Tao

 

von und nach Holger Benkel

Rudnikow, der Suchende, ging mit Wu, seinem Begleiter, zur Zeit der Zeitenwende über den Platz des Himmlischen Friedens, wo sie im Schatten Maos, den eine riesige Statue warf, ihren langen Marsch durch die Geschichte für eine kurze Weile unterbrachen, damit die erhitzten Köpfe kühler würden.

Mehrere der besten Steinmetze aus der Mitte des Volkes, erklärte Wu, Herr und Genosse, schufen dieses Denkmal eines kollektiven Ideals. Der Bildhauer der Augen allerdings wurde, als er sah, was die Augen sahen, die er schuf, schizophren.

Rudnikow, der mit seinen Augen ganz woanders war, deutete auf die Schriftzeichen, die er auf dem Sockel fand, und sah fragend zu Wu. Der schaute sich um und las leise die Losung: KAPITALISMUS IST EINE KOMMUNISTISCHE TUGEND.

Das kann nicht wahr sein!, rief Rudnikow, das hat Mao nie gesagt!

Natürlich nicht, erwiderte Wu, doch wenn er heute leben müsste, könnte er auch nichts anderes sagen.

Aber es bleibt eine Lüge, sagte Rudnikow, so zu tun, als habe Mao dies vor unserer Zeit gesagt.

Keine Lüge, versicherte Wu, der seinen Gast nachsichtig anschaute, sondern Weisheit. Ihr Europäer sucht immer nur nach der Wahrheit, und wenn ihr die Wahrheit glaubt gefunden zu haben, quält sie euch. Uns muss aber guttun, was wir lesen und denken. Die Sowjetunion hat den Stalinismus bloß reformiert, während sie Stalin verleugnete. Wir aber überwinden den Maoismus, indem wir Mao verehren.

Ich verstehe, meinte Rudnikow, und glaubte zu scherzen, als er sagte: KOMMUNISMUS IST EINE KAPITALISTISCHE TUGEND – !

Kommt Zeit, kommt Spruch!, antwortete Wu und lächelte.

So also, dachte Rudnikow kopfschüttelnd, sieht der Dritte Weg aus.

 

 

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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006

Ulrich Bergmann bezeichnet den Zyklus Kritische Körper als ‚Criminal Phantasy’. Der Leser findet in diesen Kurzgeschichten eine für diesen Autor typische Montagetechnik, unterstützt durch einen imagistischen Bildgebrauch und die Verwendung extremer Bilder. Von der Figurenzeichnung bis zum Handlungsablauf ist jederzeit klar, wie in diesem Zyklus die moralischen Grenzen verlaufen. Bergmann schreibt gegen den drögen Realismus der modernen Literatur an, und in der Tat besteht das Realistische seiner Literatur darin, das Grausame in seine Texte einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des Außen seiner Figuren auch ins Fantastische verlängern. Er erklärt uns eine Welt, in der sich die Bedeutung der Wirklichkeit nicht an der Oberfläche erschließt. Der Leser muss sich selber von der Abgründigkeit überzeugen.

Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.