„…Ich schreibe wie das frühe / frühjahr das das gemeinsame / alphabet der anemonen / der buche des veilchens und / des sauerklees schreibt // …ich schreibe wie ein vom tode gezeichneter / herbst schreibt / wie rastlose hoffnungen / wie lichtstürme quer / durch nebelhafte erinnerung / ich schreibe wie der winter / schreibe wie der schnee / und das eis und die kälte…“
Inger Christensen las 2005 im Künstlerbahnhof Rolandseck bei Bonn aus ihren Lyrikbänden, als hätte sie psalmodiert und in Worten getanzt. Man hörte fast, wie Buchstaben und Worte atmeten und sich harmonisch artikulierten oder sich brachen und gegenseitig ertrugen. Diese leise, skandinavische Euphonie erschwerte zwar manchmal die Textverständlichkeit und Verinnerlichung poetischer Gehalte, andererseits entstand dadurch in nur einer Stunde ein einprägsames, unretuschiertes Selbstporträt der 70-jährigen, mehrfach preisgekrönten Autorin.
Die Sprache, wie die Mathematik, sei eine Welt für sich, meinte in seiner Einführung Michael Buselmeier, der Inger Christensen aus der Zeit kannte, als sie Stipendiatin des Künstlerhauses Edenkoben war und einige ihrer übersetzten Gedichte in der von Gregor Laschen 1988 initiierten Reihe „Poesie der Nachbarn“ erschienen. In dieser Welt der Sprache ortete die hervorragende Lyrikerin ihr Wunder- und Naturland, wo der paradiesische Einklang mit allem wieder herstellbar sei und wo sie Lust hätte, mit sich zu spielen.
„Ich weiß es noch nicht, was ich lesen möchte“, flüsterte die alte Dame ins Mikrophon, während ihre Hand schon nach dem „alphabet“-Langgedicht griff; dieses Buch, bestehend aus 14 Abschnitten, brachte ihr den Ruhm in Deutschland. Die Alphabete gibt es, las sie, es gebe auch den Regen der Alphabeten und das Gehirn im Innern der Sterne. Die Sprachtexte würden nach ihrer Auffassung und ihrem metaphorischen Denken den Texten unserer Körper entsprechen. Sie fand zufällig zu jener mathematischen Ordnung der Fibonacci-Zahlen, die für sie „als Gesetz der Schöpfung, des stummen universalen Gedichts“ sich offenbarte. Die Strophen dieses bekanntesten Werkes von Christensen „zu A, zu B bis zu Z – gebaut nach jeder Reihe – schwellten von Buchstabe zu Buchstabe gewaltig an, bleiben als Gedicht jedoch notwendigerweise Fragment“. Nach „alphabet“ schlug sie das kleinere Buch „Das Schmetterlingstal“ auf, 1988 im Suhrkamp Verlag (und 1995 im Kleinheinrich Buch- und Kunstverlag) erschienen. In melancholische Stimmung versetzt, las Christensen alle vierzehn Sonette des klassischen Kranzes dieses „Meisterwerks europäischer Poesie“ und das abschließende Meistersonett.
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Der Gedichtband Alfabet wird als zweites Hauptwerk von Inger Christensen gesehen, er bezieht sich auf die sogenannte Fibonacci-Folge, eine nach dem italienischen Mathematiker Leonardo Fibonacci benannte Zahlenreihe, bei der sich jedes Glied der Reihe aus der Summe der beiden vorangehenden Zahlen errechnet (also: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13…). Christensen setzte die Fibonacci-Zahlen in Korrespondenz mit Struktur und Wachstum verschiedener Pflanzenarten.
Weiterführend → Die Redaktion blieb seit 1989 zum lyrischen Mainstream stets in Äquidistanz.
→ 1995 betrachteten wir die Lyrik vor dem Hintergrund der Mediengeschichte als Laboratorium der Poesie
→ Lesen Sie auch Maximilian Zanders Essay über Lyrik und ein Rückblick auf den Lyrik-Katalog Bundesrepublik eine Anthologie zeitgenössischer deutschsprachiger Dichtung.
→ 2005 vertieften wir die Medienbetrachtung mit dem Schwerpunkt Transmediale Poesie