Sarah lachte laut in die dünne Luft der sommerlichen Gedanken. Er will keine anderen Götter haben neben sich, denkt er. Sie lachte ihn aus.
Ihre Stimme hell vor ihm. Sie stand in einer Gruppe, alle ohne Gesicht. Sie sah Chris mit geschlossenen Augen an. Aber er sah nicht viel, Salz kitzelt den Kehlkopf, es kratzt die Seele aus der Gurgel. Ihre Haut zischt auf dem Bein ganz weiß nach oben, rot untermischt von ihrer Stimme. Immer noch fließt die Gruppe in seine Augen. Er sagte leise: Geh jetzt nicht weg!
Sarah sprang im Salz.
Diese Dinge sind nicht irreal, sie sind möglich, das wissen alle, sie sind geheimnisvoll, aber sie ereignen sich täglich, an vielen Orten, die sich nicht kennen. Du langweilst dich doch mit dir selbst, dachte er, geh mit Sarah ins Kino.
Was?
Chris spielte mit sich. Wer so sehr spielt, kann verlieren, sich selbst, oder gewinnen, einen anderen. Aber nur, wenn einer gut verlieren kann. Dann gewinnt er sich auf andere Art sogar wieder.
Er gewann. Er ging mit ihr ins Kino. Sie sah ihn die ganze Zeit an. Er war ihr Film. Er sah stur zur Leinwand, dachte Sarah weg, er wusste, dass sie ihn die ganze Zeit anstarrte, er fand das nicht falsch, es gefiel ihm, dass er nicht darauf reagierte. Er wollte unter der dunklen Kinokuppel nicht mit Mund und Händen reden. Er fand toll, wie er sich beherrschte, wie er sich hier noch einmal steil nach oben trieb. Das merkte sie nicht, sie konnte das gar nicht wissen, nicht einmal ahnen. Aber er unterschätzte seinen Körper, er wusste damals noch nicht, dass der ganze Körper denkt. Das Hirn ist ja nur ein kleiner Teil des Körpers.
Sie gingen nach Hause, die Nacht war mild. Er hatte kein Bier getrunken, im Kopf aber schwappte der Lappen, die Zunge im Hirn, alles in ihm lallte, er war blind und sprang aus den Augen. Vor ihm Sarah in der weißen Bluse. Im tiefblauen Rock steckte die Hüfte. Er griff in die Henkel am Leib und hob die lebende Skulptur hoch, da schrie sie wieder auf, das Salz lachte Schaum in die Nacht, es wurde alles weiß, sie liefen auf Schnee zurück in ihre Zukunft.
Mitten auf der Straße wuchs ein altes Haus aus dem Asphalt, sie stiegen die Treppe hinauf in den Windfang, die Haustür stand offen, er trug sie über die Schwelle. Dann fielen sie ins Bett. Er spürte, wie er immer stärker wurde und sich vor lauter Spannung nach innen bog, bis die Spitze sanft in den Nabel stieß. Sarah lag hinter ihm. Sie schaute in den Flur.
Die Dinge sagen sich alle selber, dachte er, das Leben eine Formel des Nichts, wie eine Gleichung – links steht dasselbe wie rechts. Er sah zum Fenster hinaus auf die Straße, da fiel der Tag durch das Glas ins Zimmer, ein umgestülptes Nichts. Alles kann sich ereignen, dachte er, das Jetzt, das Immer und Nie, es ist ja genug Zeit und Raum da, durch alle Zustände zu gehen, auch die unmöglichen.
Chris stand auf einer hohen Leiter in der linken oberen Ecke eines hohen Bücherregals, direkt unter der Zimmerdecke. Das war weit oben! Er hatte keine Angst vor dem Fall. Unter ihm war alles viel zu klein. Eine helle Lampe, die er über sich fühlte, strahlte den ganz schattenlosen Raum aus. Bücherregale an allen Wänden. Hinter ihm öffnete sich der Raum zu einem breiten Gang. Rechts unter ihm stand Sarah, über einen Tisch gebeugt und sprach. Er war tief in den Büchern seiner Ecke. Sie sprach den Zauberberg.
Dann stieg er von der Leiter, lief an ihr vorbei, ohne sie anzusehen, sie blätterte das Tischtuch um wie die Seite eines Buchs. Er lief durch den Gang. Ich bin allein. Hinter mir, wo ich herkomme, ist es hell, ich schaue mich um, und alles leer. Ich gehe zur verschlossenen Tür. Da wohne ich! Er hörte Schritte im Zimmer und lief weg, zurück in die helle Wohnung. Der Tisch ist weg. Auf dem Boden liegt die Seite des Buchs, rot verkrusteter Schnee!
Sie gingen weiter durch ihre kurze Nacht. Sarah lachte ihn aus. Das gefiel ihm. Es gefiel ihm, weil sie ihn fand. Weil er sie nicht suchte und sich doch in ihr wieder fand.
Mein Körper ist bei dir. Daher schwebe ich ein wenig.
Als sie sich verabschieden, nimmt sie seinen Kopf und gibt ihm einen Kuss auf die Stirn. Die schwere Zunge darin schnappt nach Luft und Flügeln.
Im schwarzen Wasser die Barke, dicht am Steg. Kein Tau hält dich fest in lautloser Sonnenflut. Das ist nicht der Rhein. Aber Venedig ist das auch nicht. Ich sehe keine Häuser, kein Ufer, nur die Bretter unter mir und das Boot auf dem eisglattschwarzen Wasser vor mir. Da sitzt sie und schaut ihn fest an. Sie trägt den tiefblauen Rock. Die Hände liegen auf den Knien. Sie sagt nichts. Keine Bewegung. Ihr Gesicht ist so jung und so schmal. Das Gesicht zoomt nah heran, er sieht nur Augen und Mund, sonst nichts.
Sonnenstille.
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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.