Alle paar Jahre steht eine grundlegende Renovierung an, das ist wichtig für die häusliche Hygiene und vor allem für den Wohlfühlcharakter, denn der Mensch braucht von Zeit zu Zeit Veränderungen. Mal zieht man um, vor allem in den Jahren der Ausbildung und des Studiums ist dies wohl sehr prägend, später dann noch ein zweites Mal, wenn man Fuß fasst oder vielleicht sogar Eigentum erwirbt, eine Wohnung, ein Haus mit Garten vielleicht. Auch wenn es Menschen gibt, die einem glaubhaft vorrechnen, dass es völlig unwirtschaftlich sei, Wohneigentum zu besitzen, denn das Zinsgeld könne man bequem sparen und sich zurücklegen, die Reparaturen habe der Vermieter zu bezahlen und wer weiß, ob man das Eigen- tum auch wieder los werde. Vor allem aber geben sie die Unabhängigkeit zu bedenken und loben, dass sie jederzeit umziehen könnten. Gerne tun dies übrigens auch Leute, die in einer so- genannten offenen Partnerschaft leben. Nein, sie werden sich weder voneinander trennen, noch jemals wieder umziehen, denn wo man einmal hockt, da bleibt man meistens. Okay, die Miete ist irgendwann einfach weg, die Eigentumswohnung nicht, die kann man im Alter vielleicht doch für die Sicherung verwenden. Na, egal, ein Jedes soll so glücklich werden wie es will. Diese Gedankenspiele der Ungebundenheit kann Herr Nipp nun gar nicht verstehen, ist froh, hier im Elternhaus ein Dach über dem Kopf zu haben, das er sein eigen nennen kann.
Auch hier muss renoviert werden, das war ihm schon vorher be- wusst. Auch der dabei entstehende Dreck. Zuletzt hatte er die Tapeten abgezogen und dabei verwundert festgestellt, dass sich unter der Raufasertapete Reste zweier weiterer Papierbezüge befanden. Ein Dekor konnte zweifelfrei den frühen sechziger Jahren zugeordnet werden, in denen das Haus gebaut worden war, die nächste musste aus den späten Siebzigern stammen, keine großen ornamentalen Muster mehr, die mit unerträglich quietschigen Farben gedruckt waren. Die Zimmer in farbige Augenkrebshöllen zwischen Orange, Maigrün und dekorativem Braun verwandelten. Hier schon das Dekor eines Stoffbezugs.
Herr Nipp konnte sich an diese beiden Tapeten nicht mehr erinnern, wohl aber, an die achtziger Jahre Stofftapete, schweres Material mit echtem Nesselgewebe. Die war aber nicht mehr vorhanden, war wohl komplett entfernbar gewesen. Hatte damals der Onkel verklebt, ein Meister seines Faches und sein Sohn, der Geselle, dessen Lieblingsspruch war „Ist ein Dabeimachen“. Plötzlich tauchten in seiner Erinnerung weitere Tapeten auf, Klassiker des Wohlgeschmacks kleinbürgerlicher Zufriedenheit. Im gemeinsamen Kinderzimmer hatten Max-und-Moritz-Tapeten die Denk-welt angereichert, die Herr Nipp, als er noch kein Herr war, sondern nur Nipp gerufen wurde, immer wieder von der Wand geknibbelt hatte, um sie durch eigene naive Zeichnungen zu ersetzen, die ihm viel besser gefielen. Die ihm meistens Ärger einbrachten. Im Wohnzimmer war eine Grobe Strukturtapete angebracht, die einen toskanischen Verputz simulierte und die Küche wurde durch eine geblümte Grün-blaue Gestaltung verschönert. Im Keller hatte er irgendwann vor dem großen Hochwasser alte Tapetenreste gefunden und die Rückseiten bemalt, leider waren diese frühen Zeugnisse seiner Kreativität dann verschimmelt. Er würde sicherlich bei den weiteren anstehenden Renovierungen weitere Zeugnisse der dekorativen Vergangenheit entdecken. Nur eines wurde ihm gerade in diesem Moment bewusst.
Wer Tapeten abreißt, der muss auch neue kleben.
***
Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, KUNO 1994 – 2019
Die unerhörten Geschichten von Herrn Nipp sind glossierende Anmerkungen die sich schnoddrig mit dem Zeitgeist auseinandersetzen. Oft wird in diesen Kolportagen ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben. Wir lesen sowohl überraschendes und unerwartetes, potentiell ungewöhnliches, das Geschehen verweist auf einen sich real ereigneten (oder wenigstens möglichen) Ursprung des Erzählten.
Weiterführend →
Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Papier ist autonomes Kunstmaterial, daher ein vertiefendes Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus über Material, Medium und Faszination des Werkstoffs Papier.
Die bibliophilen Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421