Die Sonne drehte sich langsam. Kautsky überlegte im Kreislauf der Gestirne. Als er das Tagebuch der schönen Schottin las, bekam er Angst. Ich lese diese tote Schrift. Das Herz will mir platzen. Was ist geschehen? Träume ich wirklich? Ich stieg die morsche Treppe hoch, das Holz schwankte, eben erreichte ich die Spitze des Turms, ich trat an die Mauer, ich sah ins Tal hinab auf den Strom und den Fluss, hier finden sie mich nicht, da schlägt ein Knall aus dem Schacht, ich springe zum Ausstieg zurück, ich schaue in die Tiefe des Turms. Alles ist schwarz. Die Stufen der Treppe sind weg. Ich bin vom Licht der Sonne geblendet. Aber dann sehe ich das Holz. Tief unten liegen die Trümmer. Kautsky ging vor der Öffnung in die Knie, legte sich flach auf die Steine und sah in den Turm hinein. Der Turm war leer, nirgends sah er einen Weg, auf dem er hinunter klettern konnte, kein Eisen, keine Seile, keine Stangen. Das ganze Holz lag unten.
Er hasste den Vater, weil er ihm die Geliebte verbot. Die Frauen sind ein dummes Spiel, darin verlierst du dich. Ich haue ab, sie sollen mich suchen. Kautsky verließ das Schiff, das in Koblenz angelegt hatte. Seit elf Tagen fuhren sie gegen den Strom. Der Vater wollte, dass er auf dieser Reise seine wahre Natur findet, er sollte Abstand gewinnen von der Geliebten. Gewinnen!, schrie Kautsky, gewinnen! Absurd! Das will ich nicht. Aber keiner hörte ihn. Er rannte vom Schiff, als die Eltern in der Stadt antiquarische Bücher über die Geschichte des Rheins suchten, und lief auf den Treidelpfaden nach Süden, bis Rhens, wo er kurz vor Mittag ein Regentuch kaufte. Weit hinter der Stadt, wo der Fluss sich bald nach Westen biegt, zog er sich aus, wickelte Kleider und Schuhe in das Tuch und schwamm zur Marksburg über den Rhein. Hinter ihm lagen Braubach und die Marksburg, der Strom hatte ihn nach Norden getrieben. Als die Sonne ihn trocknete, dachte er, die Geliebte fasst ihn an. Der leichte Wind, der ihm zwischen die Beine fuhr, erregte ihn. Hochroter Mohn schlug gegen die Beine und entzündete die Haut. Er warf sich in die Blüten und schlief mit der Erde. So glücklich war ich noch nie, sagte er sich, als er die Kleider anzog. Dann ging er flussabwärts. Die Sonne warf von hinten kurze Schatten, und Kautsky sah sich zu, wie er auf kleinen Beinen schräg durch den Staub ging. Wie ein Fisch. Er schaute nach links über den Rhein, da war Rhens, die Uferstraße war leer. Es war noch zu früh, die Eltern hatten noch gar nicht bemerkt, dass sie ihn verloren. Da sah er die Ruine über dem Rhein. Das ist Stolzenfels, gegenüber liegt Lahneck, da will ich hinauf. Kautsky spielte mit Gedanken. Er stellte sich am liebsten das Unmögliche vor, aber so fest, dass er nur das Erdachte vor sich sah. Er nahm die Telefonkarte aus dem Portemonnaie, streckte den Arm aus und winkelte die kleine Karte leicht an, stellte sie schräg gegen die Luft, wie ein Flugzeug beim Start. Er hatte den Motor in der Hand, die Karte zog ihn zum Himmel, da fliegt er, das Gesamtsystem fliegt hoch über den Wolken, über den Fluss, das Ufergebirge, zur Frittenbude, zur Bank – zu den Mohnblüten.
Kautsky schrie, aber der Wind zerschlug die Worte. Er schaute zum Rhein, steil unter ihm fädelte sich die staubige Straße an den Berg, aber die Straße war leer. Die Nacht war schwarz und laut da oben auf den Steinen. Er schlief nicht ein, er hatte Angst, er fällt ins Loch, wenn er sich im Traum dreht. Der Hauch der Nacht ist mein Laken, es trägt mich nicht. Die schwarze Mohnblume legt sich zu mir, sie berührt die Knöchel, die Schläfe, sie spürt mich auf. Sie reibt mir das Salz von der Haut und streut mir den Sand meiner Stunden in die Augen. Sie stößt mir die Samenasche zwischen die Lippen und treibt mir die Sternennarbe ins Herz. Jetzt aber schien schon wieder so scharf die Sonne, es ist zu hell, ich will nicht so viel Licht! Er überlegte, ein Seil aus den Kleidern zu drehen, aber der Turm war zu hoch für das Bisschen Tuch. Das Sommerhemd war kurz, leicht und dünn, Slip und Strümpfe gaben nicht viel her, nur aus den Jeans ließ sich was machen. Wenn ich die Hosenbeine zwei Mal aufschlitze, wird mein Seil vielleicht zehn Meter lang. Das reicht nicht. Hier ist kein Eisenhaken. Es wäre ja auch ein vielleicht reißendes Seil. Am dritten Tag sah Kautsky, der nicht begriff, dass auf der Straße, die unter dem Berg vorbei führte, niemand zu sehen war, einen Bauern in einem fernen Feld und glaubte sich schon gerettet, als er mit den Armen um Hilfe rief. Als der Bauer zurückwinkte, sich umwandte und weiter im Feld arbeitete, stieg ihm das Eis in den Kopf. Er bekam Angst. Die ungeträumte Angst kältete sein Blut. Das Herz will mir zersplittern. Wo komm ich hin! Die Haut schmerzt. Die Sonne blitzt. Es geht gut! Es geht gut! Die Wolken flattern wie Tücher. Der Wind ist so laut. Trocken der Mund. Der Wind schlägt die Trommel. Ich bin taub, ich höre nichts, die Welt hört auf. Die Sonne blitzt im Tau. Unten sieht niemand was, wenn meine Stricke reißen. Kautsky suchte die Farbe des Mohns. Er beruhigte sich, als er die gefiederten Blüten am Fuß des Turms sah, die dort dicht und hoch standen. Kautsky sah in jeder Blüte ein Mädchen. Er hob den Kopf und schaute ins Mohnfeld, das sich um den Berg gelegt hatte. Er sah alles rot. Langsam stieg der Fluss und schwemmte rot über die Ufer. Kautsky taumelte, als ihm die Farbe unter die Haut kroch. Er nahm die Telefonkarte aus dem Portemonnaie, streckte den Arm aus, winkelte die Karte leicht an und stellte sie gegen die Luft. Er hatte den Himmel in der Hand, aber der Körper, der schräg in der Luft lag, stürzte ab, das Gesicht schlug auf die Steine. Kautsky stand wieder auf und warf sich in den Atem des Schlafmohns.
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Kritische Körper von Ulrich Bergmann, Pop Verlag Ludwigsburg, 2006
Weiterführend → Lesen Sie auch zum Zyklus Kritische Körper den Essay von Holger Benkel.