Kautsky, dem im Leben die Vorbilder ausgingen, weil es einfach keine mehr gab und weil er immer deutlicher sah, dass er nun selber dran war Vorbild zu sein, zog es manchmal, in seiner Einsamkeit mit sich selbst, mitten in der Nacht hinaus zu Überlebenswanderungen, wie er es nannte, zu abenteuerlichen Streifzügen seiner Seele durch die Stadt, wo er erlebte, was tagsüber unmöglich geschehen konnte.
Einmal, es war im Oktober, zehn Jahre nach der Wende, zog es ihn zu den Gräbern auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, wo die alten Vorbilder lagen, die er verehrte, denen er immer nachstrebte, wenn auch mit wenig Erfolg, die ihm aber im Tagleben fehlten und deren Geist ihm nun endgültig verraten schien, seit die Menschheit, im Taumel trügerischer Wiedervereinigung, weltweit von der kapitalistischen Weltevolution beherrscht wurde. Da wollte er, wenigstens auf der Nachtseite seines Lebens, mit dem Geist der vergangenen Zeit sich unterhalten, um sich für härtere Tage zu stärken. Ihm war klar, dass seine Vorbilder vom Lauf der Geschichte überwunden waren, dass sie nun unter der Erde lagen, und dass sein Gang über den Friedhof praktisch nutzlos war. Sollte er die Toten ausgraben, die nicht mehr reden konnten? Aber da war immer noch das Bewusstsein aus den wenigen glücklichen Kindertagen in ihm, als er Mark Twains „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ gelesen hatte, unauslöschlich die Vollmondnacht, in der Tom und Huck sich bei den Gräbern eine eigene Welt erschufen, wie nur Kinder oder bedeutende Künstler dazu die Macht haben.
Kautsky betrat den Friedhof, als wäre er dort zu Hause. Er fühlte sich wieder jung. Oben schien der Vollmond auf die Gräber. Er stand im Zenit der Nacht. Es war so hell, dass die Inschriften auf den Grabsteinen lesbar waren. Wie ein aufgeschlagenes Buch!, dachte Kautsky. Bertolt Brechts Grab war die erste Station, zu der er ging. Überall wucherten Gras und Unkraut. Kleine Büsche, kleine Bäume standen auf der Schädelstätte umher. Ein leichter Wind zog durch die Zweige, die Blätter murmelten leise. Kautsky glaubte schon die Stimmen der toten Geister zu hören. Er war ganz allein. Viele der alten Gräber lagen etwas eingesunken da. Groß und prachtvoll die einen, arm und bescheiden die andern. Aber die Größe der Gräber verriet nicht, wie groß die Toten im Leben waren. Kautsky fand rasch das einfache Grab. Dort stand er schweigend. Endlos dehnte sich die Zeit. Immer drückender wurden seine Gedanken. Er musste etwas sagen. Er fragte sich, ob ihn die toten Seelen hören, wenn er redet. Man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn man über die toten Leute da unten redet, dachte er. – Fürchte dich doch nicht allzusehr! Sprich einfach! – Er hatte trotz der Fremdheit der Situation das Gefühl einer besonderen Vertrautheit mit den Bewohnern dieser Gräber, die ihren Grund in der heimlichen Begegnung fand, die er ersehnte. Formfragen sind außerhalb der Logik des Lebens absurd, sagte er sich.
„Freunde!“, rief er, „ihr wisst die Wahrheit!“ Aber die Gräber antworteten nicht. Brecht nicht, Helene Weigel nicht, Johannes R. Becher, ein paar Meter weiter, auch nicht.
Er stand traurig da und wartete. Es wollte auch in ihm selbst keine Antwort klingen. Was sind das auch für Fragen! Kautsky will die ganze Wahrheit, er will alles oder nichts. Als ob die klugen Toten wüssten, was die Lebenden brauchen! In der Totenwelt lebt es sich ganz anders als in der Welt der Lebenden, die Totenwelt ist für den Lebenden eine tote Welt, und für den Toten die lebendige Welt eine tote, denn die Gesetze der einen haben mit den Gesetzen der anderen nichts zu tun. Aber Kautsky wartete weiter, er dachte, er müsse in der anderen Welt wenigstens einmal anklopfen. Wer dort anklopft, sagte er sich, will durch die Tür ins eigene Leben.
Auf einmal hörte er einen leisen Gesang, dessen Quelle fernere Gräber in seinem Rücken sein mussten. Das waren die Gräber der jüngeren Toten. Die jungen Toten feierten, das wusste er, am lautesten, und sie freuten sich noch darüber, dass sie gestorben sind und aus dem bekannten Leben in ein anderes geworfen wurden. Kautsky drehte sich um und ging in die Spur der Töne hinein, bis er vor dem Grab Heiner Müllers stand. Eine einfache Stele trug seinen klein geschriebenen Namen und die Lebenszeit auf Erden.
Wir haben auch deine Vorschläge nicht angenommen, sagte Kautsky halbleise vor sich hin, als er auf die kleinen Steine auf der Spitze der Stele sein Steinchen zum Gedenken an den geliebten Dichter legte. Wie bei den Juden!, dachte er. Ein deutscher Kommunist, verfolgt und angespieen! Konntest dich aber wehren und hast hart zurückgeschlagen. Waffen deine Worte! Und nun erkannte er die Musik, die unter ihm tönte, immer besser, denn es waren viele Stimmen, die sangen.
ver-ron-nen die nacht und der mor-gen er-wacht:
ro-te flo-tte mit voll-dampf vo-raus!
Sie waren dort alle zusammen gekommen im Grabe Heiner Müllers, dachte Kautsky, Brecht, die Weigel, der Becher, Hans Eisler und Paul Dessau. Neben Müllers Grab erkannte er das Grab von Jürgen Kuczynski, nicht weit davon Bernhard Minetti, dann, etwas weiter weg, die Gräber von Arnold Zweig, Anna Seghers, Ruth Berghaus, Wieland Herzfelde und John Heartfield, dann Rudolf Bahro, und schließlich Heinrich Mann und Hegel. Irgendwie, dachte Kautsky, gehören die beiden als Sympathisanten einer neuen Weltkommune auch dazu, ohne Hegels Dialektik wären wir total aufgeschmissen.
aus der a-sche uns-rer to-ten lo-dert flam-men-glut
aus dem blu-te uns-rer to-ten keimt die neu-e saat!
In diesem Moment sah Kautsky den ganzen Dorotheenstädtischen Friedhof als eine einzigartige Katakombe der Kommunisten. Er hörte nun, versunken in die eigene Vergangenheit, die alten Lieder, die ihn selbst geprägt hatten. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“, oder „Bau auf bau auf, bau auf bau auf, freie deutsche Jugend, bau auf, für eine bessere Zukunft –“, und dann aus den Grüften:
herr-li-cher bai-kal, du hei-li-ges meer,
auf ei-ner lachs-ton-ne will ich dich zwing-en!
Wie wunderbar, fühlte Kautsky, verbanden sich in solchen Versen Poesie und ideologischer Anspruch.
schar-fer nord-ost treibt die wel-len da-her.
re-ttung, sie muss mir ge-ling-en! –
jah-re-lang schleppt‘ ich die ke-tte am bein,
fern in si-bi-ri-ens eis-kal-ten ber-gen …
An dieser Stelle aber musste er an seinen Vater denken, der in der Kälte Sibiriens fast erfroren war, in sieben Jahren sowjetischer Kriegsgefangenschaft – aber daran hatte Hitler Schuld, Hitlerdeutschland, sagte er sich, die Rote Armee hat uns befreit! In Sibiriens eiskalten Bergen! Er musste auch an den Archipel GULAG denken. Schwierige Lieder! Aber er sang innerlich mit, das waren die Lieder, die mit der späteren kommunistischen Knechtschaft nichts zu tun hatten, das waren noch die Lieder der Hoffnung auf eine bessere Welt, Lieder vom Sieg der Weltrevolution! Er konnte noch ohne Zögern mitsingen, als aus den Katakomben die Hymne der Sowjetunion dröhnte. Ihm war klar, das sind formelhafte Verse, man muss sie beim Singen dialektisch umdenken ins richtig Gemeinte.
Aber plötzlich sangen die da unten richtig ketzerische Lieder aus überwunden geglaubter Zeit, er traute seinen Ohren nicht, als er das Kolchosenlied hörte:
… ja, uns lehrt ge-no-sse sta-lin, dass die ar-beit wun-der tut.
un-ser kol-chos kämpf-te wa-cker wie ein mann um je-des pud…
Kautsky fühlte sich in seine Kindheit zurückversetzt. Am Ersten Mai fuhr er wie die anderen Jungen Pioniere auf dem mit Maiglöckchen und Hammer-und-Zirkel-Fähnchen geschmückten Roller, das blaue Tuch um den Hals, durch die Straßen. Ihm fielen dann die Sirenen ein, die im März 1953 minutenlang heulten, als der Stählerne gestorben war. „Stalin ist tot! Doch sagt: Kann Stalin sterben?“, schrieb einer der vielen Staatsdichter. „Lebt er nicht fort als unbegrenzte Kraft, als Sehnsucht, Willen, Arbeit, Wissenschaft, in der Partei – ?“ Kautsky fragte sich das damals auch, wusste aber keine Antwort. Und nun sangen sie in der Tiefe der Katakomben solche garstigen Lieder! Kautsky verstand den Gesang der Toten nicht. Vielleicht sangen sie die Lieder unter ihrem Anführer Heiner Müller mit dem Galgenhumor, den nur die Toten begreifen. Vielleicht ist das die Ironie der Resignation, dachte er, eine Feier des Scheiterns, um dort weiterleben zu können, wo eine Revolution ohnehin sinnlos ist. Wer weiß. Es machte ihn jedenfalls noch trauriger.
In seiner Not, ganz auf sich allein gestellt, begann Kautsky nun selber zu singen. Leise summte er die Melodie, und dann, mit einem Male öffnete er weit seinen Mund und sang mit lauter, klarer Stimme die schönste Hymne, die er kannte:
„Brü-der zur Son-ne, zur Freii-heit!
Brü-der zum Lich-te, zum Lich-te em-por!
Hell aus dem dunk-len Ver-ga-hang-nen
leuch-tet die Zu-kunft her-vor!“
Ihm wurde es, mit den ersten Worten, die er heraussang aus seiner kalten Seele, wärmer. Ja! Fliegen!, dachte Kautsky. Ich bin Ikarus. Der melodische Bogen und der Rhythmus des Liedes ergriff seinen ganzen Körper, der sich nun selbst beherrschte, indem er sich frei sang, und Kautsky fing auf der Stelle an zu marschieren:
„Seht, wie der Zug von Mill-io-nen
end-los aus Näch-ti-gem quillt…“
In diesem Moment begann der Boden unter seinem kleinen Marschtritt zu erzittern, er hörte, wie das Stampfen seines Schrittes wuchs und wuchs, mit jedem Wort, mit jedem Ton wuchs die Kraft, Kautskys Erde wankte, der Himmel der Toten bebte …
„…bis eu-rer Sehn-sucht Ver-la-hang-en
Him-mel und Nacht ü-ber-schwillt!“
Kautsky erfuhr in dieser Nacht die Macht der Musik, sein Lied und die Welt der Toten wurden eins, Idee und Wirklichkeit verschmolzen miteinander, als er die Worte sang:
„Brü-der, in eins nun die Hän-de!
Brü-der, das Ster-ben ver-lacht!“
Das war’s! Der mächtige Gesang verstummte. Der Marschtritt der Millionen verhallte. Kautsky sang nicht mehr, er stand nun ebenfalls still. Er hatte die Toten erreicht, und die Toten verstanden ihn. Die vollkommene Stille durchbrach die Erde. Aus dem Grab wuchs eine Zigarre. Kautsky wollte nicht glauben, dass sich hier ein Wunder ereignete. Zigarren, die aus der Erde wachsen, wie aus dem Grab eines Heiligen! Aber es war kein Wunder, jetzt wuchs auch der Kopf Heiner Müllers aus der Erde! Er hatte die Zigarre im Mundwinkel.
„Gib mir Feuer!“, sagte er. Kautsky gab ihm Feuer. Heiner Müller nahm einen tiefen Zug. Die Zigarre glomm hell auf. Heiner Müller blies den Rauch zu einer kleinen Wolke in die sternklare Vollmondnacht. Eine kleine weiße Wolke. Doch diese Wolke blühte nur Sekunden. Kautsky fühlte sich auf einmal seltsam beobachtet, er sah sich um: Aus jedem Grab schien nun ein Licht, die Zigarrensterne leuchteten aus der Erde, ein umgekippter Himmel!
„Was nun?“, sagte Heiner Müller in die gleißende Stille hinein, „ich wünschte, ich wüsste die Wahrheit. Deine Wahrheit gibt es da oben nicht.“ Kautsky war enttäuscht. „Ich spiele keine Rolle mehr. Mein Drama findet nicht mehr statt. Ich spiele nicht mehr mit. Das Textbuch ist verlorengegangen. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten.“ War das, wie manche sagten, der bessere Stalin, der da mit ihm sprach? „Ich will in meinen Adern wohnen, im Mark meiner Knochen, im Labyrinth meines Schädels. Meine Gedanken sind Wunden in meinem Gehirn.“
Kautsky aber wollte die Wahrheit wissen: „Wie klappt es denn da unten mit der Utopie?“, fragte Kautsky, der die Klage, die er hörte, auf die Welt bezog, in der er lebte. Heiner Müller grinste. „Es funktioniert!“, sagte er, „es funktioniert tatsächlich! Wir haben die Lösung hier unten gefunden.“ Mit diesen Worten durchstieß sein rechter Arm die Erde seines Grabes, er reichte Kautsky die Hand, der ergriff sie, und sie sangen beide:
bru-der, in eins nun die hän-de!
bru-der, das ster-ben ver-lacht!
Heiner Müller packt die Hand Kautskys immer fester. Er will ihn zu sich ziehen hinunter in sein Grab! Kautsky weiß einen Moment nicht, wie ihm geschieht. Soll er von seinem Himmel in die Hölle fallen? Der bessere Heiner Müller werden? Er weiß es nicht. Er zögert.
***
Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.