Gedicht

 

 

Ich lebte im ersten Jahrhundert der Weltkriege.

Morgens war ich meistens mehr oder weniger verstört.

Die Zeitungen kamen mit ihren unbekümmerten Geschichten,

Die Nachrichten ergossen sich aus allerhand Geräten,

Unterbrochen vom Bemühn, Waren an Unsichtbare zu verkaufen.

Ich rief meine Freunde mittels anderer Apparate an;

Aus ähnlichen Gründen waren sie mehr oder weniger verrückt.

Langsam griff ich mir Papier und Bleistift,

Schrieb Gedichte für andere Unsichtbare und Ungeborene.

Am Tage erinnerte ich mich jener tapferen Männer und Frauen,

Die Signale über weite Strecken übermittelten,

Dachte an ein namenloses Leben mit beinah ungeahnten Werten.

Wenn die Lichter erloschen, Nachtlichter heller leuchteten,

Versuchten wir, sie uns vorzustellen, versuchten, uns zu finden,

Frieden zu konstruieren, uns zu lieben, Wachen und Schlafen

Miteinander auszusöhnen, uns selbst mit den anderen,

Uns mit uns selbst. Mit allen Mitteln versuchten wir,

Unsere Grenzen zu erreichen, hinter die Grenzen zu gelangen,

Die Mittel und Wege loszulassen, zu erwachen.

 

Ich lebte im ersten Jahrhundert solcher Kriege.

 

 

 

***

Eine Leseprobe aus dem empfehlenswerten Band: Sehen heißt ändern. Dreißig amerikanische Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Eine zweisprachige Anthologie. Hrsg., übertragen und mit einem Nachwort versehen von Jürgen Brôcan. München: Lyrik Kabinett, 2006

Weiterführend → Poesie zählt für KUNO weiterhin zu den identitäts- und identifikationstiftenden Elementen einer Kultur, dies bezeugte auch der Versuch einer poetologischen Positionsbestimmung.

Post navigation