Während seines Literaturstudiums an der Universität von Alma-Ata absolvierte Rudnikow ein Praktikum in einer Brikettfabrik bei Karaganda. Die Literaturstudenten wurden auf die Bergwerke und Brikettfabriken des Steinkohlenkombinats verteilt. Sie sollten sich umschauen, Eindrücke sammeln, recherchieren, mit den Arbeitern reden und dann darüber schreiben. Rudnikow wurde einem Schichtmeister zugeordnet, der wie alle Schichtmeister so feine Ohren hatte, dass er das Unsichtbare seiner Fabrik durchschaute. Die Maschinen stammten vom Jahrhundertbeginn und mussten seit Jahrzehnten ohne Generalüberholung arbeiten. Die Geräusche im Inneren der Maschinen und Apparate verrieten dem Schichtmeister, wo Defekte und Havarien drohten. Er kannte genau ihr Klappern und Rattern, Schleifen und Reiben, Rauschen und Pfeifen. Es gibt keine Kunst, die mehr den Glauben an himmlische Weisheit und Fügung erweckt und die Unschuld und Kindlichkeit des Herzens reiner erhält als die Maschinenarbeit, dachte Rudnikow. Arm wird der Arbeiter geboren, und arm geht er wieder dahin. Er erschafft die Kohle, und der blendende Glanz der Brikette vermag nichts über sein lauteres Herz, aber sie haben für ihn keinen Reiz mehr, wenn sie Waren geworden sind. Wir verwandeln die Natur, sagte Rudnikow, in ein böses Gift, das unendliche Sorgen und wilde Leidenschaften herbeilockt. Darauf gab der Schichtmeister keine Antwort. Rudnikow ging durch die Landschaft aus Fabrikgebäuden, Kohlehalden, Förderbändern und Gleisanlagen. Wieviel ist gesagt, wenn ich rede? Worte gibt es genug. Hallen, das schwillt im Raum. Dröhnen dringt aus dem Innen, Pfeifen, ein Strich in der Luft. Was hilft es, erkläre mir, wenn der Lärm, der nicht abebbt, vom Überdruck in den Ventilen kommt? Allein wie Lärm will ich das nicht empfinden. Schall und Rauch fallen auf mich. Wem nutzt hier, da der Stoff des Bildes in der Luft liegt, eine Redensart, die ihn zur Metapher erhebt, die alles umfasst, das nur irgendwie verweht? Ich bin im Kohlenstaub dem Bild verwandt und fremd zugleich vor schwarzer Halde. Ich suche meinen Sinn und schlucke, was mich streift und stößt. Ein Rauschen höre ich, den knirschenden Donner schneller Gewitter, und heulendes Kreischen, die Wut der Kreissäge. Ich gehe schnell. Turbinen, Förderbänder, Dampf. Ich begreife die Technik, ich begreife die Fabrik wie die Mechanik der Buchdeckel, die die Substanz des Buchs verrät. Aber ich sage mir, über Unbekanntes lässt sich zwangloser und zugeschärfter reden, und Ahnungen sind oft tiefer und plastischer als die erstarrenden oder zersetzenden Tatsachen. Ich merke, wie die Brikettfabrik jedes Gefühl betäuben will. Ich laufe an Rohren vorüber und poche wie ein Kind dagegen. Ein dumpfer Klang. Ich gehe ein paar Schritte weiter, ich schlage wieder gegen das Rohr, ich gehe weiter, ich schlage das Rohr, ich gehe weiter, ich schlage, ich renne, ich schlage, renne, schlage das Rohr. Das Rohr – die ganze Fabrik verwandelt sich, die Räder, die Stangen, die Rohre, die Maschinen wachsen hoch, die riesigen Stengel stoßen durchs Dach, die Lampen blühen, der glühende Draht schießt auf und sprüht Blätter und Blüten, aus denen Öl regnet. —Das Rohr! Ich höre das Fließen darin. Ich folge bis zum Ende. Dann klopfe ich an, und ich sehe alles. Rudnikow ging auf die große Stahlwanne zu. Der fein gemahlene Kohlenstaub floss lautlos in das Becken, so groß wie ein Schwimmbad. Diamantenpulver, dachte Rudnikow, ultima Thule! – Wo ist der Schichtmeister? Er war nicht mehr da. Der Staub zerstäubte oben in unzählige Funken, bevor er sich unten im Becken sammelte. Entzündete Nacht. Nicht das mindeste Geräusch war zu hören. Rudnikow näherte sich dem Becken, dessen Schwärze wogte und zitterte. Er kniete nieder, er tauchte seine Hand in das Becken und benetzte seine Lippen. Es war, als durchdränge ihn ein geistiger Hauch, er fühlte sich gestärkt und erfrischt. Ein unwiderstehliches Verlangen ergriff ihn sich zu baden, er entkleidete sich und stieg in das Becken. Lust überströmte sein Inneres, unzählbare Gedanken, neue, nie gesehene Bilder vermischten sich und flossen ineinander. Die Flut des schwarzen Staubes schien eine Auflösung schöner Komsomolzinnen, in die er eingetaucht war. Berauscht und doch zugleich bewusst, schwamm Rudnikow in die Mitte des Beckens und schaute nach oben. Der Himmel, schwarz und völlig klar, neigte sich ihm zu. Rudnikow sah in ihm eine Blume, die ihn zuerst mit ihren breiten Blättern berührte. Er sah nichts als die Blume und betrachtete sie lange mit unbeschreiblicher Lust. Endlich wollte er sich ihr nähern, als sie auf einmal sich zu bewegen begann. Die Blätter schmiegten sich hart an den wachsenden Stängel, und die Blume neigte sich ihm zu. Die Erwartung zerriss ihn, und er sagte: Ich zünde mich an. Sie öffnete ganz ihre Blütenblätter, in deren Mitte ein Gesicht schwebte, aber es war eine entsetzliche Fratze, in die Rudnikow da starrte. Dann wurde er kalt. Er sah der Wahrheit ins Gesicht, zum ersten Mal, und er versuchte in dem Gesicht zu lesen, bis es ihm gelang, die Schrift der Fratze, die schwarz auf schwarz im Dunkeln stand, zu entziffern:
Proletarier aller Länder, vereinigt euch!
Rudnikow wurde schwarz vor Augen, er riss den Mund auf und schrie, was er las, aus dem Staub, in dem er versank. In der Maschinenhalle, wo er mit seinen Recherchen begann, kam Rudnikow langsam wieder zu sich. Er hörte die Maschinen. Der Lärm belebte ihn. Er hörte die Stimmen der Studierenden und der Arbeiter. Der Schichtmeister beugte sich über Rudnikow, als ihm die Augen aufgingen, und sagte: Die Wahrheit ist ein böses Gift. Dann gab er dem Arzt einen Wink. Wo gehen wir denn hin?, fragte Rudnikow. – Immer nach Hause.
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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesenswert zum Zyklus Kritische Körper der Essay von Holger Benkel. Es ist eine bildungsbürgerliche Kurzprosa mit gleichsam eingebauter Kommentarspaltenfunktion, bei der Kurztexte aus dem Zyklus Kritische Körper, und auch aus der losen Reihe mit dem Titel Splitter, nicht einmal Fragmente aufploppen. – Eine Einführung in Schlangegeschichten von Ulrich Bergmann finden Sie hier. Lesen Sie auf KUNO auch zu den Arthurgeschichten den Essay von Holger Benkel.