Scheinwelten

 

Der Blick aus dem Fenster verrät, dass da draußen etwas ist. Man kann die anderen Häuser sehen, in denen sich wahrscheinlich auch andere Menschen aufhalten, die Erfahrung sagt das, die Wahrscheinlichkeit auch, in einer Stadt stehen nur selten alle Häuser einer Straße leer. Auf der Straße stehen Autos, die Straße sieht recht sauber aus, sieht man von den paar Papierfetzen ab, die gestern irgendwer, vielleicht ein Kind auf dem Weg von der Schule nach Hause oder ein unachtsamer Erwachsener, hat fallen lassen. Auch das macht den Eindruck, als sei es hier bewohnt, die Gärten sind gepflegt, die Bäume gestutzt, kein Unkräutchen in den Vorgärten zu entdecken, zumindest nicht von dieser Beobachterposition. In den stärkeren Gewächsen, müssten eigentlich Apfelbäume sein, hängen Nistkästen, die auch wohl meist besetzt sind. Einige Nachbarn haben Gartenteiche angelegt, um sich von Zeit zu Zeit über die Fischreiher zu ärgern, die sich über den Zierfischbestand hermachen, meist Goldorfen, manchmal aber auch zu völlig überzogenen Preisen gekaufte Kois. Dass die eigenen Katzen in irgendeiner Weise beteiligt sind, scheint nicht im Bereich des Möglichen zu liegen. Gerade die treudoofen Kois sind für letztere ein immer willkommener Leckerbissen, aber nur, wenn gerade kein Singvogel in Reichweite ist. Der eigentliche Grund für das Aufhängen von Nistkästen scheint bei einigen Gartenbesitzern generell nicht zu sein, den Vögeln einen Gefallen zu tun, sondern eher den Katzen. (Eine wunderbare Abhandlung dazu findet sich übrigens in den Roman „Freiheit“ von Jonathan Franzen.) Und trotzdem, Herr Nipp ist sich nicht ganz sicher, ob es hier noch wirkliche Leute gibt, die leben, sprechen, die miteinander kommunizieren, frühstücken und spazieren gehen. Er hat bisher niemanden gesehen. Hat auch in den letzten Wochen niemanden gesehen. Dabei wird er des Beobachtens schon müde und sich gleich ins Bett legen. Er hatte wie immer die ganze Nacht gechattet, jetzt war es kurz vor halb sieben. Er würde einschlafen, wie immer noch lange im Bett liegen, bei zugezogenen Rollläden, gegen halb sieben abends doch endlich aufstehen, sehen, was noch im Vorrat war, erkennen, dass es dort nichts gab, würde erst noch zwei Stunden am Rechner sitzen, schreiben. Er würde später dann durch leere Straßen zum Supermarkt gehen, einkaufen, würde durch leere Straßenzüge zurückgehen, seltsam gedämpfte Laute aus den Häusern hören, bläuliches Licht flackern sehen und sich wundern, dass die Menschen solch ein zurückgezogenes Leben führen.

 

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Das Mittelmaß der Welt, unerhörte Geschichten von Herrn Nipp, dokumentiert auf KUNO 1994 – 2019

Weiterführend → Zu einem begehrten Sammlerstück hat sich die Totholzausgabe von Herrn Nipps Die Angst perfekter Schwiegersöhne entwickelt. Außerdem belegt sein Taschenbuch Unerhörte Möglichkeiten, daß man keinen Falken mehr verzehren muss, um novellistisch tätig zu sein. Herr Nipp dampft die Gattung der Novelle konsequent zu Twitteratur ein. Und außerdem präsentiert Haimo Hieronymus die bibliophile Kostbarkeit Über Heblichkeiten, Floskeln und andere Ausrutscher aus den Notizbüchern des Herrn Nipp. Begleitendes zur Veröffentlichung des Buches Fatale Wirkungen, von Herrn Nipp (Mit Fotos von Stephanie Neuhaus). Über die historische Aufgabe von Herrn Nipp aus Möppelheim.

Zum Thema Künstlerbucher lesen finden Sie hier einen Essay sowie ein Artikel von J.C. Albers. Vertiefend auch das Kollegengespräch mit Haimo Hieronymus.

Diese bibliophile Kostbarkeiten sind erhältlich über die Werkstattgalerie Der Bogen, Tel. 0173 7276421