
In Distant Fingers übernimmt Smith den Wunsch von Peter Reichs nach Rettung durch Außerirdische in „Land“ on Horses und macht ihn zu ihrem eigenen. Der harte Reggae-Beat wird mit einer härteren Basslinie, einem stärkeren Drum-Punch und einer heißen E-Gitarre von Lenny Kaye sexyer behandelt, was zu inspirierenden Bewegungen führt, die auf sehr stimmungsaufhellende Weise Schwingen und Schleifen kombinieren. Der Text hat jedoch wenig mit Sex zu tun, sondern konzentriert sich stattdessen auf Smiths Gefühl der Trennung von der Erde und ihren Bewohnern und einen fast kindlichen Wunsch, dass die Außerirdischen kommen und sie mitnehmen. Obwohl der Song Science-Fiction-Hassern albern erscheinen mag, gibt Patti sich voll und ganz ihrer Darbietung hin, genau wie The Shangri-Las es mit ihren angeblich melodramatischen Stücken taten. Es ist eines ihrer charmantesten und entzückendsten Lieder ist, wegen der aufrichtigen Freude und inbrünstigen Hoffnung, die sie bei der Beschreibung ihrer Fantasie ausdrückt. Verglichen mit David Bowies verworrenen Science-Fiction-Ergänzungen jener Zeit drückt Distant Voices den sehr verbreiteten Wunsch nach Rettung aus unserer kaputten Welt, ihren scheinbar unlösbaren Problemen und der existentiellen Isolation aus, die wir ironischerweise auf einem überbevölkerten Planeten empfinden.
Die zwölf Minuten von Radio Ethiopia sind sehr herausfordernd
Das dröhnende, hämmernde Stück psychedelischen Noise-Rocks läuft volle zehn Minuten wie ein brennender Güterzug, wobei Smith größtenteils lautpoetisches Material von sich gibt, während die Band um sie herum brennt und zusammenbricht. Der Vorwurf der Selbstgefälligkeit mag berechtigt sein, verkennt jedoch die Tragweite und Wut. Die Gitarren sind kräftiger und riffiger, die Band arbeitet zunehmend mit ihr statt für sie, insbesondere da das neu entdeckte Hardrock-Gefühl der Band sowohl durch Smiths anhaltenden Fokus auf schneidende, unkonventionelle Poesie als auch durch ihren wilden Gesangsstil untergraben wird. Radio Ethiopia ist das kompromisslose Statement einer Rockpoetin, das die kritische Überprüfung verdient und besser gealtert ist, als andere Alben der Frühphase, bei diesem Vergleich erschließt sich dem Hörer jedoch nicht, warum Smith als „Godmother of Punk“ bezeichnet wird.
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Radio Ethiopia, von Patti Smith Group, 1976
Weiterführend → Im typischen Gestus junger Dichter hasste Arthur Rimbaud die kleinbürgerliche Enge seiner Vaterstadt, was z. B. in dem satirischen Gedicht À la musique (An die Musik) zum Ausdruck kommt, er ist der erste Rockstar der Poesie. Dichter wie der Dub-Poet Linton Kwesi Johnson, der Punk-Poet John Cooper Clarke, der Lo-Fi-Poet Dan Treacy, der Spät-Expressionist Peter Hein, der Lizard-King Jim Morrison und die Grandma des Punk Patti Smith nutzten Musik als Transportmittel für ihre Lyrics. Und eigentlich könnte auch: „Dylan gut ohne den Nobelpreis für Literatur weiterleben und -arbeiten. Er ist auch kein genuiner Kandidat, insofern er halt kein ‚richtiger‘ Schriftsteller ist, sondern ein Singer-Songwriter.“ (Heinrich Detering). Es gibt im Leben sowie in der Kunst unterschiedliche Formen von Erfolg. Zum einen gibt es die Auszeichnung durch Preise und Stipendien, zum anderen die Anerkennung durch die Kolleginnen und Kollegen.